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Jan Salzmann / Raphaela Kell: Selbstbestimmt älter werden im ländlichen Raum: Warum wir neue Pflege-Konzepte brauchen

Die demografische Entwicklung in Deutschland stellt die Versorgung pflegebedürftiger Bürgerinnen und Bürger vor große Herausforderungen. Insbesondere im ländlichen Raum wächst die Gefahr unzureichender Versorgungsmöglichkeiten von pflegebedürftigen Menschen ( s. https://resilienz-aachen.de/die-notwendigkeit-eines-neuen-senioren-pflegekonzeptes-ein-fallbeispiel/ ). Dabei existieren bereits genügend erprobte alternative Pflege- und Betreuungskonzepte, die von Dörfern selbstbestimmt organisiert und umgesetzt werden. In diesem Artikel sollen die besondere Problemlage und mögliche Lösungswege für die Senior:innenpflege im ländlichen Raum aufgezeigt werden.

Probleme in der ländlichen Seniorenpflege

Die Versorgung von pflege- oder hilfebedürftigen Senior:innen im ländlichen Raum stellt aufgrund der geringen Bevölkerungsdichte und der damit einhergehenden logistischen Herausforderungen für die Pflegedienste eine besondere Schwierigkeit dar. Die meisten ambulanten Pflegedienste sind auf städtische Gebiete ausgerichtet, wo sich die Pflegebedürftigen in einem kleineren geografischen Bereich konzentrieren. Im ländlichen Raum hingegen müssen Pflegekräfte oft weite Wege zurücklegen, um ihre Klienten zu besuchen so dass infolge die Pflegerinnen und Pfleger mehr Zeit in ihren Dienst-Wagen verbringen als bei ihren Patientinnen und Patienten. Dies führt zu einer ineffizienten Nutzung der begrenzten Ressourcen, erschwert die Deckung des Pflege-Bedarfs und erhöht auch die Frustrationen bei den Pflegerinnen und Pfleger, die aufgrund des eng getakteten Zeitmanagements nur wenig Zeit für soziale Nähe zu Ihren Patientinnen und Patienten aufbringen dürfen. Dieses Problem haben wir in einem anderen Artikel zur Situation von älteren Menschen im ländlichen Raum bereits benannt (https://resilienz-aachen.de/die-notwendigkeit-eines-neuen-senioren-pflegekonzeptes-ein-fallbeispiel/ ) und auch auf die systembedingte Fehlentwicklung hingewiesen, dass die Vielzahl und nicht miteinander koordinierten verschiedenen ambulanten Pflegedienste, die gleich in mehreren, oft weit auseinander liegenden Ortschaften ihre Patientinnen und Patienten betreuen müssen, diese logistische Ineffizienz verstärken. Wieviel Zeit könnten Pfleger und Pflegerinnen gewinnen, wenn sich beispielweise die Pflegedienste untereinander logistisch abstimmen würden und nur noch ein Pflegedienst in einer Straße oder einem Dorf mehrere Patient:innen betreut?

Ein weiteres Problem für die schwierige ländliche Pflegesituation ist der Mangel an Fachkräften. Aufgrund des demografischen Wandels gibt es immer mehr Pflegebedürftige, während gleichzeitig immer weniger qualifizierte Pflegekräfte zur Verfügung stehen. Die zunehmende Überlastung- mangelnde Wertschätzung und Unterbezahlung im Pflegeberuf führt dann wiederum dazu, dass sich immer mehr Menschen aus diesem Berufsfeld zurückziehen, was wiederum den Teufelskreis in der Pflegebranche dynamisiert. Zudem haben sogenannte Private-Equity-Unternehmen in den letzten Jahren begonnen, Pflegeheime und ambulante Pflegedienste zu erwerben, was zu einer Kommerzialisierung geführt hat, die jegliches soziales Engagement der Pflegerinnen und Pfleger auszutrocknen droht, da diese eher als einzugrenzender Kostenfaktor statt als zu wertschätzendes `Humankapital`, sprich Mitarbeiter:innen betrachtet werden. Laut einer Untersuchung der Hans-Böckler-Stiftung aus dem Jahr 2019 waren bereits im Jahr 2017 rund 22% der stationären Pflegeeinrichtungen in Deutschland in der Hand von privaten Investoren. Zusammen mit den ambulanten Pflegediensten liegt das Pflegeangebot aktuell zu etwa einem Drittel in der Hand von Investoren. Ein bekanntes Beispiel für einen Investor, der in den Pflegemarkt eingestiegen ist, ist der US-amerikanische Finanzkonzern Black Rock. Laut einem Bericht des „Tagesspiegel“ aus dem Jahr 2019 hält Black Rock Anteile an verschiedenen Unternehmen, die im Pflegemarkt tätig sind, darunter die Pflegeheimbetreiber Alloheim und Casa Reha.

Eine solche Übernahme hat jedoch häufig negative Auswirkungen auf die Pflegequalität und die Arbeitsbedingungen der Pflegekräfte, da Private Equity-Unternehmen in der Regel darauf ausgerichtet sind, ihre Investitionen möglichst schnell und profitabel zurückzuführen. Um dieses Ziel zu erreichen, werden auf allen innerbetrieblichen Ebenen Einsparungen zu Lasten der Pflegesituation vorgenommen. Beispielsweise indem Personal reduziert, weniger qualifiziertes Personal eingestellt wird oder Lohnkosten eingespart werden, indem die Betriebe zunehmend über Teilzeit- und Aushilfsarbeiten organisiert werden.  Eine Verschlechterung der Pflegequalität und zunehmende Überlastungen des verbleibenden Personals sind damit weiter vorprogrammiert. Auch die Ausstattung der Einrichtungen unterliegen oft dem von den Private Equity-Unternehmen verordneten Sparzwang. Im Falle von ambulanten Pflegediensten können Private Equity-Unternehmen die Profitabilität des Pflegebetriebes durch die Reduzierung der Leistungen steigern. In der Regel werden Pflegeeinrichtungen oder ambulante Pflegedienste, die von Private Equity-Unternehmen aufgekauft wurden, nach einigen Jahren weiterverkauft, da das Ziel des Unternehmens in der Regel darin besteht, eine hohe Rendite zu erzielen um das Unternehmen dann gewinnbringend zu verkaufen. Optimierungen zugunsten einer Verbesserung der Pflege bleiben auf der Strecke. Zwar wurde im Jahr 2017 das „Gesetz zur Stärkung der Pflegekräfte“ verabschiedet, welches unter anderem vorsieht, dass neue Pflegeeinrichtungen in der Regel nicht mehr von Investoren betrieben werden dürfen, doch gilt dies nur für neu gebaute Einrichtungen.

Doch nicht nur die Private Equity geführten Unternehmen unterliegen einem enormen Sparzwang. Die gleichen Tendenzen sind insgesamt in der Pflege-Branche zu beobachten, die zunehmend mit Unternehmens-Insolvenzen zu kämpfen hat. Es bedarf keiner großen Fantasie oder Fachkenntnis um ermessen zu können, dass gerade im ländlichen Raum jede weitere Insolvenz eines Pflege-Betriebes jederzeit zum Zusammenbruch der örtlichen Pflegeversorgung führen kann, wenn für eine Gemeinde ohnehin nur wenige Pflege-Anbieter zur Verfügung stehen. Dass die Pflegeversorgung insgesamt mittlerweile auf sehr dünnem Eis steht, ist kein Geheimnis.

Angesichts dieser Problematiken ist es umso wichtiger, alternative Pflege- und Betreuungskonzepte aufzubauen und zu fördern, die auf dezentralen Ansätzen basieren, die, eng an den örtlichen Bedarfen orientiert, von den dörflichen Gemeinschaften selbstbestimmt organisiert werden. Eine beachtliche Anzahl von Dörfern hat solche innovative Ansätze entwickelt und erprobt wodurch sie die Pflegesituation in ihren Gemeinden nicht nur sichern, sondern sogar auch erheblich verbessern konnten.

Ein vielversprechender Ansatz zur Sicherung und Verbesserung der ländlichen Pflegesituation ist zum Beispiel die Gründung von genossenschaftlich organisierten Pflegesystemen durch die Dorfgemeinschaften selbst. Im Rahmen einer solchen bedarfsorientierten Initiative können lokale Bedürfnisse, Rahmenbedingungen und Anforderungen besser ermittelt und berücksichtigt werden. Auch kann durch eine solche Initiative eine hohe Identifikation und Motivation der Pflegekräfte erreicht werden, deren Arbeit besser in die dörflichen Versorgungstrukturen eingebunden werden und sie dadurch auch mehr Wertschätzung erfahren und zugleich im engeren Austausch mit den Angehörigen ihrer Patienten stehen.

Dörfliche Gesundheitshäuser können hier eine Alternative zu herkömmlichen Pflegeeinrichtungen und ambulanten Pflegediensten darstellen oder deren Arbeit maßgeblich unterstützen. Diese Gesundheitshäuser bieten nicht nur eine schnelle und ständig verfügbare Pflege, sondern auch eine Vielzahl von Gesundheitsdienstleistungen an, wie z.B. physiotherapeutische Behandlungen, Ernährungsberatungen oder aber sie helfen den meist immobilen Seniorinnen und Senioren, die in ihren Häusern und Wohnungen oft stark unter Vereinsamung leiden, in Kontakt mit anderen Dorfbewohner:innen zu bleiben bzw. zu kommen. Sie können dabei helfen gegenseitige Besuche oder Fahrdienste für einen Besuch im vielleicht vorhandenen Dorfcafé zu organisieren, das z.B. Bestandteil eines Gesundheitshauses sein könnte und von der Dorfgemeinschaft als Treffpunkt für alle Einwohnerinnen und Einwohner ehrenamtlich betrieben wird.

 Im Gegensatz zu traditionellen Pflegeeinrichtungen sind dörfliche Gesundheitshäuser in der Regel genossenschaftlich organisiert, was bedeutet, dass die Gemeinschaft vor Ort das Projekt selbstständig plant, organisiert und verwaltet. Die Bürger vor Ort sind somit auch Teilhaber der Einrichtung und haben ein Mitspracherecht bei wichtigen Entscheidungen. Anders als bei rein kommerziell geführten Unternehmen spielt die Idee des Gemeinwohls eine wichtige Rolle.

Ein gravierender Vorteil von dörflichen Gesundheitshäusern ist, dass sie speziell auf die Pflege-Bedürfnisse der Bürger:innen in der Umgebung zugeschnitten sind und dass die Patientinnen und Patienten auch spontan schnelle Hilfe erhalten können, wenn sie sich in eine unerwarteten aber schnell zu lösenden Notlage befinden. Die Erfahrungen zeigen, dass alleine das Wissen um schnelle Hilfe Menschen dazu ermuntern kann, sich länger auf ein selbstbestimmtes Leben im vertrauten Haus einzulassen und der Umzug in ein Pflegeheim deutlich hinausgezögert werden kann, was nicht nur das Pflegesystem entlastet sondern in vielen Fällen mit einem erheblichen Zugewinn für die Lebensqualität einhergeht, denn erfahrungsgemäß wünschen sich die meisten Menschen, solange, wie möglich weitgehend selbstbestimmt in ihrem Zuhause wohnen bleiben zu können.

Das Wirken solcher Gesundheitshäuser kann zudem signifikant durch innovative Technologien unterstützt werden und damit ebenfalls dabei helfen, Menschen in Pflegesituationen eine bessere ärztliche Versorgung zukommen zu lassen, was wiederum einen Heimaufenthalt weiter aufschieben helfen kann. Hierzu gehören insbesondere die Telemedizin, Robotik und Assistenzsysteme, die den Pflegekräften helfen, effizienter zu arbeiten und die Qualität der Pflege zu verbessern. Sensorbasierte Technologien, die im Wohnraum installiert oder auch in der Kleidung der Pflegebedürftigen angebracht werden, können darüber hinaus helfen, alleine lebende Patientinnen und Patienten mit hohem Fallrisiko oder höherem Pflegebedarf durchgehend zu überwachen, damit in akuten Not-Situationen schnelle Hilfe organisiert werden kann. Der negativ konnotierte Begriff der Überwachung gerät hier wahrscheinlich schnell ins Hintertreffen angesichts der Perspektive, länger daheim wohnen bleiben zu können. Die Telemedizin bietet viele Chancen zur Unterstützung der Pflege im ländlichen Raum. Eine wichtige Anwendung der Telemedizin ist die Überwachung der Vitalparameter von Patienten. Dabei werden medizinische Geräte wie Blutdruckmessgeräte, Pulsoximeter oder Glukosemessgeräte zu Hause beim Patienten installiert und die Daten werden automatisch an das Pflegepersonal oder den Arzt bzw. die Ärztin übermittelt. Auf diese Weise können Veränderungen im Gesundheitszustand des Patienten frühzeitig erkannt und gezielte Maßnahmen ergriffen werden. Auch die Einbindung von sogenanntenTelesprechstunden in die ländliche Pflege hilft Patienten und Patientinnen direkt von zu Hause aus per Video- oder Telefonkonferenz mit ihren Ärzt:innen oder  Pfleger:innen in Kontakt zu bringen und medizinische Fragen oder akute Komplikationen beispielsweise mit Wundheilungen nach einer Krankenhausentlassung zu besprechen, bevor sich pflegeintensivere Situationen abzeichnen.

Insgesamt bietet die Telemedizin wie auch die anderen medizinischen Fortschrittstechnologien vielversprechende Möglichkeiten, die Gesundheitsbetreuung im ländlichen Raum zu verbessern und zugleich die Kosten und Personalbelastungen in dörflich organisierten Gesundheitszentren zu reduzieren.

Als gutes Beispiel für ein dörfliches Gesundheitshaus gilt z.B. das „Haus der Gesundheit“ in der Gemeinde Niederzier in Nordrhein-Westfalen. Hier können ältere Menschen und Menschen mit Behinderungen verschiedene Dienstleistungen in Anspruch nehmen, wie z.B. eine Tagespflege, ambulante Pflege und Hauswirtschaftsdienstleistungen. Die Mitarbeiter sind ständig vor Ort und können schnell auf die Bedürfnisse der Patienten reagieren. Ein anderes Beispiel mit einem etwas anderen Ansatz ist die Gemeinde Ruppichteroth in Nordrhein-Westfalen, die das Projekt „Betreutes Wohnen im Dorf“ ins Leben gerufen hat. Dabei werden Wohnungen speziell für ältere und leicht pflegebedürftige Menschen mit Behinderungen gebaut, die in der Nähe des dörflichen Gesundheitshauses liegen. Die Bewohner können so von der schnellen und persönlichen Pflege des Gesundheitshauses profitieren und dennoch in ihrer gewohnten Umgebung bleiben.

Die Gemeinde Lützelflüh im Kanton Bern in der Schweiz betreibt ebenfalls ein genossenschaftlich finanziertes Gesundheitszentrum, das aber über die Seniorenpflege weit hinausgeht. Das Gesundheitszentrum bietet verschiedene Dienstleistungen an, darunter eine medizinische Grundversorgung, Physiotherapie, Ergotherapie, Logopädie und eine psychiatrische Praxis. Das Ziel des Gesundheitszentrums ist es, eine umfassende und wohnortnahe Gesundheitsversorgung für die Bevölkerung von Lützelflüh und Umgebung zu gewährleisten.

Weitere Beispiele sind:

  • das Dorf Wedemark in Niedersachsen, wo ein genossenschaftlich organisiertes Pflegezentrum entstanden ist,
  • Klixbüll in Schleswig-Holstein, wo ein Dorfverein sich um die Betreuung von Senioren kümmert.
  • Niederkrüchten im Kreis Viersen, wo ein Wohnprojekt für Senioren entstanden ist, das von einer Bürgergenossenschaft betrieben wird. In diesem Projekt werden die Bewohner von einer professionellen Pflegeeinrichtung ambulant versorgt, während sie in ihren eigenen Wohnungen leben können.
  • Heek im Münsterland, wo ein Projekt namens „Heeker Netzwerk für Senioren“ ins Leben gerufen wurde, das sich um die Versorgung von Senioren im Dorf kümmert. Hier arbeiten Ehrenamtliche und professionelle Pflegedienste zusammen, um den Bedürfnissen der Senioren gerecht zu werden.
  • Eschweiler-Weisweiler: Hier gibt es seit 2017 das Projekt „Kommunale Seniorenarbeit in Weisweiler“. Das Projekt beinhaltet unter anderem eine Seniorenberatung und die Organisation von Freizeitaktivitäten für Senioren.
  • Niederzier-Hambach: Hier gibt es das Projekt „Netzwerk für Senioren Hambach“, das von einem ehrenamtlichen Team organisiert wird. Das Projekt beinhaltet unter anderem eine Seniorenberatung, Hausbesuche und die Organisation von Freizeitaktivitäten.
  • In der StädteRegion Aachen gibt es ebenfalls einige Initiativen, die sich mit alternativer Seniorenbetreuung bzw. -pflege beschäftigen. Ein Beispiel ist die „Bürgergemeinschaft Lammersdorf“, die verschiedene Projekte für Senioren organisiert und unter anderem Fahrdienste für Arztbesuche und Einkäufe
  • Schweringen in Niedersachens: Das Projekt „Dorf.Gesund.Leben“ wird von einer Genossenschaft getragen und bietet zudem eine ambulante Kranken- und Altenpflege sowie eine Tagespflege und eine Demenzbetreuung an.
  • Die Gemeinde Bovenden in Niedersachsen hat das Projekt „Miteinander leben im Alter“ ins Leben gerufen, das ebenfalls genossenschaftlich betrieben wird und sich auf eine wohnortnahe Versorgung älterer Menschen spezialisiert hat. Die Stadt Gelsenkirchen hat das Projekt „Kommunale Altenhilfe-Genossenschaften“ mit Unterstützung der Stadtverwaltung konzipiert und sich ebenfalls auf die Gründung von genossenschaftlichen Strukturen zur Verbesserung der Versorgung älterer Menschen konzentriert.

 

Die hier beispielhaft vorgestellten Projekte könnten als Aufbruch in eine Zukunft gewertet werden, in der Dorfgemeinschaften selbstbestimmt, partizipativ sowie dezentral und resilient die Pflegesituation gerade für die ältere Generation gestaltet.

 

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