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Wege aus der Armutsfalle – Ein Vergleich von Mikrokrediten und Direktzahlungen

als Bachelorarbeit vorgelegt von Tim Jansen am Institut für Politische Wissenschaft der RWTH-Aachen University.

1. Einleitung

Die Reichen werden reicher und die Armen werden ärmer – ungefähr so könnte eine phrasenhafte Überschrift in den heutigen Medien lauten. Diese Aussage trifft trotz der vorliegenden Oberflächlichkeit auf eine Grundproblematik unserer Zeit zu. Die vielbesagte Schere zwischen Arm und Reich wächst in gefühlt unaufhaltsamem Tempo. Dabei betrifft dieses innergesellschaftliche Problem nicht alleine Deutschland, sondern ist vielmehr ein globales Phänomen. Der enorm gestiegene finanzielle und materielle Wohlstand ist ungleich verteilt und es gelingt scheinbar nicht, eine Partizipation aller Menschen an diesem Wohlstand zu ermöglichen. In der Entwicklungspolitik der vergangenen Jahrzehnte war die Beseitigung der globalen Armut immer ein vorrangiges Ziel und viele wichtige Schritte wurden getätigt, um das Armutsrisiko in der Welt zu verringern. Auch die vor wenigen Jahren von den Vereinten Nationen (UN) ausgegebenen Sustainable Development Goals (SDG) betreffen in vielen Punkten die Armutsbeseitigung sowie damit verbundene Ziele wie Ernährungssicherheit, Bildung oder Gesundheitsfürsorge. Trotz dieser Maßnahmenbündel scheint es schwer zu sein, die letzten wichtigen Schritte bei der Armutsbekämpfung zu gehen und eine generelle sowie schlussendliche Lösung des Grundproblems zu schaffen. Aus diesem Grund begleiten die durch Staatenbündnisse geschaffene Entwicklungspolitik auch weitere Akteure, die sich als Ziel gesetzt haben, durch eine soziale und nachhaltige Konzeption den Allerärmsten aus der Armutsfalle zu helfen. Diese zusätzlich geschaffenen Instrumente stellen definitorisch keinen Teil der Entwicklungspolitik dar, aber liefern dennoch einen wichtigen, ergänzenden Ansatz. Zwei dieser begleitenden Konzeptionen sollen im Folgenden auf ihre Nachhaltigkeit und Wirksamkeit beim zentralen Ziel der Armutsbeseitigung betrachtet und verglichen werden. Daraus ergibt sich die Aufgaben- bzw. Fragestellung: „Wege aus der Armutsfalle – Ein Vergleich von Mikrokrediten und Direktzahlungen“.
Aus struktureller Sicht wird im ersten Kapitel der vorliegenden Arbeit zunächst erarbeitet, wieso es sinnhaft sein kann und sein muss, Entwicklungsarbeit an der Basis bzw. beim Menschen in Armut selbst zu beginnen. Ergänzend dazu werden Daten und Entwicklungen der globalen Armut, aber auch des globalen Wohlstands aufgestellt. Das folgende, große Themengebiet zum Instrument Mikrokredit ist in verschiedene Ebenen unterteilt. Zu Beginn wird die Mikrokreditidee von Muhammad Yunus und die dabei herangezogene Organisation vorgestellt. Vorrangig sollen an dieser Stelle die Funktionsweise, die Stärken und die Ziele hervorgehoben werden. Fortlaufend werden daraus resultierende Entwicklungen des Mikrokreditgeschäfts bzw. der Mikrofinanzbranche dargestellt. Um für einen späteren Vergleich mit Direktzahlungen die Stärken und Schwächen von Mikrokrediten beurteilen zu können, folgt eine kritische Analyse bezüglich der Grenzen von Mikrokrediten. Diese erfolgt im Kern anhand der beiden Parameter Messbarkeit der Erfolge sowie Nachhaltigkeit der Grundidee. Im zweiten großen Themenfeld der Direktzahlungen wird analog zu den Mikrokrediten zunächst die Grundkonzeption erklärt. Als globaler Akteur wurde in diesem Gebiet die amerikanische Non-governmental organization (NGO) GiveDirectly ausgewählt. Diese Organisation setzte Direktzahlungen als Instrumentarium zur Armutsbeseitigung und finanziellen Unterstützung in kenianischen Haushalten ein und begleitete das Projekt durch eigene Studien, deren Ergebnisse als Grundlage für die Wirkungsanalyse im folgenden Unterkapitel dienen sollen. Anschließend erfolgt die Zusammenführung und Gegenüberstellung der beiden Konzepte Mikrokredit und Direktzahlung. Hierbei werden sowohl Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede herausgestellt. Einen nicht zu unterschätzenden Faktor bei der finanziellen Förderung der Allerärmsten stellt allgemein die menschliche Psyche dar. Diese kann im Zusammenhang mit Armut sowohl als Hemmnis als auch Antrieb auftreten und bedarf daher einer separaten Betrachtung. Um einen Ausblick auf die langfristige Umsetzbarkeit der Direktzahlungsidee zu ermöglichen, erfolgt abschließend ein Kapitel zur Finanzierbarkeit und Einordnung in die globale Entwicklungspolitik.
Die zugrundeliegende Methodik der folgenden Untersuchung stellt sich in einer Mischform aus Sekundär- und Diskursanalyse dar. Mit Hilfe verschiedener Quellen und Argumentationslinien zum Bereich der Mikrokredite sollen sowohl argumentativ als auch diskursanalytisch die Vor- und Nachteile sowie die Bedeutung im Sinne der Aufgabenstellung ausgearbeitet werden. In Folge dessen werden Studienergebnisse zu den Direktzahlungen direkt auf die Anforderungen der Fragestellung im Sinne einer Sekundäranalyse interpretatorisch angewendet. Die Ergebnisse aus Diskurs- und Sekundäranalyse werden abschließend in puncto Wirkungsweise und Zielerreichung in Bezug zueinander gesetzt und bewertend verarbeitet.

2. Der Mensch im Mittelpunkt

Der martialisch betitelte Kampf gegen die Armut ist seit vielen Jahrzehnten Thema in der Politik und wird geprägt durch eine Vielzahl internationaler privater wie auch staatlicher Hilfsorganisationen. Der Oberbegriff Entwicklungshilfe vereinigt dabei viele verschiedene Maßnahmen in den geförderten Ländern, wie bspw. Infrastruktur-, Bildungs-, Ernährungssicherungs- oder Wirtschaftsprojekte. Diese Unterstützungen sind wichtig für die Verbesserung der Lebenssituation der Menschen, jedoch wird die Art der Hilfe oder der Güter durch Experten geliefert und festgelegt und ist nicht immer an den Bedarf der Menschen vor Ort angepasst. Wasserpumpensysteme sind zweifelslos für die Versorgung der Bevölkerung elementar, doch was geschieht, wenn eine der Pumpen einen Defekt erleidet und kein Know-How zur Reparatur vor Ort besteht. In Armut lebende Menschen benötigen Unterstützung durch entwicklungspolitische Maßnahmen, aber sie sollten mitentscheiden, welche Art der Hilfestellung sie erhalten und aus welchen Hilfestellungen sie den größtmöglichen Nutzen beziehen. Die Allerärmsten sollten dazu befähigt werden, zu eigenen Experten für Entwicklungsarbeit zu werden. (Vgl. Witte/Milhahn 2017)

2.1 Globale Armuts- und Wohlstandsentwicklung

Um ein grundlegendes Verständnis für die Begrifflichkeiten und globalen Entwicklungen des Themas Armut zu erlangen, bedarf es einer definitorischen und darstellenden Erfassung des Themenkomplexes. Der Begriff der Armut lässt sich in zwei Unterkategorien unterteilen: relative und absolute Armut. Für die vorliegende Arbeit ist nur der Begriff der absoluten Armut von vorrangiger Bedeutung und daher wird die relative Armut im Folgenden nicht weiter erörtert. Die absolute Armut betrifft Menschen, deren tägliches Einkommen pro Kopf unter 3,10 US-Dollar (USD) liegt und deren Grundversorgung aufgrund dessen nicht gewährleistet ist. Eine weitere Sonderform der absoluten Armut ist die extreme Armut, in der sich Menschen befinden, sofern das Tageseinkommen pro Kopf weniger als 1,90 USD beträgt. Diese zuletzt genannte Gruppe der Allerärmsten steht im Mittelpunkt für die anschließenden Überlegungen und Auswertungen der Arbeit. (Vgl. BPB 2017)
Bei einem Blick auf die absoluten Zahlen konnten zweifelsfrei bereits große Erfolge bei der Armutsbekämpfung in den vergangenen Jahrzehnten verzeichnet werden. Im Jahr 1981 lebten weltweit noch 1,982 Milliarden Menschen in extremer Armut. Diese Zahl halbierte sich bis 2012, sodass im Jahr 2012 in absoluten, globalen Zahlen noch 0,897 Milliarden Menschen von extremer Armut betroffen waren. Dieser enorme Rückgang lässt sich vor allem durch eine deutliche Verbesserung der Lebenssituationen in Ostasien erklären. Dennoch ist die Anzahl der Allerärmsten erdrückend groß und vor allem ein Blick auf das sub-saharische Afrika offenbart die Aktualität der Problematik. Zwischen 1990 und 2012 stieg die Anzahl der Allerärmsten in diesem Gebiet von 288 auf 389 Millionen Menschen. Einerseits lässt sich dies durch das enorme Bevölkerungswachstum in diesen Staaten erklären, andererseits beträgt der prozentuale Anteil an der Gesamtbevölkerung 2012 immer noch 42,7 Prozent, womit in diesen Ländern nahezu jeder Zweite in extremer Armut lebt. (Vgl. BPB 2017)
Der in der Wissenschaft wohl bekannteste Wohlstandsindikator ist das Bruttoinlandsprodukt (BIP). Das BIP umfasst den Gesamtwert aller Waren und Dienstleistungen, die innerhalb eines Jahres in einem Land hergestellt und in den Handel gebracht wurden. Das BIP pro Kopf verteilt diesen so errechneten Wert auf die Einwohner eines Landes und ermöglicht so eine Wohlstandsprognose für die betreffende Bevölkerung. Die Einwohner des zuvor bereits beschriebenen sub-saharischen Afrikas hatten im Jahr 2019 ein BIP pro Kopf in Höhe von 1.585,44 USD. Im Vergleich dazu sei die Weltregion Nordamerika aufzuzeigen, denn dort betrug das BIP pro Kopf 63.327,46 USD. Im Vergleich zu 2018 stieg das BIP pro Kopf in Nordamerika um 2.350,66 USD. Der Anstieg in der Sub-Sahara Zone von 2018 zu 2019 betrug 11,24 USD. Diese beiden Steigerungen stützen gewissermaßen die Behauptung, dass der globale Wohlstand jährlich weiterwächst, aber die Verhältnismäßigkeit der Wohlstandssteigerungen dieser beiden Regionen ist erschreckend. (Vgl. Statista 2020)
Die vorangegangenen Aufstellungen sollen verdeutlichen, dass die Anzahl der Menschen in extremer Armut weltweit und insbesondere im sub-saharischen Afrika nach wie vor groß ist und vor allem auch in relativen Zahlen bemerkenswert hoch ist. Weiterhin lässt sich anhand des BIP pro Kopf die These stützen, dass das Wachstum des globalen Wohlstands sehr ungleich verteilt ist und die Frage verbleibt, warum eine gerechtere oder allgemeinwohlorientiertere Allokation bisweilen ausbleibt.

2.2 Gründe für die Entwicklungshilfe an der Basis

Die globale Entwicklungsökonomie versucht mithilfe vieler Stellschrauben die zuvor genannte Ungleichheit der Staaten zu mildern und effektive Methoden zur Armutsbekämpfung zu schaffen. Im Kern liegt jedoch eine grundlegende Problematik vor: Wieso bleibt der schlussendliche Gesamterfolg aus? Sollten zunächst institutionelle Rahmenvoraussetzungen in den Empfängerländern von Entwicklungshilfe geschaffen werden oder sind Bottom-Up Strategien, die bei den Menschen selbst beginnen, sinnvoller? In diesem Punkt lässt sich zusammenfassen, dass
„[…] ohne ein funktionierendes politisches System keine guten Entscheidungen getroffen und in entsprechende Maßnahmen umgesetzt werden, zumindest nicht auf jeder Ebene. Es ist absolut witzlos, sich zu überlegen, wie ein Dollar an einer Schule verwendet werden kann, wenn 87 Cent davon sowieso nicht ankommen.“ (Banerjee/Duflo 2019: 305)
Die Aussage resultiert aus den Erkenntnissen einer Studie aus Uganda 1996. Es wurde festgestellt, dass von Bildungs- und Schulfördergeldern lediglich 13 Prozent die Schulen in Uganda erreichten und der Rest mutmaßlich im Zuge von Korruption und fragiler Systeme verloren gegangen ist. (Vgl. Banerjee/Duflo 2019: 304)
An dieser Stelle gilt es zu betonen, dass selbstverständlich eine Verbesserung der institutionellen, politischen Bedingungen vor Ort ein großes Ziel der Entwicklungshilfe sein muss. Dennoch ist es im Kampf gegen die Armut vielleicht förderlicher zu überlegen, in welchem Rahmen Entwicklungshilfe direkt beim Menschen beginnen kann und wie möglichst viel des Geldes oder der Wirkung die Einzelpersonen in den unterstützten Ländern erreichen kann. Eine weitere Schwachstelle offenbart sich in Form der Sachspenden, welche die Menschen vor Ort von Hilfsorganisationen bereitgestellt bekommen. Diese werden meist von Experten der Entwicklungspolitik als hilfreich und notwendig angesehen, liefern den Menschen jedoch nicht den gewünschten Nutzenzugewinn. So entsteht auch hier eine grundsätzliche Frage: Wer sollte entscheiden, was den Armen hilft – sie selbst oder Experten aus anderen Regionen? (Vgl. Witte/Milhahn 2017; Bregman 2020: 39f.)
Folgend soll ein Vergleich dazu dienen, die zuvor aufgeworfene Frage diskursartig zu beantworten. Im Strategiepapier des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) werden die SDG aufgegriffen und Ansätze zur Armutsbekämpfung genannt. Das Strategiepapier sieht insbesondere vor, mithilfe grüner Innovationszentren und grüner Berufe in den Empfängerländern bspw. die Kaffee- und Kakaoproduktion zu fördern. Zudem soll die Ernährungssicherung und Armutsbekämpfung vorrangig durch die Technologien und Forschungsresultate aus Deutschland in die Entwicklungsländer transferiert werden. (Vgl. BMZ 2018: 15) Diese Ansätze sind zweifelsohne logisch, denn es ist nur sinnvoll zu versuchen, das Know-How aus den hochentwickelten Industrienationen zum Wohle der Welt zu verwenden. Dem sei jedoch entgegenzusetzen, dass die Technologien zumeist nur für die Industrienationen konzipiert sind und in Entwicklungsländern eklatante Mängel bezüglich der Anzahl und Ausbildung qualifizierter Arbeiter zur Umsetzung oder auch der Stromversorgung für den Gebrauch teurer Maschinen bestehen. Der globale Süden braucht in diesem Fall eigene Technologien oder Strategien, die womöglich am besten vor Ort und von den Allerärmsten selbst geschaffen werden. (Vgl. Banerjee/Duflo 2019: 187) Eine ähnliche Problematik zeigt sich bei der Betrachtung von Dünger- oder Samenlieferungen in die an Hungersnöten leidenden Regionen dieser Welt. In Indien werden beispielsweise Getreidekörner in von Armut betroffene Landesteile transportiert. Der aufwändige und lange Transport und die Lagerung der Getreidekörner nehmen über 30 Prozent der gesamten Projektkosten in Anspruch. Ähnlich dem oben genannten Schulbeispiel ist auch hier festzustellen, dass diese Form der gelieferten Entwicklungshilfe nicht optimal konzipiert ist und nicht die maximale Förderung den Allerärmsten zu Teil wird. (Vgl. Banerjee/Duflo 2019: 287f.)
Wenn Entwicklungshilfe nicht effizient und zielführend geliefert werden kann, sollte also eine Unterstützung an der Basis erfolgen. Diesem Kern der Problematik steht jedoch wieder das tägliche Einkommen von weniger als 1,90 USD bei den insgesamt über 800 Millionen in extremer Armut lebenden Menschen gegenüber, das den Betroffenen jeglichen finanziellen Spielraum für eine eigenständige Lösung nimmt. In diesem Fall ist von der Armutsfalle zu sprechen.
„Eine Armutsfalle liegt dann vor, wenn der Spielraum zur schnellen Vermehrung von Einkommen oder Wohlstand für diejenigen, die zu wenig zum Investieren haben, gering ist, sich aber dramatisch vergrößert, sobald jemand etwas mehr investieren kann.“ (Banerjee/Duflo 2019: 27)
Ein möglicher Schlüssel zur Lösung des Armutsproblems an der Basis bietet sich demnach dadurch, den Allerärmsten finanziellen Investitionsspielraum zu schaffen, um einen Weg zur Selbsthilfe zu ermöglichen.

3. Mikrokredite

Eine der größten Herausforderungen für die vielen Menschen in extremer Armut ist es, Zugang zu solchen finanziellen Hilfsmitteln zu erlangen. Über 2 Milliarden Menschen weltweit haben keinen Zugang zu Bankdienstleistungen. Dies liegt zum einen in ländlichen Gebieten an der Entfernung zur nächsten Bankfiliale, aber insbesondere daran, dass Kreditinstitute kein Interesse haben, mit den Allerärmsten dieser Welt Geschäfte zu machen. Diese Menschen leben tagtäglich am Existenzminimum und weisen keinerlei Sicherheiten auf. (Vgl. Stüttgen 2017: 117f.)
Die oftmals einzige Alternative für die Menschen in extremer Armut stellen informelle Geldgeber dar. Diese können Großhändler oder örtliche Geldverleiher sein und stehen meist in direktem Kontakt zu den Kreditnehmern, da sie entweder eine Geschäftsbeziehung unterhalten oder im selben Dorf wohnen. Die Geldverleiher sind somit direkt vor Ort, kennen ihre Kreditnehmer persönlich und sind der kürzeste Weg, um zusätzlichen finanziellen Spielraum zu erlangen. Bei den gewährten Krediten ist es nicht unüblich, dass die Zinssätze von 40 bis weit über 200 Prozent reichen und bei nicht erfolgter Rückzahlung die Anwendung physischer Gewalt droht. Eine Kreditwürdigkeitsprüfung einer Bank würde enorme Kosten der Informationsbeschaffung mit sich bringen, welche der Geldverleiher durch die persönliche Verbindung und Androhung strenger, teils physischer Konsequenzen nicht benötigt. Der Zinswucher und das ethisch fragwürdige Kreditkonzept in vielen Teilen der Welt begründete die Mikrokreditidee. Mikrokreditinstitute bieten eben diesen Menschen, ohne Sicherheiten und ohne Bankzugang, die Möglichkeit einen Kredit zu einem moderateren Zins, der gerade so hoch ist, dass die Kosten gedeckt werden, aufzunehmen. (Vgl. Banerjee/Duflo 2019: 208-218)
Ein Mikrokredit lässt sich im Allgemeinen dadurch definieren, als dass es sich um einen Kleinkredit für Privatpersonen und Kleinunternehmer handelt mit einem Jahreszinssatz üblicherweise zwischen 20 und 35 Prozent. Der Kreditbetrag variiert zwischen 25 und 1500 USD Gegenwert und es wird meist eine wöchentliche Tilgungsrate vereinbart. Für die Vergabe der Kredite ist keine Bonitätsprüfung oder Stellung von Sicherheiten notwendig. Die Vergabe erfolgt meist an Kreditgruppen bestehend aus mehreren Personen, in denen ein Solidaritätsgefühl bzw. genossenschaftliches Prinzip charakteristisch ist. Ein weiteres besonderes Merkmal ist die Tatsache, dass die meisten Mikrokredite an Frauen vergeben werden und dass neben der sozialen, finanziellen Hilfestellung auch eine emanzipatorische Zielsetzung verfolgt wird. (Vgl. Stüttgen 2017: 119ff.)

3.1 Mikrokredite der Grameen Bank (Muhammad Yunus)

„Die Armut besiegen“ war nicht nur der Programmtitel, mit dem Muhammad Yunus den Friedensnobelpreis 2006 erhielt, sondern vielmehr seine Geschäftsphilosophie und sein oberstes Ziel der Mikrokreditidee. Ähnlich wie zuvor beschrieben, gibt auch Yunus selbst als Grund für die Gründung der Grameen Bank die enormen Wucherzinsen und die damit verbundene Perspektivlosigkeit der Allerärmsten in seinem Heimatland Bangladesch an. In Gesprächen mit Dorfbewohnern offenbarte sich für Yunus, dass die Pläne und Versuche der Menschen, der Armut zu entfliehen, von den informellen Kreditgeschäften mit enormen Wochenzinssätzen im Keim erstickt wurden und dass der eigentliche Kreditbedarf verschwindend gering war, aber eine Alternative zum Geldverleiher fehlte. (Vgl. Spiegel 2012: 20-23)
Daraus resultierend schuf Muhammad Yunus 1983 mit der Grameen Bank die erste Bank, die bereit war, mit den Allerärmsten Geschäfte und Verträge zu tragbaren Konditionen zu schließen. Bis zum Jahr 2008 hat die Grameen Bank Mikrokredite an über sieben Millionen Arme in Bangladesch ausgezahlt. 97 Prozent der Kreditnehmer sind Frauen, was eine Besonderheit in der Konzeption von Muhammad Yunus darstellt. Ebenso beeindruckend ist die hohe Rückzahlungsquote der Kredite. Diese liegt nach Angaben der Grameen Bank bei 98,6 Prozent, was für gewöhnliche Geschäftsbanken eine unerreichbare Quote bedeutet. Unter Berücksichtigung der Aussagen Yunus‘, laut derer 64 Prozent der Kreditnehmerinnen innerhalb von fünf Jahren die Armutsgrenze überwunden haben, scheint das Konzept des Mikrokredits sowohl ein probates Mittel zur Armutsbeseitigung als auch für die Menschen finanziell tragbar und nachhaltig zu sein. (Vgl. Yunus 2008: 63f.)
Diese bemerkenswerten Erfolge lassen sich auf verschiedene Stellschrauben in der Konzeption und Organisation der Mikrokreditidee von Muhammad Yunus zurückführen. Grundlage dessen sind fünf Sicherheitsfaktoren, die den Erfolg der Idee und den Nutzen für die Menschen begründen: Überlebenswille, Frauen, Einfachheit der Konditionen, Kreditgruppen und Rückzahlungspflicht. (Vgl. Spiegel 2012: 25-46)
Der Sicherheitsfaktor Überlebenswille ist möglicherweise der wichtigste Faktor, um zu erklären, warum es eine gute Idee ist, Menschen ohne Sicherheiten und zu angemessenen Zinssätzen Geld zur Verfügung zu stellen. Die Allerärmsten dieser Welt erwirtschaften ein Einkommen von weniger als 1,90 USD am Tag und sind tagtäglich mit dem bloßen Überleben und Existenzkampf konfrontiert. Mit knappen Ressourcen gut umzugehen, stellt die größte Herausforderung am Tag dar und ist im Umkehrschluss vielleicht auch die größte Qualität oder Fähigkeit dieser Menschen. Das Einzige, was ihre Unternehmungen beschränkt, ist der immerwährende Druck am Ende des Tages mittellos da zu stehen. Aus diesem Grund symbolisiert ein Kleinkredit, der einen kleinen Spielraum für Investitionen und für das reine Überleben schafft, den Strohhalm, den die Menschen zur Selbsthilfe aus der Armutsfalle benötigen. Gerade diese Tatsache sollte auch nochmals betonen, wieso es so wichtig sein kann und muss, die Armutsbeseitigung an der Basis und beim Menschen selbst zu beginnen. (Vgl. Yunus 2008: 138f.) Zugleich steigt mit zunehmender Mittellosigkeit und mit dem Fehlen von Sicherheiten die Rückzahlungsmoral der Kreditnehmer. Entgegen der gewöhnlichen Bankenphilosophie sind demnach die Menschen, die am wenigsten kreditwürdig wirken, die zuverlässigsten Kreditnehmer und Geschäftspartner. (Vgl. Spiegel 2012: 27)
Die Grameen Bank konzentriert sich weiterhin bei der Kreditvergabe darauf, insbesondere Frauen als Kreditnehmerinnen einzusetzen. Gemäß empirischen Erhebungen der Grameen Bank beläuft sich die Rückzahlungsquote bei Frauen auf nahezu 100 Prozent, wohingegen das männliche Geschlecht nur 85 Prozent erreicht. Dies ist vor allem dadurch zu begründen, dass Frauen deutlich unternehmerischer, ganzheitlicher und gewissenhafter bei der Ressourcenverwendung vorgehen. Ebenso lässt sich festhalten, dass bei einer Kreditvergabe an Frauen eine höhere generationsübergreifende Wirkung eintritt, da viele Investitionen zum Wohle und zur Ausbildung der Kinder erfolgen. (Vgl. Spiegel 2012: 29f.)
Der Sicherheitsfaktor Kreditgruppen wird vor allem durch die beiden Charakteristika Solidarität und Motivation geprägt. Um einen Mikrokredit der Grameen Bank zu erhalten, ist es notwendig, dass sich fünf Kreditsuchende zusammenschließen. Dies ist vergleichbar mit einer Bankbürgschaft, da auch hier eine grundsätzliche Abhängigkeit zwischen den Beteiligten vorliegt. Die Kreditgruppen sollen dazu dienen, dass sich die Kreditnehmer gegenseitig Hilfestellungen bei Geschäftsideen leisten und durch die Abhängigkeit voneinander solidarisch agieren. Zudem gefährdet ein schlecht laufendes Projekt oder eine ausbleibende Rate den Erfolg des gesamten Kreditteams, wodurch sich ein motivationaler Druck ergeben soll. Außerdem entfällt durch die gegenseitige Kontrolle ein erheblicher Aufwand, den die Grameen Bank zur Überprüfung der Ordnungsmäßigkeit der Rückzahlung und Kreditmittelnutzung betreiben müsste. Die Rückzahlung erfolgt aggregiert zu einem bestimmten Zeitpunkt durch diese Kreditgruppen an einen Bankangestellten. (Vgl. Spiegel 2012: 32ff.)
Auch die Einfachheit der Konditionen schmälert den Kontrollaufwand und die Bürokratie der Grameen Bank. Die Konditionen sind klar und für alle gleich definiert: Der Mikrokredit hat meist eine Laufzeit von einem Jahr, es erfolgt eine wöchentliche Rückzahlung und der Zinssatz beträgt 20 Prozent. In Anbetracht der Zinssituation in den Industrienationen erscheint der Zinssatz nach wie vor überhöht, soll jedoch lediglich kostendeckend für die Bank sein und ist vor allem durch verhältnismäßig hohe Fix- bzw. Betriebskosten verteilt auf die geringen Kreditbeträge zu begründen. (Vgl. Spiegel 2012: 37f.)
Als letzten aufzuführenden Sicherheitsfaktor gilt es die Rückzahlungsverpflichtung zu nennen. Denn so einfach die Konditionen auch sind, so verpflichtend sind diese auch. Die Grameen Bank erlässt keinem Kreditnehmer oder keiner Kreditnehmerin die Schulden. Ein Aufschub der Rückzahlung ist zwar möglich, aber eine Verringerung der Rückzahlungssumme oder Zahlungsunfähigkeiten wie Insolvenzen werden nicht geduldet. (Vgl. Spiegel 2012: 44ff.)
Die Grundidee und Beweggründe der Mikrokredite von Muhammad Yunus sind schlicht und logisch. Den Allerärmsten werden Mittel zur Verfügung gestellt, die ihnen erstmals eine Art Hilfe zu Selbsthilfe ermöglichen. Die Sicherheitsfaktoren zur Zielerreichung und Erfolgsmessung sind mehrdimensional und durchdacht. Vor allem der Faktor Frauen als Kreditnehmerinnen ist von vorrangiger Bedeutung, da zum einen eine zukunftsorientiertere und generationenübergreifende Wirkung eintritt und zum anderen in den Haushalten der Allerärmsten von einem Kreditnehmer zumeist fünf Menschen aufgrund der Nähe des Zusammenlebens profitieren (vgl. Spiegel 2012: 54). Des Weiteren überwindet die Grameen Bank durch ihre Aufbauorganisation die Entfernung zwischen der gewöhnlichen Bank und den Menschen in extremer Armut. Die Bank kommt zu den Armen und die kostenintensiven Kontrollmechanismen entfallen aufgrund des Gemeinschaftsprinzips innerhalb der Kreditgruppen. Für die Allerärmsten besteht somit erstmalig eine umsetzbare und bezahlbare Form, Bankdienstleistungen wie Kredite vor Ort zu beziehen. (Vgl. Spiegel 2012: 48)

3.2 Entwicklungen des Mikrokreditgeschäfts

Im vorangegangenen Kapitel wurde eingehend das Verständnis von Mikrokrediten im Sinne von Muhammad Yunus sowie die Funktionsweise der Grameen Bank beschrieben. Die Grameen Bank ist als ein soziales Unternehmen im klassischen Sinne einzuordnen. Das bedeutet, dass das Ziel der Unternehmung nicht das Erwirtschaften von Gewinnen und Ausschüttung von Dividenden ist, sondern vielmehr der soziale Zweck im Vordergrund stehen soll. Die Zinsen werden dazu verwendet kostendeckend und zukunftsfähig zu arbeiten. (Vgl. Yunus 2008: 83) Die Grameen Bank wurde bis 1995 durch Spendengelder mitfinanziert, ist aber seit 1995 in der Lage, sich finanziell selbst zu tragen (vgl. Yunus 2008: 64).
Die Entwicklung in der Mikrofinanzbranche tendiert jedoch dazu, dass Mikrofinanzinstitute (MFI) gar nicht auf externe Geldgeber verzichten wollen. Viele Mikrofinanzanbieter sind vielmehr moderne Geschäftsbanken, die als lukrative Geldanlage dienen und vorrangig auf Gewinnausschüttung ausgerichtet sind. Der Kampf gegen die Armut rückt in den Hintergrund und das Interesse der Investoren an hohen Renditen tritt in den Vordergrund. (Vgl. Yunus 2008: 83ff.)
Ein möglicher Grund für diese Entwicklung ist sicherlich die Frage nach der Finanzierbarkeit der Mikrokreditidee. Muhammad Yunus wurde der Start mit Hilfe von Spendengeldern ermöglicht, doch was wäre passiert, wenn eben diese Spendengelder ausblieben wären? Die oftmals unterentwickelten Kapitalmärkte der Entwicklungsländer selbst bieten in der Regel keinerlei Möglichkeiten zur Finanzierung. Nur etwa 3-5 Prozent der Kapitalnachfrage können die inländischen Kapitalmärkte in einigen Entwicklungsländern abdecken. Daher liegt die Vermutung nahe, dass externe bzw. ausländische Geldgeber in Betracht gezogen werden müssen, um für einige MFI die Mikrokreditidee weiterumsetzen zu können. (Vgl. Stüttgen 2017: 120ff.)
„Wenn Kapitalbesitzer in reichen Ländern in Mikrofinanzorganisationen investieren, können sie in Afrika oder Asien kleine Wirtschaftswunder ermöglichen und dabei sogar Rendite erzielen, heißt es. Mikrokredite bedienen damit die in den letzten Jahren gewachsene Nachfrage bei Anlegern nach ‚sozialen Investments‘.“ (Mader 2013: 46)
MFI nutzen zudem häufig eine narrative Darstellung der Erfolge ihrer Mikrokredite bei den Kreditnehmern. Oftmals werden die Geschichten von Kreditnehmern sprichwörtlich in der Art vom Tellerwäscher zum Millionär dargestellt, um den sozialen Zweck nach außen hin sichtbar und attraktiv zu gestalten. Zweifelsohne ist dank des Mikrokredits für viele Menschen ein lang ersehnter Neuanfang möglich und es werden Erfolge zu verzeichnen sein, doch manche MFI nutzen dieses Narrativ lediglich zur eigenen Besserstellung bei Investoren und der Kampagnengestaltung. Die Investoren sind lediglich an einer ausgewogenen Portfoliostruktur ihrer Anlagen interessiert und partizipieren von sogenannten wachsenden Märkten mit Potenzial. (Vgl. Mader 2013: 45ff.; Mader 2014: 160f.)
Neben dieser Vermarktung der Mikrokreditidee ist eine weitere Problemdimension das Wettbieten der MFI, um für die Investoren attraktiv zu bleiben. Die Zinsen für die Kredite müssten steigen, um sowohl die eigene Refinanzierung zu sichern als auch die Ausschüttung zu maximieren. Eine andere Möglichkeit wäre, die Aufwendungen, die für die Betreuung und Verwaltung der Mikrokredite anfallen, auf ein Minimum zu reduzieren und die persönliche Unterstützung der Kreditnehmer immer mehr abzubauen. Beide Möglichkeiten widersprechen grundsätzlich der sozialen und gemeinschaftlichen Grundkonzeption des Mikrokredits. (Vgl. Cramer 2014: 104f.) Die beschriebenen Entwicklungen der Mikrofinanzbranche zeigen eine deutliche Entfremdung von der ursprünglichen Idee von Muhammad Yunus und spiegeln vielmehr eine neoliberale Investmentstruktur wider. Die Gefahren, die dadurch für die in Armut lebenden Menschen entstehen, werden erstmals offenbart und im Folgenden sollen weitere Grenzen der Mikrokreditidee aufgezeigt werden.

3.3 Grenzen des Mikrokredits

Auf Basis der vorangegangenen Ausführungen zu den Entwicklungen der Mikrofinanzbranche ist die eigentliche Zielsetzung der Armutsreduktion mit Hilfe von Mikrokrediten in den Hintergrund geraten. Doch nicht nur die Entwicklungen dieser Branche sind kritisch zu beäugen, sondern auch die geplanten Erfolge der ursprünglichen MFI, wie die von Muhammad Yunus gegründete Grameen Bank, gilt es zu hinterfragen. Vor allem die Messbarkeit der Erfolge stellt eine große Herausforderung dar, da viele Daten und Erkenntnisse lediglich durch eigene Erhebungen der MFI gestützt werden. Externe Datenerhebungen erfolgten in den vergangenen Jahren nur vereinzelt und ermöglichten jedoch ein klareres Bild zur Beurteilung der geleisteten Arbeit. Mikrokredite als Ergänzung zur etablierten, institutionellen Entwicklungshilfe können kein Allheilmittel im Kampf gegen die Armut sein, aber die versprochenen und geplanten Erfolge müssen dennoch messbar und nachhaltig wirksam für die Allerärmsten dieser Welt sein. (Vgl. Mader 2013: 45)

3.3.1 Messbarkeit als Herausforderung

Wenn Menschen von einer Idee oder von der Wirkung überzeugt werden sollen, hilft es häufig, diese mit erlebbaren und realitätsnahen Geschichten greifbar zu gestalten. Einem ähnlichen Konzept folgt die Mikrofinanzbranche mit den zuvor bereits angerissenen Narrativen seit vielen Jahren. Der Weg der Kreditnehmerinnen und Kreditnehmer wird ausführlich dargestellt, um den Erfolg der Hilfestellung durch Mikrokredite sichtbar zu gestalten. Als exemplarische Darstellung soll die kurze Geschichte von Pramila dienen, welche Muhammad Yunus bei manchen Veranstaltungen präsentiert. Von schweren Krankheiten und Umweltkatastrophen getroffen wandte sich Pramila in Krisensituationen oftmals an die Grameen Bank oder an die solidarischen Kreditgruppenmitglieder, um bspw. ihre von einer Flut zerstörte Ernte oder ihren aus der Not verkauften Lebensmittelladen durch einen Mikrokredit wieder zurückzuerlangen. Ihre drei Söhne halfen ihr bei der Rückzahlung der Kredite und schließlich gelang es ihr, den Laden wiederaufzubauen und Stück für Stück Geld in Saatgut und Nutzvieh zu investieren. Von einem weiteren Kredit schaffte sie es, ein neues Haus aus Metall für ihre Familie zu errichten und schlussendlich hatte sie keine Probleme mehr, ihre Familie gut und ausreichend zu ernähren. (Vgl. Spiegel 2012: 73f.) In anderen Beispielen wird beschrieben, wie mit Hilfe eines Mikrokredits der Kauf einer ersten Nähmaschine für die spätere Textilfabrik oder eines Karrenwagens der Einstieg zur erfolgreichen Schrotthändlerin möglich gemacht wurde. Dies sind vor allem realitätsnahe und ergreifende Geschichten, die exemplarisch im Zusammenhang mit der Argumentation über die Wirksamkeit und Daseinsberechtigung von Mikrokrediten angeboten werden.
Objektivere Forschungsarbeiten und Studien, die als empirischere Beweisführung dienen könnten, unterliegen oftmals schlechter Datenqualität oder schwachen Forschungsdesigns. Muhammad Yunus folgt gerne einer Studie, laut derer jährlich fünf Prozent der Kreditnehmerinnen der Armut entfliehen können. Weitere Untersuchungen dieser Studie legen jedoch die Schlussfolgerung nahe, dass bei kleinsten Änderungen das Studiendesign bereits Schwächen offenbaren würde und die Ergebnisse so nicht haltbar seien. Allgemein gilt es festzuhalten, dass es an verwertbaren und messbaren Ergebnissen mangelt und so oftmals auf die Narrative der MFI zurückgegriffen wird. Eine mögliche Gestaltung einer besseren Messbarkeit liefert die Methodik von randomisierten kontrollierten Studien (RCT). Diese RCT werden analog zur Vorgehensweise in der Medizin als experimentelle Studien zur Wirkungsmessung eingesetzt. Das Studiendesign sieht vor, dass Menschen oder Gruppen nach dem Zufallsprinzip in Kontroll- und Behandlungsgruppen eingeteilt und über einen längeren Zeitraum betrachtet werden. (Vgl. Duvendack 2014: 38-41)
Die beiden Wirtschaftswissenschaftler und Wirtschaftsnobelpreisträger Abhijit Banerjee und Esther Duflo waren viele Jahre bemüht, Studien oder Datenerhebungen durchzuführen, um die vorgetragenen, anekdotischen Fallbeispiele der MFI empirisch zu prüfen. Oftmals stießen sie beim Versuch mit einem MFI zu kooperieren auf Ablehnung seitens der MFI, da diese die empirischen Erhebungen nicht für notwendig hielten, da erstens ihre Kreditnehmer die Kredite zuverlässig zurückzahlten und zweitens auch mehrfach für neue Kredite zurückkamen. Dies genügte für die MFI über viele Jahre hinweg als Beweisführung für die Effektivität der Mikrokredite. (Vgl. Banerjee/Duflo 2019: 223f.)
Letztendlich ermöglichte die indische Mikrokreditbank Spandana den Wissenschaftlern eine Möglichkeit zur Durchführung einer Studie. Die Spandana Bank ist im Aufbau, der Funktionsweise und Werteorientierung der Grameen Bank ähnlich und kann somit als adäquater Anhaltspunkt bezüglich der vorherigen Kapitel betrachtet werden. In Form einer oben beschriebenen RCT wurden in der indischen Stadt Hyderabad 52 Stadtviertel nach dem Zufallsprinzip ausgewählt, in denen Spandana durch die Vergabe von Mikrokrediten aktiv werden sollte. Weitere 52 Stadtviertel in Hyderabad wurden als Kontrollgruppe genutzt und erhielten keine finanzielle Unterstützung. In den geförderten Vierteln stieg nach 15-monatiger Beobachtung die Wahrscheinlichkeit, dass die Kreditnehmer ein Geschäft eröffneten oder langlebige Güter erwarben. Der Konsum von kurzlebigen Genussmitteln, wie Alkohol oder Tabak, blieb hingegen unverändert niedrig, sodass ein sinnvoller und verantwortungsvoller Umgang mit den erhaltenen Mitteln unterstellt werden konnte. Radikale Veränderungen und Erkenntnisse blieben jedoch aus. Es ließen sich weder emanzipatorische Verbesserungen noch höhere Bildungsausgaben feststellen. Auch die Veränderungen bei den Geschäftseröffnungen waren von kleinerem Ausmaß, da der Anteil der Menschen mit einem eigenen Geschäft lediglich um zwei Prozent stieg. Die dargestellte Studie stellt einen ersten verlässlichen und kontrollierbaren Ansatz zur Wirkungsmessung dar. Die Erkenntnisse widerlegen nicht die grundsätzliche Wirkung von Mikrokrediten, aber stützen die Vermutung, dass die Versprechungen größer sind als die empirischen Belege. (Vgl. Banerjee/Duflo 2019: 225ff.)
Unabhängig von der gewählten Methode der Erfolgskontrolle ist es nicht leicht, das Ziel der Armutsreduktion zu kontrollieren. Der Weg aus der Armut ist ein vielseitiger und komplexer Sachverhalt, der viele immaterielle Faktoren impliziert, die auch nur schwer messbar sind. Auf Basis der erlangten Erkenntnisse und Entwicklungen gilt es zu resümieren, dass die Mikrofinanzbranche um ein gutes Ansehen bezüglich der Erfolge bemüht ist. Diese Erfolge lassen sich jedoch schwer messen und belegen, weshalb eine kritische Haltung gegenüber der Wirkungsmessung notwendig ist.

3.3.2 Nachhaltige Entwicklungshilfe?

Der Mikrokredit als Finanzinstrument ist per Definition keine eigentliche Entwicklungshilfe, soll aber dennoch als Ergänzung zur Entwicklungspolitik dem Zweck der Armutsreduktion dienen. Daher ist auf Basis der vorherigen Ergebnisse zur Messbarkeit die Frage aufzuwerfen, ob der Mikrokredit wirklich nachhaltig den Allerärmsten aus der Armutsfalle helfen kann. Muhammad Yunus distanziert sich bei der Armutsdefinition von dem Tageseinkommen von weniger als 1,90 USD, da die Armut anhand verschiedener, nicht rein monetärer Kriterien zu beurteilen sei. Folgende Voraussetzungen bzw. Indikatoren zur Armutsüberwindung sollen dabei hervorgehoben werden: Wöchentliche Rückzahlung der Mikrokredite, Haus mit Metalldach, Grundschulbesuch der Kinder, Zugang zu sauberem Wasser und Gesundheitsvorsorge. (Vgl. Yunus 2008: 134f.) Weiterhin stellt die Grameen Bank laut Yunus kein Hilfswerk dar, sondern ist im eigentlichen Sinn eine Bank mit dem Ziel, Projekte zu fördern. Aus seiner Sicht sind die Mikrokredite keine Hilfsleistungen, da diese kein geschäftsmäßiges Verhalten fördern würden. Die Mikrokreditnehmer sind vielmehr Projektmanager und dazu angehalten, wirtschaftliche und eigenständige Projekte zu entwickeln. Des Weiteren würde die Rückzahlung des Mikrokredits als Erfolgsindikator immer wieder beweisen, ob eine Projekt- oder Geschäftsidee zukunftsfähig ist. (Vgl. Spiegel 2012: 55-68)
Die Rückzahlungsquote ist demnach vielleicht das wichtigste Merkmal der Mikrokreditidee von Muhammad Yunus, wenn dadurch sowohl die Armutsüberwindung als auch der Projekterfolg sichergestellt werden kann. Die Rückzahlung des gesamten Kreditbetrags ist verbindlich, aber auch die wöchentliche Rückzahlung. Größere Projekte oder einmalige Investitionen, wie bspw. eine Schul- oder Kursgebühr, generieren jedoch nicht ab der ersten Woche Gewinne und verkomplizieren eine erste Rückzahlungsrate. Der einzige Weg für die Kreditnehmerinnen stellt somit der Gang zum lokalen Geldverleiher oder einem anderen MFI dar, um diesen akuten Engpass überwinden zu können. Die Allerärmsten werden so gezwungen, einen neuen Kredit aufzunehmen, um die alte Kreditrate bezahlen zu können. Die Gefahr, aufgrund dieser Rückzahlungsmodalitäten in eine Schuldenspirale oder Art Schneeballsystem zu geraten, liegt auf der Hand und kann nicht als nachhaltige Hilfe zur Selbsthilfe bezeichnet werden. (Vgl. Rahaman 2014: 56f.) Eine mögliche Lösung dieser Problemlage wäre mutmaßlich, den Empfängern von Mikrokrediten eine Art Aufschub der ersten Raten zu ermöglichen. Eine Untersuchung bei einem indischen MFI offenbarte, dass, wenn die Kreditnehmer nicht nur eine Woche Zeit für die erste Rate, sondern zwei Monate Zeit erhalten hätten, die Größe und Zukunftsfähigkeit ihrer Projekte anstieg. Die Menschen wiesen eine höhere Kundenzufriedenheit auf und die Projekte generierten größere Erfolge und mehr Geld. Trotz dieser Erkenntnisse hielt das indische MFI an der bewährten Rückzahlungsmethode fest. Das verdeutlicht, dass die MFI ihren Zweck der Armutsreduktion ein Stück weit durch die strengen und nicht verhandelbaren Rückzahlungsverpflichtungen zerstören. (Vgl. Banerjee/Duflo 2019: 228ff.)
Weiterhin wird im Gegensatz zum lokalen Geldverleiher die Rückzahlung nicht durch Androhung physischer Gewalt, sondern durch den sozialen Druck in der Kreditgruppe abgesichert. Dieser vor allem psychische Druck kann für die Kreditnehmerinnen jedoch mindestens genauso belastend sein, da sich diese in einer Gruppe meist persönlich kennen und im selben Dorf wohnen. Die Gruppenkonstellation erzeugt somit neben der intendierten Motivation und Solidarität ebenso Stress und Angst für die Beteiligten, sich bei Zahlungsunfähigkeit bloßstellen zu müssen. (Vgl. Banerjee/Duflo 2019: 220) Die emanzipatorische Grundidee zur Stärkung der Frau kann in diesem Zusammenhang auch als Risiko auftreten, da in traditionellen Kulturkreisen wie z.B. in Bangladesch eine öffentliche Demütigung der Frauen als Druckmittel durchaus effektiv sein kann (vgl. Mader 2013: 48). Ein noch extremeres Ausmaß nimmt der psychische Druck im Zusammenhang mit Selbstmordraten an. Nicht selten werden MFI in ländlichen Regionen für Selbstmorde verantwortlich gemacht, da die Menschen mutmaßlich dem psychischen Druck und Rückzahlungszwang nicht mehr Stand gehalten haben. (Vgl. Banerjee/Duflo 2019: 231f.)
Aus rein wirtschaftlicher Sicht ergibt sich bei der finanziellen Förderung von Projekten eine weitere Herausforderung bezüglich der unternehmerischen Fähigkeiten der Allerärmsten. Die Grameen Bank fordert von den Kreditnehmerinnen ein unternehmerisches und projektorientiertes Vorgehen, um dadurch die Rückzahlungswahrscheinlichkeit maximal zu gestalten. Einerseits verhindern aber die niedrigen Kreditbeträge und strengen Rückzahlungen den Aufbau großer, unternehmerischer Ideen, andererseits erwirtschaften die Geschäfte der Armen allgemein auch nur kleine Umsätze und Gewinne. Bei Kalkulationen der in der Studie beobachteten Geschäfte in der indischen Stadt Hyderabad stellte sich heraus, dass die Geschäfte ein tägliches Einkommen von etwa 2 USD pro Geschäftsinhaber generierten. Dabei bleibt außen vor, dass oft Familienangehörige unbezahlt viele Stunden im Geschäft aushelfen. Generell sind die Geschäfte und Unternehmungen der Armen unrentabel und ermöglichen knapp ein Einkommen über der Armutsgrenze. Ein kleiner Geldbetrag steigert zwar den Ertrag aus dem erhaltenen Geld unmittelbar, aber ein langfristiger Ausbau des Geschäfts mit höheren Gesamterträgen bleibt aus, da keine langfristigen und großen Investitionen möglich sind. (Vgl. Banerjee/Duflo 2019: 278-282) In diesem Zusammenhang ist lediglich von einem Ausbau der Basarwirtschaft zu sprechen. Die Allerärmsten führen unrentable Geschäfte, die schon vor dem Kredit nur eine Notlösung zum täglichen Überleben sind. Ein kleiner Geldbetrag mitsamt Rückzahlungsverpflichtung kann diese Ausgangssituation nicht radikal verändern. (Vgl. Mader 2013: 45)
Die im vorherigen Kapitel aufgeführten Studienergebnisse der indischen Spandana Bank belegten neben der geringen Steigerung der Geschäftstätigkeit auch, dass emanzipatorische Wirkungen oder höhere Bildungsausgaben gänzlich ausblieben (vgl. Banerjee/Duflo 2019: 226). Die von der Grameen Bank bezifferten 64 Prozent der Kreditnehmerinnen, die die Armut hinter sich gelassen haben, sollten laut Yunus diverse Kriterien der Armutsüberwindung erfüllen (vgl. Yunus 2008: 64). Vor dem Hintergrund der eher zurückhaltenden Ergebnisse der Studie ist diese Quote jedoch kritisch zu hinterfragen. Es gilt insbesondere zu berücksichtigen, dass nicht alle Menschen in Bangladesch einzig und allein wegen des Mikrokredits die Armutsgrenze hinter sich lassen konnten. Auch externe, unberücksichtigte Faktoren oder institutionelle Änderungen können eine Rolle gespielt haben und der Auslöser für die Armutsbeseitigung sein.
Bei der Betrachtung des Ziels der nachhaltigen Armutsreduktion lassen sich auf Basis der Ausführungen der vergangenen Kapitel verschiedene Gefahren und Grenzen der Mikrokreditidee identifizieren. Der Rückzahlungszwang schafft eine ethisch fragwürdige Situation für die Kreditnehmerinnen, da der soziale und psychische Druck das Wohlergehen sowie die freiheitliche Entfaltung der Menschen negativ beeinflusst. Mit diesem Argument geht einher, dass die zu starren, wöchentlichen Rückzahlungsmodalitäten mögliche Erfolgschancen der Mikrokredite ausbremsen, da manche Investitionen nicht ab dem ersten Tag gewinnbringend sein können und eine gewisse Vorlaufzeit benötigen. Ähnliches gilt für die geringen Auszahlungsbeträge der Mikrokredite, da die ohnehin schon unrentablen und kleinen Geschäftsvorhaben der Armen dadurch nicht die entsprechende Möglichkeit für eine radikale und langfristige Änderung erhalten. Eine Erhöhung der Kreditbeträge oder Umstellung des Systems würde jedoch den Grundgedanken der Mikrokredite in Frage stellen. Durch den Zwang zu einer profitablen Projektumsetzung und daran gebundenen Rückzahlung der Kredite werden armutsreduzierende Ziele wie die Verbesserungen der Bildungs-, Versorgungs- oder Gesundheitssituationen in den Hintergrund gedrängt. Abschließend soll auch nochmals die Entwicklung der Mikrofinanzbranche aufgegriffen werden. Die neoliberalistischen und profitorientierten Ansätze, die sich unter anderem durch westliche Investoren ergeben, verletzen den grundlegenden Zweck der Armutsreduktion erheblich. Die Geschichte oder das Schicksal der Armen wird genutzt, um attraktive Marketing- und Portfoliostrategien mit hohen Renditen zu schaffen. Diese vielseitigen Kritikpunkte sollen verdeutlichen, welche Bedingungen der Mikrokredite womöglich am hinderlichsten sind, um den Kampf gegen die Armut mit diesem Instrument gewinnen zu können.

4. Der Weg zur Direktzahlung

Grundsätzlich mangelt es zur schlussendlichen Beurteilung der Mikrokreditidee an vergleichbaren Alternativen. Die Mikrokredite weisen offensichtliche Vorteile gegenüber den Praktiken informeller Geldverleiher oder der in Folge von Korruption teils wirkungslosen, institutionellen Entwicklungshilfe auf, aber um die nachhaltige Wirksamkeit zur Armutsreduktion weitergehend beurteilen zu können, bedarf es einer konzeptionell, ähnlichen Alternative, die zudem empirische Anhaltspunkte für einen Vergleich bietet (vgl. Duvendack 2014: 39). Zu diesem Zweck soll im Folgenden die Funktionsweise und Wirkung von Direktzahlungen dargestellt werden. Die utopisch wirkende Grundidee, jedem Menschen – insbesondere den Allerärmsten – auflagenfrei Geldschenke zukommen zu lassen, ähnelt einem bedingungslosen Grundeinkommen. Da in den letzten Jahren selbst im europäischen Politikkontext die Diskussionen über die Vorteile eines bedingungslosen Grundeinkommens aufkeimen, lässt sich festhalten, dass diese Idee vielleicht grundsätzlich gar nicht utopisch ist. (Vgl. Bregman 2020: 38f.)
Die Beweggründe für die Förderung der Allerärmsten durch solche Direktzahlungen beruht auf derselben Annahme wie bei den Mikrokrediten, dass die in Armut lebenden Menschen in die Lage versetzt werden sollen, sich selbst die beste Hilfe zu leisten und Entwicklungsarbeit an der Basis zu beginnen. Dem prognostizierten Erfolg liegen vier erwartete Annahmen zugrunde: 1. Haushalte verwenden Geld umsichtig, 2. Verringerung der Armut, 3. Einkommen steigen, 4. Die Programme sind kostengünstig. (Vgl. Bregman 2020: 38f.)
Die Grundidee der Direktzahlung ist denkbar einfach: Die Allerärmsten erhalten eine immaterielle Förderung in Form von auflagenfreien, kleineren Geldbeträgen, ohne dass ein fester Verwendungszweck des Geldes vorgeschrieben oder eine Rückzahlung verlangt wird. Durch die Einfachheit der Zahlung entstehen nur geringe Transaktionskosten und das Geld erreicht den Empfänger ohne Umwege oder Einschränkungen, sodass über 90 Prozent der investierten Gelder den Allerärmsten direkt zufließen. In diesem Zusammenhang gilt es die US-amerikanische NGO GiveDirectly hervorzuheben, die eben solche Direktzahlungsprogramme in Kenia seit 2011 initiierte und in den folgenden Überlegungen eine zentrale Rolle einnimmt. (Vgl. Witte/Milhahn 2017)

4.1 GiveDirectly und Studien in Kenia

Die NGO GiveDirectly wurde im Jahr 2009 gegründet und wird geleitet durch frühere Wirtschaftsstudenten der US-amerikanischen Universitäten MIT und Harvard. Die derzeitige Finanzierung der Organisation basiert auf Spendengeldern, die unter anderem von Konzernen wie Google stammen. Seit 2011 ist GiveDirectly mit Direktzahlungsprogrammen in Kenia aktiv und überwacht bzw. kontrolliert die Programme und Erfolge mit Hilfe eigener RCT.
Eine Voraussetzung für den Erhalt der Direktzahlung von GiveDirectly ist, dass die kenianischen Haushalte zu Beginn der Förderung in einer Strohhütte wohnen und kein Metalldach besitzen. Diese Auswahl beruht auf der Annahme, dass mit Hilfe dieses Kriteriums möglichst Haushalte identifiziert werden, die zur Gruppe der Allerärmsten gehören. Eine weitere Bedingung stellt das M-Pesa System dar, welches den Besitz eines Handys voraussetzt. Mit Hilfe dieses Systems ist es möglich, ohne ein Bankkonto Geld via SMS zu empfangen und an bestimmten Stellen abzuholen, ohne dass weitere Gebühren anfallen. Die Empfänger beziehen so per Überweisung von GiveDirectly insgesamt 404 USD bzw. 25.200 Kenianische Schilling (KES). (Vgl. Haushofer/Shapiro 2016: 1978f.; Witte/Milhahn 2017)
Wie bereits in einem vorherigen Kapitel beschrieben, bieten RCT einen zuverlässigeren und wichtigen Ansatz zur experimentellen Wirkungsmessung auch außerhalb von Laboren. Auf dieser Grundlage wurden nach dem Zufallsprinzip 503 Haushalte ausgewählt, welche Förderungen erhalten sollen und zusätzliche 505 Haushalte, die ungefördert als Kontrollgruppe dienen. Eine erste Auswertung der Studien erfolgte neun Monate nach Beginn der Transferzahlungen und eine zweite langfristige Auswertung drei Jahre nach Beginn. GiveDirectly formulierte im Zusammenhang mit der Studie folgende Zielkategorien, die im Kern beobachtet werden sollten: Wert der Verbrauchsgüter und langlebigen Anlagegüter, Einkommen, Gesundheit, Ernährungssicherheit, Bildung, Stärkung der Rolle der Frau und psychologisches Wohlergehen in Zusammenhang mit dem Stresshormon Cortisol. (Vgl. Haushofer/Shapiro 2016: 1974f.) Die in diesem Zusammenhang zu messenden Variablen wurden auf Basis von Umfragen bei den entsprechenden Haushalten überprüft und erfasst. Bei den monetären Variablen wurden die Wertentwicklungen in USD bzw. in Prozent festgehalten. Die weichen Effekte, wie bspw. das psychologische Wohlergehen, wurden mit Hilfe von Indizes gemessen und eingeordnet. (Vgl. Haushofer/Shapiro 2016: 1986-1990)
Weiterhin legte GiveDirectly den Untersuchungen drei verschiedene Studiendesigns zugrunde. Als erstes Studiendesign wurde der Vergleich zwischen Frauen und Männern als Empfänger der Transferleistungen gewählt. Auch an dieser Stelle wurde das Zufallsprinzip verwendet, ob der Mann oder die Frau im Haushalt das Geld zur Verfügung gestellt bekamen. Ein weiteres Design bildet die Gegenüberstellung, ob die Überweisung in einer einmaligen Summe oder als monatliche Zahlung erfolgte. In diesem Zuge erhielten etwa die Hälfte der geförderten Haushalte eine einmalige Zahlung in Höhe von 25.200 KES und die andere Hälfte in einem Zeitraum von neun Monaten Zahlungen in Höhe von 2.800 KES monatlich. Beim dritten Studiendesign wurde die Höhe der Auszahlungen variiert. Dadurch sollte messbar werden, ob der gewählte Betrag von 25.200 KES ausreichend ist oder ob ein Betrag in Höhe von 70.000 KES den Haushalten einen bedeutend größeren Nutzen zukommen lässt. Zu diesem Zweck wurden 137 Haushalte im Jahr 2012 per Zufallsprinzip ausgewählt und erhielten nachträglich den höheren Betrag. (Vgl. Haushofer/Shapiro 2016: 1980f.)
Nach dieser einführenden Darstellung über die untersuchte Organisation GiveDirectly und die gewählten Studiendesigns soll in den folgenden Ausführungen tiefergehend auf die Ergebnisse der ersten Studie und der zweiten, längerfristigen Studie eingegangen werden. Dabei sollen anhand der wirtschaftlichen Faktoren und der Lebensqualität die Wirkungen und Vorzüge der Direktzahlungen hervorgehoben werden.

4.2 Wirkungen von Direktzahlungen

Das Grundkonzept der Direktzahlungen von GiveDirectly scheint für die Menschen in Kenia recht einfach und förderlich. Durch die direkte Auszahlung an die Menschen via M-Pesa erreicht dieses Instrument die größtmögliche Effizienz und übergeht dabei Gefahren wie Korruption in den Empfängerländern. Zudem entspricht der durchschnittliche Transfer von 709 USD einem Vielfachen des gewöhnlichen Jahreseinkommens der Haushalte und ist an keinerlei Auflagen geknüpft. Folgend soll betrachtet werden, welche Ergebnisse und Erfolge aus materieller und immaterieller Sicht die RCT in Kenia lieferten. (Vgl. Witte/Milhahn 2017)
Zunächst sollen die Ergebnisse in Bezug auf die materielle und wirtschaftliche Wirkung der Direktzahlungen dargestellt werden. Das Anlagevermögen bzw. der Wert der langlebigen Güter stiegen in den geförderten Haushalten in Kenia um 61 Prozent an. Das entspricht einem Gegenwert von 302 USD, die vom Transfer direkt für die Anschaffung langlebiger Gegenstände verwendet wurden. Der Großteil dieser Anschaffungen bezieht sich auf die häusliche Ausstattung, sodass hauptsächlich in Metalldächer investiert wird. Der Ausbau eines Strohdachs hin zum Metalldach erfordert zunächst hohe Kosten, ist aber vor allem eine nachhaltige Investition. Die jährlichen Kosten zur Reparatur eines Strohdachs betragen etwa 101 USD und bleiben den Haushalten in der Folge erspart. Die Haushalte erhalten zwar keine sofortigen Gewinne aus der Anschaffung, aber erzielen schnell einen höheren Nutzen und generieren zukünftigen, finanziellen Spielraum. (Vgl. Haushofer/Shapiro 2016: 2020ff.)
Ähnlich der Beobachtungen bei der Spandana Bank Studie von Banerjee & Duflo stellte GiveDirectly bei den Konsumausgaben ebenso fest, dass das erhaltene Geld nicht in den Kauf von Alkohol oder Tabak floss. Insgesamt stiegen die Konsumausgaben bzw. Ausgaben für nicht-haltbare Güter um 23 Prozent an. Über die Hälfte der gesamten Ausgaben für diese Güter in Höhe von 36 USD entfallen auf den Konsum von Nahrungsmitteln (19 USD). (Vgl. Haushofer/Shapiro 2016: 2016f.) Im Einklang mit diesen absoluten Zahlen verbesserte sich auch der Index für Ernährungssicherheit der geförderten Haushalte deutlich um 26 Prozent. Es ist also davon auszugehen, dass die Transfersummen von den Menschen durchaus bewusst zunächst für die Befriedigung der Grundbedürfnisse verwendet werden (vgl. Haushofer/Shapiro 2016: 1998). Die Ausgaben der Haushalte für Medikamente und die gesundheitliche Versorgung stiegen um 3 USD. Die Höhe dieser Investition erscheint eher gering zu sein, aber es gilt die Feststellung, dass selbst geringe Beträge große Wirkungen erzielen können, da die 3 USD bereits einem Anstieg von 38 Prozent im Vergleich zur Kontrollgruppe entsprechen. Dasselbe gilt für die Bildungsausgaben, die lediglich um einen USD anstiegen, aber einer prozentualen Steigerung von 23 Prozent gleichzusetzen sind. Die Direktzahlungen begünstigen somit die Gesundheitsvorsorge und Bildung der Allerärmsten. Diese Verbesserungen sind im Kampf gegen die Armut zwei wichtige Bausteine, die es immer zu berücksichtigen gilt. (Vgl. Haushofer/Shapiro 2016: 2016f.) Die Auswirkungen des Geldtransfers auf die Einkommen der Menschen aus landwirtschaftlicher oder gewerblicher Arbeit waren ebenso signifikant. Das monatliche Einkommen stieg um 33 Prozent und lässt den Schluss zu, dass die Menschen durch die erhaltenen Geldgeschenke nicht weniger arbeiten, sondern sogar mehr Einkommen generieren. Aufgrund dessen kann die Vermutung aufgestellt werden, dass eine grundsätzliche, finanzielle Entlastung beim tagtäglichen Kampf um das Überleben den Menschen in extremer Armut die Chance einräumt, ihre Qualifikation und Arbeitskraft effektiver nutzen zu können. (Vgl. Haushofer/Shapiro 2016: 2022)
Die immateriellen, nicht rein ökonomischen Variablen der Studie wurden, wie bereits beschrieben, mit Hilfe von Indizes gemessen und eingeordnet. Die daraus resultierenden Ergebnisse, die auch Ausblicke auf die menschliche Psyche erlauben, sind womöglich die wichtigsten Erkenntnisse der Studien von GiveDirectly. Die NGO formulierte die Hypothese, dass die Direktzahlungen das psychologische Wohlergehen grundlegend verbessern und Stresshormone abgebaut würden. Gemäß den Studien stieg der Index für geistiges Wohlergehen tatsächlich um 26 Prozent an. Die größten Verbesserungen konnten in diesem Zusammenhang bei den Variablen Glück, Lebenszufriedenheit und Abbau von Stress festgestellt werden. Das Stresslevel der Befragten hat sich in Folge der Direktzahlungen um 26 Prozent vermindert. Einen besonderen Ansatzpunkt bietet dabei das Stresshormon Cortisol, welches von GiveDirectly speziell untersucht wurde. Auch hier waren bei der ersten Studie positive Effekte zu erkennen, aufgrund der Kürze der Zeit jedoch noch nicht in gewünschter Höhe. (Vgl. Haushofer/Shapiro 2016: 2010f.)
Die verschiedenen Studiendesigns ermöglichten zudem einen Vergleich zwischen Haushalten, in denen Frauen das Geld erhielten und Haushalten mit Männern als Empfängern. Wenn Frauen die Empfängerinnen der Leistungen waren, vergrößerte sich der Effekt des besseren, psychologischen Wohlergehens. Es wurde zudem eine Korrelation zwischen dem gestiegenen Wohlergehen und der Stärkung der Rolle der Frau sichtbar. Die Frauen gaben an, dass aufgrund der gestiegenen Verantwortung und des höheren Selbstwertgefühls ein sorgenfreieres und emanzipierteres Leben möglich ist. Die Frauen wiesen ebenso deutlich geringere Cortisolwerte im Blut auf. (Vgl. Haushofer/Shapiro 2016: 2013f.) Weiterhin wird die allgemeine These gestützt, dass Frauen als Empfängerinnen von Geldleistungen der Bildung der Kinder und der familiären Fürsorge eine größere Beachtung schenken. So konnte festgestellt werden, dass in Haushalten mit weiblichen Begünstigten größere Ausgaben für Kinder, Bildung und Nahrungsmittel getätigt wurden. (Vgl. Haushofer/Shapiro 2016: 2019)
Auch im Kontext des Vergleichs zwischen niedrigen und hohen Auszahlungsbeträgen lassen sich wichtige Erkenntnisse ableiten. Je höher der erhaltene Betrag war, desto mehr verbesserte sich auch das psychologische Wohlergehen. Die Haushalte, die insgesamt 70.000 KES bezogen haben, hatten deutlich niedrigere Cortisolwerte und einen insgesamt gesteigerten Indexwert für geistiges Wohlergehen. Daraus resultiert die Schlussforderung, dass der psychologische Wert des Geldes zunimmt, wenn die Beträge steigen und die Sorgen verschwinden. (Vgl. Haushofer/Shapiro 2016: 2015) Analog dazu haben die Haushalte, welche höhere Direktzahlungen erhalten haben, natürlich auch mehr Geld für langlebige und konsumorientierte Güter ausgegeben und höhere Einkommen generiert. Es gilt demnach nicht außer Acht zu lassen, dass höhere Geldbeträge größere positive Effekte auslösen und den größtmöglichen Nutzen für die Empfänger schaffen. (Vgl. Haushofer/Shapiro 2016: 2019) Die Unterscheidung, ob der Betrag ratenweise oder einmalig ausgezahlt wird, nahm keinerlei Einfluss auf den Wohlstand oder das psychologische Wohlergehen der beobachteten Haushalte.
Die zweite Studie von GiveDirectly kennzeichnet sich durch dasselbe Studiendesign und dieselben betrachteten Haushalte wie bei der ersten Studie. Durch den Zeitraum von drei Jahren nach erfolgter Direktzahlung soll allerdings das langfristige und nachhaltige Fortbestehen der Verbesserung geprüft werden. Die größte Erkenntnis der zweiten Studie ist, dass die Verbesserungen sowohl im materiellen als auch psychologischen Bereich tatsächlich von dauerhafter Natur sind. Nach drei Jahren betrug der Wert der langlebigen Güter und des Anlagevermögens 416 USD im Vergleich zu den 302 USD nach neun Monaten. Auch die Konsumausgaben stiegen von 36 USD weiter auf 47 USD, was mit einem weiteren Anstieg mit dem Ernährungssicherheitsindex einhergeht. Auch die Ausgaben für Bildung und Erziehung der Kinder stiegen weiter an. Mindestens genauso wichtig ist es jedoch festzuhalten, dass das psychologische Wohlergehen und die emanzipatorische Wirkung nach wie vor deutlich besser sind als in den ungeförderten Kontrollhaushalten. Besonders hervorzuheben ist die Tatsache, dass nun auch messbar wurde, dass bspw. die häusliche Gewalt in den geförderten Haushalten deutlich zurückging. (Vgl. Haushofer/Shapiro 2018: 2f.)
Um einer ganzheitlichen Betrachtung gerecht zu werden, gilt es jedoch hervorzuheben, dass auch die Direktzahlungsidee an Grenzen stößt. Die Finanzierung des Konzepts beruht einzig und allein auf Spendengeldern und somit unterliegt die Durchführbarkeit einer ständigen Abhängigkeit von den Spendern bzw. Geldgebern. Sowohl den Empfängern in Kenia als auch allgemein der NGO wird keine Gewinnorientierung oder projektorientierte Selbstfinanzierung auferlegt, sodass der Erfolg der Idee immer an den Fortbestand externer Kapitalflüsse gebunden ist. Die Spenden folgen lediglich dem Gedanken des wohltätigen Zweckes und bieten außer der sozialen Tragweite keine Anreize für die Spendenden. Die Folgen dieser Finanzierungsproblematik stellen sich in den Dimensionen Anzahl der Empfänger und Höhe der Auszahlungen dar. Die Auszahlungen repräsentieren zwar ein Vielfaches des gewöhnlichen Jahreseinkommens für die geförderten Haushalte, aber aufgrund des steigenden Nutzens bei der Variation der Höhe der Auszahlung lässt sich die Vermutung aufstellen, dass bei größeren Beträgen noch mehr zukunftsorientierte Wirkungen erwartet werden können (vgl. Haushofer/Shapiro 2016: 2019). Da in der gewählten Studie von GiveDirectly bspw. nur rund 500 Personen gefördert wurden und somit eine Versorgung wie bei den Mikrokrediten mit mehreren Millionen Kreditnehmerinnen nicht erreicht wird, sind die sogenannten Spillover-Effekte für die Direktzahlungsidee von vorrangiger Bedeutung. Das bedeutet, dass von einer geförderten Person in einem Dorf mehrere Personen profitieren, obwohl diese nicht unmittelbar gefördert werden. Dieses intendierte Ziel von GiveDirectly zielt vor allem darauf ab, mit der gezielten Nutzung der Spendengelder den Kreis der Geförderten maximal zu gestalten. Jedoch blieben weitgreifende ökonomische Spillover-Effekte in den untersuchten Dörfern aus. Das heißt, dass der materielle Wohlstand und das Einkommen für die unmittelbar Geförderten zwar anstiegen, aber keine generelle Wohlstandsverbesserungen im Umfeld entstanden. Somit kann die Direktzahlung sowohl wegen der kleinen Anzahl geförderter Personen als auch der ausbleibenden Spillover-Effekte keine derart flächendeckende Wirkung im Sinne der Armutsreduzierung schaffen. (Vgl. Haushofer/Shapiro 2018: 30)
Trotz der zuletzt genannten Limitation der Direktzahlungsidee bietet sich aufgrund des guten Studiendesigns und der umfangreichen Dokumentation auf Basis der vorherigen Ausführungen die Möglichkeit, ein qualifiziertes Urteil zur Direktzahlungsidee zu bilden. Mittels einer unbürokratischen und sehr kostengünstigen Konzeption gelangen die Direktzahlungen auf dem direktesten, effektivsten Weg zu den Menschen in extremer Armut. Dabei wird aus den Studienergebnissen ersichtlich, dass zudem ein hoher Wirkungsgrad auf den beiden Ebenen materieller Wohlstand und psychologisches Wohlergehen erreicht wird. Mit der Grundlage der gewonnenen Erkenntnisse lässt sich nun ein gewünschter Vergleich der Alternativen Mikrokredit und Direktzahlungen anstreben.

4.3 Kritische Würdigung

Die Gegenüberstellung zweier Alternativen, in diesem Fall Mikrokredite oder Direktzahlungen, benötigt im Kern das Vorliegen verwertbaren Datenmaterials. Die Messbarkeit von Mikrokrediten stellt im Vergleich zu den Direktzahlungen von GiveDirectly jedoch eine große Herausforderung dar. Aus diesem Grund kann der folgende Vergleich nicht nach dem Schema „Alternative A ist um x Prozent besser oder effektiver als Alternative B“ erfolgen, sondern muss vielmehr argumentativ und teils auch spekulativ aufgebaut werden. Zudem dürfen bei den Direktzahlungen mögliche negative Begleitfaktoren oder Herausforderungen nicht gänzlich außer Acht gelassen werden.

4.3.1 Direktzahlungen vs. Mikrokredit

Wie bereits ausführlich dargelegt wurde, gab es lange Zeit keine empirisch haltbaren Studienergebnisse zu den Wirkungen von Mikrokrediten. Die RCT von Banerjee und Duflo bei der indischen Spandana Bank belegte grundsätzlich, dass Mikrokredite die Geschäftsaktivität der Kreditnehmer förderten. Weitere Einflüsse auf maßgebliche Faktoren, die im Rahmen der Armutsbeseitigung zu berücksichtigen sind, konnten jedoch nicht belegt werden. In diesem Zusammenhang seien vor allem die Bausteine Gesundheit, Bildung oder geistiges Wohlbefinden zu nennen, da diese im Kontext der Wohlstandsbeurteilung ebenso ausschlaggebend sind wie das wirtschaftliche Einkommen. Möglicherweise lassen sich experimentähnliche Bedingungen im gesellschaftlichen Umfeld nicht so gut wie in einem Labor herstellen. Dies könnte eine bessere Messbarkeit der immateriellen Effekte von Mikrokrediten erschweren. Die ausbleibenden Erfolge von Mikrokrediten in der empirischen Datensammlung könnten demnach eine Schwäche des Forschungsdesigns und unabhängig von den Ausstattungsmerkmalen der Mikrokredite sein. Andererseits bieten die Studienergebnisse von GiveDirectly sowohl Datensätze zu materiellen als auch immateriellen Indikatoren an und liefern positive Daten. Entweder wurde also das Studiendesign von GiveDirectly besser gewählt oder die Erfolge der Direktzahlungen sind wirklich größer als die der Mikrokredite. (Vgl. Duvendack 2014: 38-41)
Der größte Unterschied zwischen der Mikrokredit- und der Direktzahlungsidee ist zweifelsohne die Stellung von Auflagen bei der Auszahlung. Muhammad Yunus begründet sein Konzept vor allen Dingen mit dem Geschäftssinn und dem Potenzial der Menschen in extremer Armut. Seine Kredite sollen als projekt- und geschäftsorientierte Zahlungen fungieren und den Menschen durch die wöchentliche Rückzahlungspflicht einen Anreiz liefern, zu erfolgreichen Geschäftsleuten zu werden. So distanziert sich Yunus auch davon, das Geld auflagenfrei zu verschenken. (Vgl. Spiegel 2012: 55ff.)
„Wenn die Menschen wissen, dass Unterstützung ‚gratis‘ erhältlich ist, neigen sie dazu, ihre Energie und ihre Fähigkeiten darauf zu verwenden, an diese ‚Gratisleistungen‘ heranzukommen, anstatt sie zu nutzen, um eigenständig etwas zu bewerkstelligen. Almosen fördern die Abhängigkeit, statt die Menschen zur Selbsthilfe anzuspornen und ihr Selbstvertrauen zu stärken.“ (Yunus 2008: 140)
Die Begünstigten einer Direktzahlung erhalten eben jene Gratisleistungen unmittelbar und auflagenfrei, das heißt, ohne dass eine Rückzahlung verlangt oder eine bestimmte Verwendung des Geldes vorgeschrieben wird. Die Ergebnisse der im vorherigen Kapitel dargestellten Studien signalisieren jedoch keine einschränkende Wirkung von Geldgeschenken (vgl. Haushofer/Shapiro 2016: 2026). Ganz im Gegenteil: Es lässt sich behaupten, dass die armutsreduzierenden Ziele, die die Menschen im Sinne der Selbsthilfe verfolgen sollten, auf der Strecke bleiben, wenn MFI Vorgaben an die Verwendung knüpfen und eine fristgerechte Rückzahlung als Motivation und Erfolgsgarant einsetzen (vgl. Banerjee/Duflo 2019: 229f.). Dies kann unter anderem ein Grund sein, warum GiveDirectly Verbesserungen in den Bereichen der Gesundheits- und Bildungsausgaben feststellen konnte, aber bei Mikrokrediten keinerlei empirische Daten zu diesen Bereichen vorliegen. Lediglich 3 USD reichten in den kenianischen Haushalten aus, um eine 38-prozentige Steigerung der Gesundheitsausgaben auszulösen. (Vgl. Haushofer/Shapiro 2016: 2017) Es besteht die Vermutung, dass bei Mikrokrediten die Bedeutung von Gesundheitsvorsorge in den Hintergrund rückt, wenn die Kreditnehmer lediglich damit beschäftigt sind, die Projekte umzusetzen und die Rückzahlungen sicher zu stellen. Ebenso finden sich im Zusammenhang mit Mikrokrediten keinerlei Daten zur Verbesserung der Ernährungssicherheit der Menschen im Gegensatz zu dem 26-prozentigen Anstieg bei den Direktzahlungen. (Vgl. Haushofer/Shapiro 2016: 1998; Banerjee/Duflo 2019: 226) Bemerkenswerterweise ist weder bei Mikrokrediten noch bei Direktzahlungen zu erkennen, dass die Menschen das erhaltene Geld verschwenderisch einsetzen oder Konsumgüter wie Tabak oder Alkohol erwerben. Das bedeutet, dass die Armen ihre erhaltenen Mittel umsichtig und sinnvoll verwenden und dass grundsätzlich die Förderung an der Basis der richtige Weg ist. (Vgl. Haushofer/Shapiro 2016: 2026; Banerjee/Duflo 2019: 226)
Neben diesen Hemmnissen bei der Armutsbekämpfung mit Hilfe von Mikrokrediten soll nochmals vertiefend die psychologische Komponente aufgegriffen werden. Die zwanghafte Verpflichtung zur Rückzahlung sowie der soziale Druck innerhalb der Kreditgruppen stellen wie bereits beschrieben eine hohe psychische Belastung dar und können schlimmstenfalls bis hin zum Selbstmord führen (vgl. Klas 2014: 76; Banerjee/Duflo 2019: 231f.). Die Kreditnehmerinnen befürchten zu vielen Zeitpunkten, dass ausbleibender unternehmerischer Erfolg und somit ausbleibende Rückzahlungen soziale Sanktionen nach sich ziehen können. Nicht der Kampf um das tägliche Überleben mit knappen Mitteln steht nun im Vordergrund, sondern vielmehr der wöchentliche Zwang mit knappen Mitteln die Rückzahlungen sichern zu können. Diese psychische Belastung kann aus ethischer Sicht hinterfragt werden, da die gewünschten, hohen Rückzahlungsquoten ein neues Abhängigkeitsverhältnis zwischen Bank und Kreditnehmer schaffen und damit keine Hilfe zur Selbsthilfe sein können. (Vgl. Banerjee/Duflo 2019: 220f.) Durch den neuartigen Untersuchungsansatz bezüglich des Stresshormons Cortisol und des Index für geistiges Wohlergehen bei den Studien von GiveDirectly wird deutlich, wie wichtig das psychologische Wohlergehen ist und welche befreiende Wirkung eine Ausweitung des engen, finanziellen Spielraums eigentlich mit sich bringen könnte (vgl. Haushofer/Shapiro 2016: 2010). Eine mögliche Entzerrung der starren Rückzahlungsmodalitäten von Mikrokrediten zeigte in einer vorangegangenen Untersuchung in Indien, dass die Kundenzufriedenheit auch deutlich anstieg (vgl. Banerjee/Duflo 2019: 229f.). Auf Basis dieser Erkenntnisse lässt sich die These formulieren, dass je weniger Druck die Menschen nach Erhalt des Geldes erfahren, desto höher die Lebensqualität und desto niedriger das Stresslevel sein kann.
Ein grundlegender Unterschied zwischen den beiden vorgestellten Ideen bzw. Konzeptionen liegt in der Aufbauorganisation. Da GiveDirectly eine rein spendenbasierte Organisation ist, steht vor allem die Effizienz des Transfers im Mittelpunkt und Gewinnziele oder Investoreninteressen bleiben außen vor. Das bedeutet, dass sowohl die Verwendung der Spendengelder durch die NGO als auch der Geldtransfers an die Menschen in Kenia an keinerlei Auflagen wie Gewinnoptimierung oder Renditeerzielung gebunden sind und zielgerichtet dem sozialen, nachhaltigen Zweck der Armutsreduktion gewidmet werden. (Vgl. Witte/Milhahn 2017) MFI agieren hingegen finanziell selbsttragend bzw. getragen durch Investoren. Dieser Organisationsstruktur steht jedoch die bereits umrissene Gefahr des Interessenskonflikts entgegen. Die ausländischen Geldgeber sind vornehmlich an Rendite interessiert und nutzen die Geschichten der geförderten Menschen lediglich als Marketinganreiz für soziale Investments, sodass das ursprüngliche Ziel der Armutsbekämpfung in den Hintergrund gerät. (Vgl. Mader 2013: 46) Im Gegenzug ermöglicht die Unternehmensstruktur der MFI eine flächendeckendere und in absoluten Zahlen größere Versorgung der Menschen mit Geldleistungen als die Direktzahlungen. Ein intendiertes Ziel von GiveDirectly war es daher, sogenannte Spillover-Effekte zu generieren. Die Spillover-Effekte blieben jedoch in materieller, finanzieller Sicht zunächst aus und es konnten keine Wohlstandsverbesserungen außerhalb des geförderten Personenkreises festgestellt werden. Anhand der Studienergebnisse lässt sich jedoch spekulieren, ob solche positiven Wirkungen vielleicht erst zeitverzögert sichtbar werden und eine gewisse Zeitspanne zur Entwicklung benötigt wird. (Vgl. Haushofer/Shapiro 2018: 30)
Die Spillover-Effekte schlugen sich in den Studien lediglich in puncto Emanzipation und Förderung der Frauen nieder (vgl. Haushofer/Shapiro 2016: 2003). Ebenso waren die generationsübergreifenden Effekte erkennbar, da ähnlich wie beim Mikrokredit die Frauen hauptsächlich um das Wohl und die Ausbildung der Kinder bemüht sind (vgl. Haushofer/Shapiro 2016: 2019). Das bedeutet, dass der von GiveDirectly und der Grameen Bank gewählte Weg, Frauen als Adressaten von Geldleistungen einzusetzen, insgesamt als positiver Effekt hervorzuheben ist. Frauen sind verlässlicher und umsichtiger bei der Verwendung der erhaltenen Gelder und betrachten dabei das Wohl mehrerer Generationen. (Vgl. Yunus 2008: 67; Haushofer/Shapiro 2016: 2013f.)
Ein Hindernis, welches sowohl bei Direktzahlungen als auch Mikrokrediten auftritt, zeigt sich bei der Höhe der Zahlung. Die Studien von GiveDirectly offenbarten, dass mit zunehmender Höhe der Beträge auch der Nutzen aus dem Geld weiter anstieg und vor allem Stress reduziert wurde. Dies erlaubt die Schlussfolgerung, dass Beträge über 400 USD den Zweck der Armutsreduktion und Verbesserung des Wohlstands noch zielführender erfüllen würden. (Vgl. Haushofer/Shapiro 2016: 2026) Ein ähnliches Bild zeichnet sich bei der Betrachtung der Mikrokredite ab, da oftmals die Kreditbeträge zu gering sind, um langfristige und große Vorhaben umsetzen zu können. Die Unterstützung der Geschäfte der Armen mit kleinen Beträgen wird so meist nur als Ausbau der bereits vorhandenen, unrentablen Basarwirtschaft bezeichnet. Die Allerärmsten erwirtschaften nur kleine Gewinne aus Kleinstbetrieben und der Sprung zu weitreichenderen Geschäftsvorhaben ist zu groß. (Vgl. Banerjee/Duflo 2019: 278f.) Dies resultiert unter anderem aus den mangelhaften wirtschaftlichen Strukturen in den Empfängerländern sowie aus der fehlenden Qualifikation der Menschen. An diesem Punkt muss die Ausbildung der Menschen vor Ort in den Vordergrund gestellt werden, denn nur mit Hilfe von Bildungsangeboten kann eine langfristige Entwicklung angestrebt werden, sodass die Geschäftsaktivität und das Know-How vor Ort verbessert werden können. Das bedeutet aber auch, dass weder der Mikrokredit noch die Direktzahlung das Problem mangelhafter Wirtschaftsstrukturen oder Bildungsangeboten aufbrechen kann. Beide Instrumente können nur Teil eines Gesamtpakets der Entwicklungshilfe sein, in dem auch die generellen Strukturen gestärkt werden. (Vgl. Banerjee/Duflo 2019: 234f.; Mader 2013: 45)
Eine ähnliche Problematik offenbart sich im Kontext der Staatsdimension und Verantwortung der Politik in den Entwicklungsländern.
„Die Grameen Bank bezeichnet Mikrokredite als Menschenrecht. Genau hier liegt ein zentrales Problem: Mikrokredite ersetzen in Bangladesch die Umsetzung von Menschenrechten und entlassen den Staat aus seiner Fürsorgepflicht.“ (Rahaman 2014: 59)
Diese Aussage lässt sich im erweiterten Sinne auch auf die Direktzahlungen anwenden. Mikrokredite und Direktzahlungen sind sowohl der direkteste als auch effizienteste Weg, Entwicklungshilfe an der Basis zu beginnen und den Menschen die maximale Förderung zuteilwerden zu lassen, da erhebliche Hemmnisse wie Korruption umgangen werden können (vgl. Banerjee/Duflo 2019: 305f.; Witte/Milhahn 2017). Ebenso wichtig ist es jedoch, nicht nur die Menschen zu einem besseren Leben zu befähigen, sondern auch die Nachhaltigkeit durch institutionelle Rahmenbedingungen abzusichern. Die Vergabe der Gelder ermöglicht den Menschen eine Entbindung vom Staat und einen Weg zur Selbsthilfe, aber löst grundsätzlich nicht das Problem der Verletzung von Menschenrechten oder fehlender demokratischer Strukturen in den Entwicklungsländern. (Vgl. Rahaman 2014: 58ff.) Beim Ziel der Armutsbeseitigung müssen bei der Förderung der Menschen materielle und immaterielle Faktoren bedacht werden, die Verantwortung des Staats und stabile politische Systeme müssen aber ebenso Teil der Entwicklungspolitik im Sinne des Kampfes gegen die Armut sein.
Eine wichtige Erkenntnis der vorangegangenen Ausführungen sollte demnach die Feststellung sein, dass Entwicklungshilfe an der Basis den direktesten Weg aus der Armut bietet, aber beide vorgestellten Instrumente nur Teil eines Maßnahmenbündels im Kampf gegen die Armut sein können. Die Studienergebnisse von GiveDirectly zeigen empirisch gestützt, dass Direktzahlungen ein nachhaltiges Mittel zur Armutsreduktion sind. Im Gegensatz zu Mikrokrediten ermöglichen sie auflagenfreie und bedarfsorientierte Wege für die Menschen aus der extremen Armut und berücksichtigen dabei vielseitigere Faktoren als die rein unternehmerische Ausrichtung der Mikrokredite. Sowohl Direktzahlungen als auch Mikrokredite müssen jedoch kritisch bezüglich der Reichweite betrachtet werden, da die meist kleinen Beträge zu wenige langfristige Entwicklungsperspektive für die Menschen schaffen. Dies sollte eine der wichtigsten Stellschrauben bei der Weiterentwicklung beider Ideen sein, um nicht nur den Geldbedarf zu identifizieren, sondern die optimale Höhe zu antizipieren. Beide Ideen beruhen auf der Förderung der Frauen in den Entwicklungsländern, beweisen diesbezüglich große Erfolge und sollten eine Richtungsvorgabe für effizientere Ressourcenallokation sein. Die Direktzahlungen sind auf Basis der Aufbauorganisation ethisch deutlich vertretbarer und in ihrer Wirkung somit auch sozialer und nachhaltiger als Mikrokredite. Besonders soll hervorgehoben werden, dass die Studien zu den Direktzahlungen die Bedeutung der menschlichen Psyche im Kontext der Armutsbeseitigung berücksichtigen und Direktzahlungen wichtige positive Effekte auf das geistige Wohlergehen angerechnet werden können.

4.3.2 Die Psychologie des Menschen

In der vorherigen Analyse wurde neben anderen Faktoren auch die menschliche Psyche zur Beurteilung des Erfolgs von Mikrokrediten und Direktzahlungen aufgegriffen. Ohne Zweifel stehen die messbaren Verbesserungen in den Bereichen tägliches Einkommen, Vermögenswerte, Ernährungssicherheit oder Gesundheits¬vorsorge im Vordergrund, wenn die Armut flächendeckend reduziert werden soll, aber die psychologischen Elemente sollen im Zusammenhang mit dem Kampf gegen die Armut ebenso Beachtung finden.
Menschen in extremer Armut unterliegen einem tagtäglichen Druck im Kampf um das Überleben und offenbaren dabei eine grundlegende Problematik. „Sie fällen keine dummen Entscheidungen, weil sie dumm sind, sondern weil sie in einem Kontext leben müssen, in dem jedermann dumme Entscheidungen fällen würde.“ (Bregman 2020: 63) Diese Aussage ist Teil der von Eldar Shafir verfolgten Knappheitsforschung, deren Untersuchungsgegenstand die psychologische Komponente von gefühlter Knappheit für die Menschen ist. Eine andauernde Geldnot schafft kognitive Blockaden und lässt Menschen aufgrund dessen schlechtere Entscheidungen treffen. Bei einem Experiment in einem amerikanischen Einkaufszentrum ließ Shafir die befragten Personen kognitive Aufgaben lösen. Einem Teil der Personen wurde zuvor mitgeteilt, dass sie in Folge einer Autoreparatur 1.500 USD am nächsten Tag zahlen müssen. Diese Gruppe, die sich dem Druck einer höheren Geldbelastung gegenübersah, lieferte durchweg schlechtere Ergebnisse bei der Lösung der Testaufgaben im Vergleich zur Kontrollgruppe, die keine Geldnot verspürte. (Vgl. Bregman 2020: 63f.) Dieses Beispiel wirkt im Zusammenhang der Armutsbekämpfung aus dem Kontext gerissen, soll jedoch verdeutlichen, welchen kognitiven Hemmnissen Menschen in Armut Tag für Tag unterworfen sind und wie wichtig es ist, diesen Menschen durch bspw. Direktzahlungen sowohl finanziellen als auch kognitiven Spielraum einzuräumen. Die Qualität der Entscheidungen nimmt für alle Menschen zu, wenn der psychische Druck aufgrund anderer Probleme nachlässt. In Bezug auf die Mikrokredite lässt sich die These aufstellen, dass erste kognitive Blockaden durch den Erhalt des Kredits aufgebrochen werden, aber durch die Rückzahlungspflicht wiederrum neue Beschränkungen der geistigen Leistung geschaffen werden.
Die Fortführung des Gedankens, dass Stress und psychischer Druck die Produktivität und Leistungsfähigkeit der Menschen hemmen, führt erneut zu Untersuchungen des Stresshormons Cortisol. Es liegen statistische Zusammenhänge zum wechselseitigen Auftreten von erhöhten Cortisolwerten und Armut vor. Cortisol kann nachweislich die kognitiven Leistungen der Menschen beeinträchtigen, da es direkten Einfluss auf verschiedene Gehirnregionen nimmt. Nicht nur die Studien von GiveDirectly sondern auch andere Direktzahlungsprogramme in Mexiko konnten beweisen, dass durch eine finanzielle Unterstützung der Haushalte die Cortisolwerte jedoch signifikant sanken. (Vgl. Banerjee/Duflo 2019: 188f.)
Im Vergleich zwischen Mikrokrediten und Direktzahlungen spielt auch ebenso das Vertrauen der Menschen in die eigenen Entscheidungen und Fähigkeiten eine Rolle. Wenn Menschen in extremer Armut vor die Wahl gestellt werden, ob sie eine Essenslieferung oder einen Geldtransfer erhalten, entscheiden sich die Menschen größtenteils für die Essenslieferung. Begründet wird dies aufgrund des Misstrauens gegenüber der eigenen Allokation der Ressourcen. Die Menschen halten sich selbst für verschwenderisch bezüglich des Geldes und rechnen der Essenslieferung einen höheren Wert zu. Eine mögliche Erklärung dessen liefern der besagte mentale Druck und die Verunsicherung, der die Menschen ausgesetzt sind, denn empirisch ist erkennbar, dass die Menschen das Geld nicht verschwenden, z.B. für Alkohol oder Tabak, und die Ernährungssicherheit durch beide zuvor genannten Alternativen gleichermaßen verbessert wird. Wenn ein Mikrokredit eine verbindliche Rückzahlung voraussetzt, besteht die Gefahr, dass der mentale Druck wieder zunimmt, da den Menschen das Vertrauen in die eigenen unternehmerischen Fähigkeiten fehlt. Eine Direktzahlung stellt hingegen keine Anforderung und lässt die Menschen ohne Vorgaben Entscheidungen treffen, die offensichtlich auch sinnvoll und bedacht sind. (Vgl. Banerjee/Duflo 2019: 287ff.)
Im Kontext der menschlichen Psyche liegen im Kontrast zu den zuletzt genannten Faktoren jedoch zwei grundlegende, entscheidende Problemfelder vor: Informationsdefizite der Menschen und Zeitinkonsistenz. Das Problem des Informationsdefizits bietet einen Ansatz, um zu erklären, warum die Menschen in extremer Armut wissend um die möglichen Konsequenzen einen informellen Geldverleiher gegenüber Banken bevorzugen. Der Geldverleiher stellt den kürzesten Weg dar und oftmals fehlt es den Menschen vor Ort auch an Wissen bezüglich möglicher Alternativen. Daher wählen die Menschen teilweise die für sie schlechtere Option, da der Vergleich mit anderen Möglichkeiten nicht vollzogen wird. Eine ähnliche Konstellation wie bei den Geldverleihern offenbart sich immer wieder im Zusammenhang mit der gesundheitlichen Versorgung in Armutsregionen. Die Menschen schenken aufgrund mangelnder Informationen dem Dorfältesten oder dem lokalen Heilpraktiker mehr Vertrauen als Ärzten oder Hilfsorganisationen. Im Kampf gegen Malaria oder andere Krankheiten, die das Leben der Allerärmsten prägen, wäre oftmals eine bessere medizinische Aufklärung ratsam. Doch die Menschen entscheiden sich für die bekannten und bewährten Optionen, anstatt neue, effektivere Wege zu gehen. (Vgl. Banerjee/Duflo 2019: 85-90) Diese Schwäche in der menschlichen Entscheidungsfindung lässt sich ebenso auf das Phänomen der Zeitinkonsistenz übertragen. Die Menschen erkennen nicht den Mehrwert einer heutigen Handlung bezogen auf die Zukunft. Eine Impfung oder Insektenschutznetze benötigen in der Gegenwart eine Investition, liefern jedoch keine direkten Auszahlungen. Eine Impfung gegen lebensgefährdende Krankheiten erfordert in Kenia durchschnittlich eine Zahlung von 1,36 USD pro Jahr. Das Überleben der geimpften Person würde einer Familie jedoch schätzungsweise ein zusätzliches Lebenszeiteinkommen von über 3.000 USD generieren. Diese Verrechnung von solchen geringen Gegenwartskosten im Vergleich zum hohen, lebenszeitlichen Nutzen fällt dem Menschen von Natur aus jedoch schwer und der Mensch erkennt nicht den langfristigen Zugewinn auf Kosten des heutigen Aufwands. (Vgl. Banerjee/Duflo 2019: 352f.)
Die menschliche Psyche spielt eine entscheidende Rolle, wenn es Ziel sein soll, den Menschen einen Weg aus der Armut zu ermöglichen und Hilfe zur Selbsthilfe zu leisten. Es muss das Ziel erfolgreicher Entwicklungsarbeit sein, die kognitiven Blockaden aufzubrechen und Stresslevel abzubauen. Andererseits liegen in der Natur des Menschen grundsätzliche Gefahren, die Menschen überall auf der Welt in ihrer Entscheidungsbildung beeinträchtigen. Um im Sinne des geistigen Wohlergehens der Menschen ein Urteil fällen zu können, gilt es dem Grundsatz zu folgen, dass der psychische Druck für die Menschen so klein wie möglich und der Zugang zu guten Informationen und Aufklärung so groß wie möglich sein sollte.

5. Finanzierung und Umsetzbarkeit der Direkt-zahlungsidee

Die Direktzahlungsidee verkörpert im Grund nichts anderes als die Forderung nach einem bedingungslosen, auflagenfreien Grundeinkommen für die Allerärmsten. An dieser Stelle sei die Frage erlaubt, wenn im europäischen Politikkontext die Diskussion um ein bedingungsloses Grundeinkommen für Europäer bereits Thema ist, wieso findet eine solche Idee in Anbetracht der gemessenen Erfolge in Kenia bei der Gestaltung von globaler Entwicklungspolitik keine Berücksichtigung?
GiveDirectly schaffte es bis jetzt laut eigenen Angaben über 250.000 Menschen in Afrika mit Direktzahlungen zu versorgen. Da die Organisation jedoch spendenbasiert und nicht selbstfinanzierend konzipiert ist, ist eine flächendeckende Versorgung der Menschen wie bei den Mikrokrediten ohne weiteres nicht möglich. Auf der Grundlage der erworbenen Erkenntnisse der bisherigen Ausführungen kann resümiert werden, dass alleine im sub-saharischen Afrika nach wie vor über 300 Millionen Menschen in extremer Armut leben und dass ein Betrag von 500 USD pro Person bereits große Wirkungen im Kampf gegen die Armut erzielen könnte. Bei der überschlagmäßigen Verrechnung dieser beiden Größen entsteht folglich ein hypothetischer Finanzbedarf von 150 Milliarden USD, mit Hilfe dessen ein Direktzahlungsprogramm für die afrikanischen, in Armut lebenden Menschen getragen werden könnte. Diese Summe ist zweifelsohne ein hoher Betrag für eine utopisch wirkende Schenkung, aber im Vergleich zu den Ausgaben der Industrienationen oder den geplanten Entwicklungshilfezahlungen durchaus interessant.
Zu diesem Zweck sollen als Anhaltspunkt die Militärausgaben der USA im Jahr 2019 dienen. Die Ausgaben für das Militär betrugen in den USA im vergangenen Jahr 732 Milliarden USD, also beinahe das Fünffache des angedachten Betrags für Direktzahlungen und die weltweiten Rüstungsausgaben aller Staaten 1,92 Billionen USD. (Vgl. Statista 2020) Bezogen auf das BIP der Vereinigten Staaten entsprechen die 732 Milliarden USD einem Anteil von 3,4 Prozent (vgl. Statista 2020). Zur Kontextualisierung dieser ausgewählten Daten sollen nun die SDG bzw. die entwicklungspolitischen Zielsetzungen der UN betrachtet werden. Sowohl die UN als auch die Strategiepapiere des BMZ definieren als globales Ziel, dass jeder Staat dazu verpflichtet ist, jährlich 0,7 Prozent des Bruttonationaleinkommens (BNE), welches an dieser Stelle zur Vereinfachung als Maßstab dem BIP gleichzusetzen ist, der Entwicklungshilfe zukommen zu lassen. Im Jahr 2013 erreichten drei Länder der UN-Mitgliedsstaaten diese Vorgabe von 0,7 Prozent. Der Durchschnitt der UN-Mitgliedsstaaten lag bei 0,4 Prozent des BNE und Deutschland lag sogar unter dem Durchschnitt bei einem Wert von 0,38 Prozent und die USA lediglich bei 0,19 Prozent. (Vgl. Statista 2014)
„Wären in 2017 alle Industrieländer ihrer Verpflichtung nachgekommen, hätten Entwicklungs- und Schwellenländern etwa 331 Milliarden US-Dollar zur Verfügung gestanden. Tatsächlich wurden nicht einmal die Hälfte, sondern lediglich rund 150 Milliarden US-Dollar zur Verfügung gestellt.“ (BMZ 2018: 26)
Folglich scheitert erfolgreichere Entwicklungspolitik im globalen Umfeld daran, dass die Staaten sich zu Zahlungen für die Entwicklungshilfe bereit erklären, diesen jedoch nicht nachkommen. Der dadurch entgangene Unterstützungsbetrag ist erschreckend groß und sollte in den folgenden Jahren im Fokus der Zielerreichung stehen. Denn ohne die Mitarbeit und Leistungen aller beteiligten Staaten können Konzepte wie die SDG noch so gut durchdacht sein, wenn der finanzielle Rahmen dafür nicht ausreicht. Zurückblickend auf das Missverhältnis in den USA von Militärausgaben in Höhe von 3,4 Prozent des BIP im Gegensatz zu 0,19 Prozent des BNE scheinen ebenso das Verständnis und eine zielgerichtete Prioritätensetzung im Kampf gegen die Armut in manchen Staaten nicht vorhanden zu sein.
Die vorgelegten Zahlen zu Militärausgaben und entwicklungspolitischen Zielen lassen sich nicht als Patentlösung auf die Finanzierungsproblematik der Direktzahlungsidee übertragen, sollen aber eine Art Denkanstoß dazu sein, dass ein bedingungsloses Grundeinkommen für die Allerärmsten keine Utopie sein muss. Wenn ohnehin bereits offizielle Zielvorgaben der UN bewusst nicht eingehalten werden, unterliegt die Entwicklungspolitik im globalen Kontext einer grundsätzlichen Problematik, wenn es darum geht, die Armut zu beseitigen. Wieso sollte also nicht bei höherer Verbindlichkeit der Zieleinhaltung über Direktzahlungsprogramme nachgedacht werden, um das Maßnahmenbündel um eine effiziente Methode zu bereichern? Der Finanzbedarf von 150 Milliarden USD wäre durchaus zu decken und diese Maßnahme ist ein Zahlungsinstrument, welches nur eine einmalige Investition vorsieht.

6. Fazit

Die Einordnung der beiden Instrumente Direktzahlungen und Mikrokredite in den entwicklungspolitischen Rahmen offenbart, dass die Armutsbekämpfung an der Basis ein richtiger Weg, aber nicht die einzige Erfolgsquelle sein kann. Der Weg aus der Armutsfalle muss zu einem gewissen Teil in der Eigenverantwortung der Menschen in den Entwicklungsländern liegen, da diese aus eigener Kraft die beste Hilfe zur Selbsthilfe schaffen können. Der Erfolg dieses Weges ist jedoch abhängig davon, ob die Industrienationen oder die globalen Staatenbündnisse ihren Verpflichtungen nachkommen, den entsprechenden finanziellen Spielraum zu kreieren. Ebenso wichtig ist es, dass entwicklungspolitische und informationsbeschaffende Maßnahmen ergriffen werden, um das Know-How, die institutionellen Rahmenbedingungen und die Einhaltung von Menschenrechten vor Ort gewährleisten zu können. Transferleistungen müssen die Menschen auf direktestem Wege und frei von Korruption erreichen, doch es muss auch angestrebt werden, die Langfristigkeit und Nachhaltigkeit der Maßnahmen in den Ländern sicher zu stellen.
Die Verantwortung der UN in puncto zuverlässiger Finanzierung ist vor allem auf die Konzeption der Direktzahlungen bezogen. Im vorherigen Vergleich wurde herausgestellt, dass die empirisch messbaren Vorteile der Direktzahlungsidee gegenüber dem selbstfinanzierten Mikrokreditgeschäft zu bevorzugen sind. Wenn das Ziel der Überwindung der Armut für die betroffenen Menschen im Mittelpunkt stehen soll, dürfen keine Begleitumstände wie Rückzahlungszwänge, psychische Stresssituationen oder Renditeerwartungen der Investoren eine Rolle spielen. Die Studien zu den Direktzahlungen von GiveDirectly offenbaren vielmehr, dass die Menschen vor Ort auch ohne Zwänge und Pflichten das Geld sinnvoll investieren und ihren materiellen Wohlstand oder auch ihre Gesundheitsvorsorge verbessern können. Die Menschen nutzen das wenige erhaltene Geld effektiv, jedoch muss für den langfristigen Erfolg immer bedacht werden, dass ein reiner Ausbau der Basarwirtschaft nicht die schlussendliche Rettung der Allerärmsten sein kann. Argumentativ genauso wichtig sollte die Betrachtung der psychologischen Komponente im Kampf gegen die Armut sein. Die Förderung durch Mikrokredite schafft oftmals ein ähnliches Abhängigkeits- und Angstgefühl bei den Menschen wie zuvor bei informellen Geldverleihern, nur erfolgt dies nun in einem sozialeren Gewand. Die Direktzahlungsidee verdeutlicht, dass die Menschen in extremer Armut grundsätzlich einer großen psychischen Belastung ausgesetzt sind und deutlich höheren Nutzen generieren können, sobald dieser Druck nachlässt. In diesem Zusammenhang sei abermals die Reduktion der Cortisolwerte in den betrachteten Haushalten in Kenia hervorzuheben. Wenn also Entwicklungshilfe neu gedacht werden und beim Menschen an der Basis beginnen soll, sollten auch Maßnahmen ergriffen werden, die tatsächliche Verbesserungen der gesamten Lebenssituationen hervorbringen. Sowohl aus materieller als auch immaterieller Sicht bieten Direktzahlungen auf Basis der vorangegangenen Erkenntnisse mehr Vorteile als Mikrokredite, scheitern aber bisweilen womöglich an der utopischen Vorstellung eines bedingungslosen Grundeinkommens und der Finanzierbarkeit in der flächendeckenden Umsetzung.
Auch wenn GiveDirectly das Direktzahlungsprogramm in Kenia mittels RCT begleitet und empirisch messbarer als andere MFI gestaltet hat, bleibt ebenso anzumerken, dass die Studienergebnisse womöglich von GiveDirectly zu deren Nutzen dargestellt wurden. Das bedeutet, dass eine einzige Studie kein alleiniger Erfolgsindikator für Wirksamkeit der Direktzahlungsidee sein kann und mögliche negative Auswirkungen in der Studie außen vorgelassen wurden. Daher ist zukünftig abzuwarten, ob bspw. Banerjee & Duflo bei weiteren, im Jahr 2020 angekündigten Studien zu den Direktzahlungen in Kenia ähnliche Erkenntnisse erlangen werden und die positiven Erfolge von GiveDirectly bestätigen können. Vor dem Hintergrund der Vollständigkeit und wissenschaftlichen Vergleichbarkeit sei weiterhin an dieser Stelle aufzuführen, dass der Vergleich von Direktzahlungen und Mikrokrediten in der vorangegangenen Diskussion anhand verschiedener Datenquellen durchgeführt wurde. Um einen schlussendlichen und verlässlichen Vergleich durchzuführen, müsste die Möglichkeit einer RCT vorliegen, in der drei zufällig ausgewählte Untersuchungsgruppen betrachtet werden. Eine der untersuchten Gruppen erhält dabei Direktzahlungen als finanzielle Unterstützung, eine Weitere Geldleistungen in Form von Mikrokrediten und eine dritte ungeförderte Gruppe dient als Kontrollgruppe. Mit Hilfe eines solchen Studiendesigns besteht die Chance, einheitliche und messbare Ergebnisse zu generieren, um die Wirkungen der beiden untersuchten Instrumente darzustellen. Eine solche Forschungsarbeit könnte für die Weiterentwicklung des bisherigen Bündels entwicklungspolitscher Maßnahmen ein Richtungszeig sein und im Kampf gegen die globale Armut ein weiterer, wichtiger Anhaltspunkt werden.

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