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Stella Paaß: „Grüner Kolonialismus“ in der Europäischen Union

Beitragsbild: Gerd Altmann auf Pixabay

 

vorgelegt als Bachelorarbeit am Institut für Politische Wissenschaft der RWTH Aachen im Juni 2023

 

 

„The green shift is nothing more than a continued extraction of resources in Sámi areas, as has been the tradition since the earliest encounters between cultures. The difference is that resource utilization has been given a nice color, green; we call it “green colonization.” We were first colonized by people from outside our lands, then colonized by climate change itself, driven by people from outside our lands, and are now being colonized a third time by responses to climate change. (Retter 2021).“

Das stetige Voranschreiten des Klimawandels ist der Anlass für die weltweite Suche nach möglichen Lösungen und neuen Strategien, welche diesen aufhalten oder zumindest verlangsamen können. Die Antwort der Europäischen Union (EU) auf diese Problematik findet sich im „European Green Deal“ wieder. Dieser beinhaltet eine Reihe von Plänen, um die EU klimaneutral und nachhaltig zu gestalten. In Zukunft soll er das Kernstück der europäischen Umweltpolitik darstellen und als Orientierungspunkt für die EU-Mitgliedsstaaten wirken. Das „Europäische Klimagesetz“ sorgte 2021 auch für die rechtliche Verbindlichkeit der Forderungen. Von außerhalb erhielten die Pläne der EU eine weitestgehend positive Resonanz. Die Tagesschau bezeichnet den Green Deal als „extrem ambitioniert“ (Corall 2019). Doch auch wenn eine Strategie gegen den Klimawandel unumgänglich ist, gibt es schon heute verschiedene Probleme, die mit grüner Umweltpolitik einhergehen. In diesem Kontext spricht man aktuell gerne über das Konzept des „grünen Kolonialismus“. Damit werden plakativ die negativen Auswirkungen kritisiert, die umweltpolitische Maßnahmen von Industriestaaten haben können. Im Fokus stehen hier die Folgen grüner Initiativen von Industriestaaten gegenüber Entwicklungsländern oder auch marginalisierten Völkern.
Wie in meinem Einführungszitat äußern sich immer wieder Angehörige indigener Gemeinschaften zu den Klimastrategien verschiedener Staaten. Oft stellt der Ausbau erneuerbarer Energiequellen eine Herausforderung dar. Durch den benötigten Platz und Ressourcen geht man das Risiko ein, traditionelles Land oder Lebensweisen zu beeinflussen. Wiederholend plädieren Menschen mit indigenem Hintergrund deswegen für einen gerechten Übergang in eine klimafreundlichere Welt (vgl. Retter 2021). Sie sprechen sich dafür aus, dass sie zukünftig in umweltpolitische Maßnahmen inkludiert, und ihre Interessen ernst genommen werden (vgl. ebd.).
Durch die weitere Implementierung grüner Initiativen könnte sich dieser Konflikt in Zukunft weiter zuspitzen. Auf Grundlage dieses Themas stelle ich mir die Frage, inwiefern das Konzept des grünen Kolonialismus ein gegenwärtiges Problem innerhalb der EU-Mitgliedsstaaten darstellt und ob der Green Deal das Potenzial besitzt, diese zu lösen.
Bei meinen Recherchen dazu konnte ich feststellen, dass einige Aspekte dieser Fragestellung bisher wenig berücksichtigt wurden. Neokolonialistische Ausbeutung im Kontext von Umweltschutz ist ein Thema, welches in der Forschung noch Lücken aufweist. Es wird sich gegenwärtig nicht genügend mit den Missständen beschäftigt, wenn die Legitimierung für diese der Umweltschutz ist. Die Untersuchung des Green Deals im Hinblick auf die potenziellen Folgen für indigene Völker ist auch ein Feld, welches bis jetzt nicht hinreichend Aufmerksamkeit findet.
Eine Bachelorarbeit, die das Phänomen des grünen Kolonialismus in der Europäischen
Union aufgreift, ist im aktuellen gesellschaftspolitischen Kontext von großer Relevanz. Das Verständnis über die Auswirkungen auf marginalisierte Gemeinschaften wird von entscheidender Bedeutung sein, um die gerechte Umsetzung des Green Deals sicherzustellen.
Nur so kann eine nachhaltige Zukunft für alle gefördert werden.
Aufgrund des begrenzten Umfangs meiner Arbeit werde ich mich auf zwei Beispiele stützen und werde auch deren Analyse auf einzelne Thematiken beschränken. Aus diesen werde ich jeweils eine Problematik mit den Forderungen des Green Deals vergleichen.
Die vorliegende Bachelorarbeit setzt sich aus acht Kapiteln zusammen. Nach der Einleitung werde ich verschiedene Grundbegriffe erläutern, welche zum Verständnis dieser Arbeit essenziell sind. Der Fokus im dritten Kapitel wird die Vorstellung des Green Deals und seinen Zielen sein. Im Folgenden werde ich mich meinem ersten Beispiel widmen. In diesem Kapitel werde ich die Auswirkungen von Windenergie auf das indigene Volk der Sami in Schweden untersuchen und erläutern, ob der Umgang des Staates mit dieser Bevölkerungsgruppe die Definition von grünem Kolonialismus erfüllt. Weiter folgt mein zweites Beispiel. Der Fokus in diesem Kapitel fünf wird auf den Wasserherausforderungen für das Volk der Wayúu in Kolumbien liegen. Dazu werde ich die Beteiligung Deutschlands an diesen Umständen herausarbeiten und auch dort konkludieren, ob hier eine Form des grünen Kolonialismus erkennbar ist. Darauffolgend werde ich zwei Kernproblematiken meiner Beispiele herausarbeiten, um diese mit den Plänen des Green Deals zu vergleichen. So möchte ich untersuchen, inwiefern dieser die vorgelegten Konflikte lösen kann oder welche Aspekte meiner Recherche nach verbesserungswürdig sind. Abschließen werde ich diese Arbeit mit einem Fazit beenden, indem ich den aktuellen Stand von grünem Kolonialismus in der EU wiedergebe, Problematiken erläutere und die Möglichkeiten und Grenzen des Green Deals einordne und bewerte.
Meine Methode für diese Arbeit wird die Literaturanalyse sein. Die Literaturanalyse umfasst die Durchführung einer umfassenden Suche nach relevanten wissenschaftlichen Arbeiten und die kritische Bewertung der ausgewählten Literatur. Diese Methode habe ich aufgrund ihrer Fähigkeit gewählt, durch eine systematische Untersuchung vorhandener Kenntnisse und Perspektiven ein umfassendes Verständnis des grünen Kolonialismus in der EU und der potenziellen Auswirkungen des europäischen Green Deals zu vermitteln.

2 Grundbegriffe

Die Erläuterung einiger wichtiger Schlüsselbegriffe ist für meine Arbeit unumgänglich. Nicht nur, um die genaue Definition zu erläutern, sondern auch, um sie kritisch zu betrachten. Obwohl die Theorie des „Neokolonialismus“ sich mittlerweile als viel diskutiertes Thema in Wissenschaft und Politik etabliert hat, darf eine Wechselbeziehung von Industrie- und Entwicklungsstaaten nicht vorverurteilt werden. Im Kontext des Ukrainekrieges und der Sanktionen gegen Russland wirft der Kreml dem Westen immer wieder neokolonialistische Absichten vor (vgl. Scholl 2022). In diesem Fall wird der Begriff für propagandistische Zwecke missbraucht, um seine eigenen kolonialistischen Absichten zu verdecken. Im Folgenden möchte ich erläutern, was Neokolonialismus eigentlich bedeutet und was grüner Kolonialismus ist.

2.1 Neokolonialismus

Den Begriff Neokolonialismus oder auch Neoimperialismus zu definieren, birgt einige Schwierigkeiten. Oft wird er weniger in einem wissenschaftlichen Kontext verwendet, sondern dient als populistische Reizvokabel in politischen Diskussionen. Aus diesem Grund unterscheiden sich verschiedene Definitionen oft nicht unerheblich. In seinem politischen Lexikon definiert
Dr. Everhard Holtmann den Terminus als „Vorwurf an die westlichen Industrieländer, insbesondere durch ökonomische Ausbeutung, internationale Beherrschung der Kommunikationsmedien und enge Verquickung mit den politischen und militärischen Führungsgruppen in den Entwicklungsländern diese politisch souveränen Staaten in ähnlicher Abhängigkeit zu halten wie die früheren Kolonien.“ (Holtmann 2000: 412). Der ehemalige ghanaische Präsident Kwame Nkrumah erläuterte den Begriff Neokolonialismus in seinem Werk „Neocolonialism, the Last Stage of imperialism“ erstmals aus wirtschaftswissenschaftlicher Sicht. Genauer beschreibt er, dass in neokolonialistischen Situationen Länder nicht mehr militärisch besetzt oder annektiert werden, sondern oft durch die ökonomische Wechselbeziehung von dem wohlhabenderen Staat kontrolliert und ausgenutzt werden. Dabei bleibt der abhängige Staat zwar offiziell unabhängig, jedoch werden wichtige wirtschaftliche und politische Entscheidungen von außerhalb gelenkt (vgl. Nkrumah 1965: x). Industrienationen dominieren die wichtigsten Institutionen des (wirtschaftlichen) Austauschs, beispielsweise die Weltbank, und beeinflussen damit maßgeblich das Weltgeschehen (vgl. ebd.). Diese Form von Kolonialismus ist laut Nkrumah auch deshalb gefährlich, weil es schwierig ist, dafür zur Verantwortung gezogen zu werden und der Kolonialisierende seine Taten nicht legitimieren muss (vgl. ebd.: xi).
In diesem Kontext ist es sinnvoll, auch noch auf die Dependenztheorie einzugehen, welche in diesem Zusammenhang oft genannt wird. Diese ökonomische Theorie basiert auf der Annahme, dass äußere Faktoren dafür verantwortlich sind, dass Gebiete weiter unentwickelt bleiben. Vor allem die Einbindung in die Weltwirtschaft, welche von den Industrienationen beherrscht wird, gilt laut der Dependenztheorie als Grund für die schlechte Entfaltung von Entwicklungsländern (vgl. Jansen 2021). In Deutschland wurde die Theorie in den 1960er-Jahren durch entsprechende Bewegungen in Lateinamerika populär. In der Wissenschaft wird sie oft kritisch betrachtet. Gegner stellen dem entgegen, dass aus ehemaligen Entwicklungsländern historisch durchaus Schwellenländer geworden sind. Vor allem manche asiatischen Länder konnten einen raschen Aufschwung ihrer Wirtschaft erreichen. Dahingehend wirft man Anhängern vor, dass sie die inneren Faktoren einer ökonomischen Entwicklung nicht ausreichend betrachten und sich ausschließlich auf die äußeren Einflüsse beschränken.
Allgemein möchte ich für mich schließen, dass es in dieser modernen Form des Kolonialismus nicht um die Unterdrückung durch militärische Mittel geht. Hauptsächlich werden Wirtschaftsbeziehungen von Industrienationen mit Entwicklungsländern ausgenutzt und manipuliert. Der Leidtragende ist in diesem Fall immer die wirtschaftlich unterlegene Nation. Diese breite Erläuterung hat zur Folge, dass unzählige Wechselbeziehungen in einer globalen Wirtschaft vorschnell unter diese Definition fallen. Im Zuge meiner Arbeit beschäftige ich mich mit dem grünen Kolonialismus.

2.2 Grüner Kolonialismus und verwandte Begriffe

Grünen Kolonialismus oder auch grünen Imperialismus definiere ich als eine Unterart des Neokolonialismus. Kat Bohmbach beschreibt grünen Kolonialismus als „[…] mismanagement of land, destruction of ecosystems in the name of „progress,“ and a general disrespect for the quality of life for indigenous communities […]“ (Bohmbach 2020). Diese Definition ist spezifischer als die des Neokolonialismus und deshalb geeigneter für eine Analyse. Das Besondere am grünen Kolonialismus ist die Legitimierung für das Vorgehen. Neokolonialistisches Handeln wird durch den Umweltschutz legitimiert. Oft geht es bei grünem Kolonialismus um die Gewinnung grüner Energie oder auch die Beschaffung umweltfreundlicher Ressourcen. Unter diesen Vorhaben leiden allerdings in einigen Fällen entwicklungsschwächere Länder oder auch indigene Völker. Meist wird davon gesprochen, wenn der globale Norden den globalen Süden für den eigenen Wohlstand und die eigene Umweltpolitik ausbeutet (vgl. Earth.Org 2021). Als Unterbegriff der Theorie des Neokolonialismus ist auch die These des grünen Kolonialismus nicht unumstritten und politisch aufgeladen. Man muss beachten, dass dieses Konzept nicht mit den Taten der historischen europäischen Kolonialzeit gleichzusetzen ist. Denn auch hier fehlt, wie beim Neokolonialismus, der Einsatz militärischer Mittel.
Oft in einem ähnlichen Kontext wird auch der Begriff „green grabbing“ genutzt. Er beschreibt eine Art des grünen Kolonialismus, bei dem Land oder Ressourcen in entwicklungsschwächeren Ländern von Industriestaaten aufgekauft und ausgebeutet werden (vgl. Backhouse 2019: 122). Dort mit der Legitimierung durch den Umweltschutz. Green grabbing ist als eine Unterart des „land grabbing“ zu verstehen, wobei es generell um die unmoralische Aneignung von Land geht, welche der dortigen Bevölkerung oder auch der Umwelt schadet (vgl. Liberi 2013). Dies ist dabei jedoch nicht mit dem Terminus „Landraub“ zu verwechseln, was die illegale Inbesitznahme von Land beschreibt. Beim green grabbing geht es speziell darum, Ressourcen auszubeuten, welche essenziell für neue grüne Technologien sind (vgl. Universität Bielefeld o. D.). Dieser Vorgang ist oft mit verschiedenen wirtschaftlichen und sozialen Konflikten verbunden. Aus einer Studie von Facing Finance geht hervor, dass die Abkehr von Kohleenergie und der Rohstoffabbau im globalen Süden zwingend negative Konsequenzen für die dortige Wirtschaft und Gesellschaft hat (vgl. Guhr 2018: 39). Problematiken wie diese werden unter diesem Begriff behandelt.
Ein zunächst verwandt scheinender Begriff ist der des „Ecological imperialism“ oder „ökologischer Imperialismus“. Jedoch ist es wichtig, die beiden Termini auseinanderzuhalten. Der Historiker Alfred Crosby stellte die Theorie des ökologischen Imperialismus erstmals in seinem
Buch „Ecological imperialism – The Biological Expansion of Europe, 900-1900“ vor. Seine These behandelt die Veränderung der Flora und Fauna von Kolonisatoren in anderen Gebieten und wie sich dies auf die ursprüngliche Bevölkerung auswirkte (vgl. Crosby 1986). Hierbei geht es nicht um die Kolonialisierung für umweltschützende Maßnahmen und Ressourcen und ist somit irrelevant für meine Arbeit.

2.3 Klimagerechtigkeit

Das Thema Klimagerechtigkeit ist ein Konzept, welches sich auf die soziale Ungerechtigkeit bei der Handhabung des Umweltschutzes fokussiert. Im Mittelpunkt dieser Bewegung steht das Paradoxon, dass die Regionen und Bevölkerungen, die am wenigsten zum Klimawandel beitragen, am häufigsten die Hauptleidtragenden sind. Besonders betroffen von diesem Phänomen sind Entwicklungsländer. Von 1850 bis 2011 waren Industriestaaten für 79 % aller Kohlenstoffemissionen verantwortlich (vgl. Center For Global Development o. D.). Zum Vergleich, es leben ca. 1,3 Milliarden von weltweit 7,8 Milliarden Menschen in Industriestaaten (vgl. Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung o. D.). Das sind etwa 17%. Aus einem Bericht des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) geht hervor, dass schlechter entwickelte Länder gegenwärtig und auch zukünftig häufiger und extremer vom Klimawandel betroffen sein werden (vgl. IPCC 2007: 78). Klimagerechtigkeit bedeutet, dass man diese sozialen Problematiken in Verbindung mit dem Klimawandel setzt und nach nuancierten Lösungsansätzen forscht. Einen gerechteren Ansatz finden heißt, dass die Belastungen der Klimakrise besser verteilt werden müssen (vgl. Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung o. D.). Besser entwickelte Länder, welche durch ihre umweltfeindliche Entwicklung eine große Verantwortung für den Klimawandel übernehmen sollten, müssen schwächere Regionen unterstützen. Es ist außerdem wichtig, dass umweltfreundlichere Ressourcen und Techniken auch in ökonomisch schwächeren Regionen implementiert werden und der Zugang so einfach wie möglich gemacht wird. In diesem Kontext findet man dann auch den Begriff „just transition“, oder übersetzt „gerechter Wandel“ wieder. Dabei geht es um das Bestreben, dass der Übergang zu einer umweltfreundlicheren Gesellschaft möglichst fair abläuft. Der Fokus liegt hier besonders auf gefährdeten Bevölkerungsgruppen, welche eine intensivere Unterstützung benötigen, um diesen Wandel tragen zu können (vgl. Lexikon der Entwicklungspolitik o. D.).
Das Konzept des grünen Kolonialismus steht genau dem entgegen. Entwicklungstechnisch wichtige Ressourcen, welche einen umweltfreundlichen Umbruch überhaupt erst möglich machen, werden für den Gebrauch in Industriestaaten ausgeschöpft. So wird es einigen Regionen unmöglich gemacht, sich dem klimafreundlichen Wandel anzuschließen. Sie sind oft weiterhin auf fossile Rohstoffe angewiesen und sie haben nicht die Mittel, sich flexibel an neue Techniken anzupassen. Durch diese Ausbeutung werden Minderheiten wie beispielsweise indigene Völker oft in Mitleidenschaft gezogen und ihre traditionellen Lebensweisen erschwert. Dazu kommt, dass diese Vorhaben unter einem vermeidlich positiven Vorwand, dem Klimaschutz, geschehen. Dies macht es schwieriger, das Verhalten anzuprangern oder überhaupt erst zu erkennen.

3 Der Europäische Green Deal

Der Europäische Green Deal ist ein Konzept, welches 2019 von der Europäischen Kommission unter der Leitung von Ursula von der Leyen vorgestellt wurde. Dabei handelt es sich um eine Wachstumsstrategie, welche die EU und ihre Mitgliedsstaaten zu einer nachhaltigen und erfolgreichen Wirtschafts- und Umweltpolitik führen soll. Dabei soll er gleichzeitig ein ökonomisches Wachstum unterstützen und sozial inklusiv sein. Er ist außerdem Teil der EU-Strategie zur Erfüllung der UN-Agenda 2030. Der Green Deal soll in Zukunft eine zentrale Rolle in Umweltfragen der EU spielen.

Im Folgenden werde ich die Pläne der EU-Kommission zusammenfassen und einen Überblick über die vorrangigen Ziele bis 2050 ermöglichen.
Das übergeordnete Ziel des Green Deals ist es, die Nettotreibhausgase innerhalb der EU-Mitgliedsstaaten bis 2050 auf null zu reduzieren und als erster „Kontinent“ klimaneutral zu werden (vgl. Europäische Kommission o. D.). Das Zwischenziel ist eine Reduktion der Nettotreibhausgase um 55 % bis 2030 im Vergleich zu den Emissionen von 1990 (vgl. Europäische Kommission 2019: 5). Außerdem, ist auch die Erfüllung des Pariser Klimaabkommens ein Bestreben (vgl. ebd.). Das Abkommen wurde 2015 auf der Weltklimakonferenz getroffen und besagt, dass man die Klimaerwärmung auf unter zwei Grad Celsius, am besten sogar 1,5 Grad Celsius, im Vergleich zum vorherigen Zeitalter halten möchte (vgl. Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung o. D.). Diesem Abkommen haben sich 195 Staaten verpflichtet (vgl. ebd.). Zielführend soll eine Vielzahl von Initiativen sein, wie beispielsweise das Fördern von erneuerbaren Energien und E-Mobilität oder nachhaltigere Bau- und Renovierungsprojekte (vgl. ebd.).
Ein weiteres Ziel des Green Deals ist die Umgestaltung der Wirtschaft. Diese soll in Zukunft kreislauforientiert verlaufen (vgl. Europäische Kommission 2019: 8). Das Konzept einer kreislauforientierten Wirtschaft legt einen Fokus darauf, Ressourcen effizienter zu recyceln und zu verwenden (vgl. ebd.). Dies minimiert den Bedarf nach neuen Materialien und reduziert Abfall. Dadurch soll auch die umweltfeindliche Ausbeutung von natürlichen Ressourcen begrenzt werden und die Wirtschaft gestärkt werden. Initiativen, um diese Vorhaben auszuführen, sind beispielsweise die Förderung von nachhaltigen Produktionsketten und langlebigen Produkten, das Werben für einen klimafreundlicheren Konsum und Hilfe bei dem Entwerfen von innovativen Geschäftsideen (vgl. ebd.: 9f).
Als drittes Ziel führt die Kommission den Schutz von Ökosystemen und Biodiversität an und die Förderung einer nachhaltigen Landwirtschaft (vgl. ebd.: 14f). Reine Luft und Wasser sind essenziell für eine gesunde Gesellschaft und sollen deshalb durch den Schutz und Wiederherstellung von natürlichem Lebensraum und Lebewesen gesichert werden (vgl. ebd.: 15). Auch eine umweltfreundliche Bewaldung soll implementiert werden (vgl. ebd.: 14). Dieses Ziel soll zukünftig in relevanten Entscheidungen der EU beachtet werden und diese müssen hinsichtlich dieser Maßnahmen konform konzipiert werden.
Der Grüne Deal und die Umweltpolitik der EU beruht maßgeblich auf diesen drei Zielen. Diese beziehen sich auf den aktuellen Wissenschaftsstand und sollen der EU eine Vorreiterrolle in Bezug auf Nachhaltigkeit und Dekarbonisierung zuteilen. Dieses ehrgeizige Vorhaben sollte jedoch auch auf die Implikationen für die Gesellschaft untersucht werden. Im Folgenden möchte ich ausarbeiten, ob Formen des grünen Kolonialismus aktuell in der EU vorherrschen.
Zu diesem Zweck werde ich mehrere Beispiele aufarbeiten und anhand meiner Analyse aufzeigen, warum man diese Situationen als grünen Kolonialismus charakterisieren kann. Dafür werde ich mich auf die Ausbeutung und Missachtung indigener Lebensweisen fokussieren.

4 Die Sami in Schweden

Im Zuge dieses Kapitels werde ich mich mit den Umständen der Sami in Schweden beschäftigen. Die Sami sind eine indigene Gemeinschaft, welche auf den heutigen Gebieten von Schweden, Finnland, Norwegen und Russland verteilt ansässig sind. Aufgrund des Umfangs möchte ich mich in meiner Arbeit nur auf die in Schweden lebenden Völker konzentrieren.
Die Sami sind ein populäres Beispiel in der Wissenschaft und im Journalismus, wenn man sich mit dem Thema des grünen Kolonialismus in Europa beschäftigt. Im Folgenden möchte ich herausstellen, wieso Schweden der Vorwurf des grünen Kolonialismus gemacht wird und inwiefern man dies als gerechtfertigt einschätzen kann. Um herauszustellen, ob die Klimapolitik Schwedens und die Interessen der Sami sich grundsätzlich widersprechen, möchte ich die Beweggründe beider Parteien erläutern. Anfangen werde ich mit Schwedens umweltpolitischem Streben.

4.1 Schwedens Energiewende und Windparks in der Arktis

Im Rahmen der im grünen Deal abgemachten EU-Klimaziele bis 2050 verpflichteten sich die EU-Mitgliedsstaaten der Kommission 2019, ihre Klimaziele vorzulegen. Diese „Nationalen Energie- und Klimapläne (NECP)“ sollen sich auf einen Zeitraum von zehn Jahren beziehen und auf der Langfrist-Strategie der EU aufgebaut sein (vgl. Verordnung (EU) 2018/199: Art. 15 [1]). Darüber hinaus sollten diese Pläne auch Perspektiven bis mindestens 30 Jahre umfassen
(vgl. ebd.). In diesem Kontext stellte auch Schweden 2019 den „Sweden´s draft integrated national energy and climate plan“ vor. Dieser lag dem schwedischen Riksdag schon 2017 vor. Schwedens Klimabestreben gehören zu den ehrgeizigsten innerhalb der EU. Schon jetzt liegt das Land auf Platz zwei, wenn es um den Anteil erneuerbarer Energie am Endenergieverbrauch geht (vgl. Statista Research Department 2023). Mit 62,57 % liegen sie dabei direkt hinter dem Spitzenreiter Island (vgl. ebd.). Schweden hat sich als Ziel gesetzt, bis 2045 komplett klimaneutral zu agieren (vgl. Government of sweden – Ministry of the Environment and Energy 2019: 3). Ein wichtiger Faktor, um dieses Ziel erreichen zu können, wird die Dekarbonisierung des Elektrizitätssektors sein, auf welchen ich mich im Folgenden beziehen will.
Gegenwärtig generiert das Land seine Elektrizität vor allem aus einer Mischung aus Hydro- und Nuklearenergie (vgl. Swedish Energy Agency 2022: 6). Bis 2040 soll der komplette Elektrizitätssektor durch erneuerbare Energien gedeckt werden (vgl. Government of sweden – Ministry of the Environment and Energy 2019.: 5). Schweden ist eines der Länder mit dem höchsten Elektrizitätsverbrauch pro Kopf (vgl. Statista Research Department 2023). Um die eigenen Pläne erfüllen zu können, ist eine stabile Versorgung also enorm wichtig. Ein Mittel, um dies erreichen zu können, ist Schwedens „Electricity Certificate System“. Diese Verordnung trat 2003 in Kraft und ist eine marktorientierte Strategie, um erneuerbare Elektrizitätsproduktion zu fördern (vgl. Electricity certificates – Energifakta Norge 2023). Dieses System funktioniert mit einer staatlichen Verteilung von Elektrizitätszertifikaten, welche an die Elektrizitätsproduzenten vergeben werden können (vgl. ebd.). Für jede Megawattstunde, welche aus erneuerbaren Energien generiert wurde, wird ein Zertifikat vergeben (vgl. ebd.). Stromlieferanten müssen eine Quote für zertifizierten Strom erfüllen, welche sich im Verhältnis zum Gesamtstromverbauch misst, und können die Elektrizitätszertifikate von den Produzenten erwerben (vgl. ebd.).
Nur neuere oder modernisierte Kraftwerke haben Anspruch auf diese Zertifikate (vgl. ebd.).
Dieses System lässt den Verbraucher einen direkten Anteil an der Elektrizitätswende haben. Erfolge zeigt die Verordnung vor allem im Biokraft- und Windkraftsektor (vgl. ebd.). Der schnelle Ausbau von Kraftwerken für erneuerbare Energien ist für das Land also unabdinglich.

Elektrizität aus Windkraft wird für Schweden immer wichtiger. Momentan macht diese etwa 17 % der Gesamtelektrizitätsgewinnung aus (vgl. Swedish Energy Agency 2022: 6). Seit etwa zehn Jahren wächst dieser Sektor schneller als alle anderen (vgl. ebd.). Das liegt unter anderem

an kostengünstigerer Produktion. Schweden konnte durch neue Technologien und Erfahrungen die Preise für Erzeugnisse aus Windkraftwerken senken (vgl. Government of sweden – Ministry of the Environment and Energy 2019: 30). In Schweden gibt es 313 Regionen, welche als „areas of national interest for wind power“ (ebd.) bezeichnet werden. Diese haben das Potenzial, in Zukunft für Windkraftprojekte genutzt zu werden. Sie liegen vor allem im Norden des Landes (vgl. Bjärstig et. al. 2022: 3). Auch in Schwedens Strategiepapier zur Arktis wird der Ausbau von Windkraftwerken in dieser Region erwähnt (vgl. Government Offices of Sweden – Ministry for Foreign Affairs 2020: 37). Diese Pläne stehen jedoch noch am Anfang. Die eisigen Temperaturen im Norden stellen eine Herausforderung für die Windkraftwerke dar. Dafür werden
Testzentren in der Arktis genutzt. Ein Beispiel dafür ist das „Uljabuouda Cold Climate Teste Centre“ in Norbotten. Durch Testzentren sollen moderne Windturbinen im eisigen Klima der Arktis getestet werden. Neue Ergebnisse aus diesen Tests machen den Standort für Firmen immer attraktiver. Der Energieversorger Vattenfall plant in Norrbotten ebenfalls eine große WindFarm, welche bis 2030 in Betrieb genommen werden soll (vgl. Richard 2023). Dies ist ein wichtiger Schritt für Schweden, um die eigenen Umweltziele erreichen zu können. Der Norden des Landes ist im Gegensatz zum Süden schwach besiedelt (vgl. Statistikdatabasen o. D.). So bietet der gegebene Platz eine Chance, die Windkraftkapazität des Landes stark auszubauen. Norrbotten und weitere Gebiete im Norden Schwedens sind allerdings auch die Siedlungsgebiete der Sami. Um herauszustellen, inwiefern die geplanten Windparkprojekte in der Arktis mit der traditionellen Lebensweise der indigenen Gemeinschaft korrelieren, werde ich diese im Folgenden erläutern.

4.2 Die Rentierhalter in der Arktis

Die Sami sind ein indigenes Volk, welches in Schweden, Norwegen, Finnland und Russland sesshaft ist. Es gibt drei Sami-Sprachen, welche teilweise auch als Dialekt voneinander betrachtet werden (vgl. The Editors of Encylopaedia Britannica 2023). In Schweden leben heute noch etwa 20.000 Sami (vgl. swedish institute 2023). Die spezielle Lebensweise des Volkes zeichnet sich vor allem durch die Rentierhaltung aus. Früher lebten sie als Nomaden und folgten ihren Rentierherden durch die nordischen Länder (vgl. ebd.). Sie lebten in Gruppen, die man siddat nennt (vgl. International Centre for Reindeer Husbandry o. D.). Ländergrenzen und nationale Gesetze machten diese Lebensweise allerdings unmöglich (vgl. ebd.). Nur noch zehn Prozent der in Schweden lebenden Sami verdienen ihr Geld mit der traditionellen Rentierzucht. Viele davon müssen ihr Einkommen noch durch andere Nebentätigkeiten aufbessern (vgl. ebd.). In Sami-Dörfern, sogenannte Sameby, hat das Volk spezielle Rechte (vgl. ebd.). Hier leben sie heutzutage sesshaft und dürfen ihrer traditionellen Rentierzucht nachgehen. Es gibt insgesamt 51 Sameby, dessen Nutzung den Sami 2011 rechtlich zugesprochen wurde (vgl. ebd.). Nur Sami, welche in einem dieser Dörfer leben, dürfen in Schweden Rentierzucht betreiben (vgl. ebd.). Die Rentierweideareale der Sami erstrecken sich auf fast 40 % der Gesamtfläche Schwedens (vgl. ebd.). Diese Arbeit ist für die Sami mehr als eine Einnahmequelle. Die Rentierhaltung ist fest in der Kultur verwurzelt und die Halter können sich ein Leben ohne ihre Tiere nicht vorstellen (vgl. International Centre for Reindeer Husbandry o. D.).
1989 wurde das Sami-Parlament gegründet (vgl. SÁMEDIGGI o. D.). Repräsentanten der Gemeinschaft haben so ein Instrument, um ihren Interessen auch in der Politik Gehör zu verleihen (vgl. ebd.). 2019 stellte das Sami-Parlament einen formellen Antrag auf eine Wahrheits- und Versöhnungskommission (vgl. swedish institute 2023). 2020 erhielt das Parlament vom Staat umgerechnet etwa 144.000 Euro, um so den Grundstein für die Kommission zu legen (vgl. ebd.). Dort sollen bis 2015 die Historie und die Einflüsse der schwedischen Regierung und deren Gesetze auf die Sami aufgearbeitet werden (vgl. ebd.). Doch auch heute ist die Lebensweise des Volkes weiter bedroht. Die Erderwärmung betrifft die Arktis viermal schneller als den Rest der Erde (vgl. Rantanen et. al. 2022: 2). Die Sami sind stark von ihrer Umwelt und der Natur abhängig. Eine gravierende Veränderung der Bedingungen wäre eine ernsthafte Gefahr für die traditionelle Lebensweise des Volkes (vgl. Centre for Reindeer Husbandry o. D.). Doch nicht nur der Klimawandel an sich stellt ein Risiko für die Traditionen der Sami dar. Auch die direkte menschliche Veränderung der Arktis im Kontext nachhaltiger Umweltpolitik könnte die Gemeinschaft beeinflussen (vgl. International Centre for Reindeer Husbandry o. D.). Der Ausbau des nachhaltigen Energiesektors auch in der Arktis ist Teil der schwedischen Klimastrategie, um ihre Ziele bis 2045 zu erreichen. Im folgenden Unterkapitel werde ich den Einfluss von Windkraftwerken auf die Rentierhaltung darstellen.

4.3 Rentiere und Windkraftwerke

Um den Einfluss der Windkraftwerke auf die Rentierhaltung der Sami darzustellen, werde ich in diesem Kapitel zwei Studien erläutern. Dafür werde ich den Ablauf diese Untersuchungen kurz wiedergeben und die für mich relevanten Schlussfolgerungen darlegen.
Anfangen werde ich mit den Ergebnissen von Skarin et. al. aus dem Jahre 2018.
Die Untersuchungen von Skarin et. al. beziehen sich auf die Auswirkungen von Windturbinen auf weibliche Rentiere vor allem während der Kalbzeit (vgl. Skarin et. al. 2018: 9907). Die Forscher wollten wissen, inwiefern die Tiere von Windturbinen gestört werden und ihre Habitatswahl und Areale zum Kalben ändern. Die Analyse basiert auf den Daten, welche von GPSHalsbändern stammen (vgl. ebd.: 9909). Schlussendlich wurden die Ergebnisse von 50 weiblichen Rentieren ausgewertet (vgl. ebd.). Für die Datenauswertung wurden 18.063 Positionen, welche immer mit einem Abstand von zwei Stunden gemessen wurden, genutzt (vgl. ebd.). Die Studie wurde im Norden Schwedens im Gebiet der Malå-Rentierhalter durchgeführt (vgl. ebd.: 9908). Das Studiengebiet wurde zu der Zeit von etwa 1.200-3.000 Tieren der Malå-Herden genutzt (vgl. ebd.). Die Arbeit von Skarin et. al. selbst erstreckte sich über eine Periode von sechs Jahren von 2010 bis 2016 (vgl. ebd.: 9910). Allerdings wurden auch schon Daten aus 2008/9 verwendet (vgl. ebd.). Wichtig war dies, da die Untersuchungen das Verhalten der Rentiere vor der Bauphase der Windturbinen, in der Bauphase und während der Betriebsphase analysierten (vgl. ebd.).
2010/11 wurden zwei Windkraftwerke mit einem Abstand von etwa vier Kilometer in der Mitte des Abkalbebereiches der Rentiere gebaut (vgl. ebd.: 9908). Die Untersuchungen zeigen eine Veränderung des Verhaltens der Rentiere während der Betriebsphase der Windkraftwerke (vgl. ebd.: 9911). Skarin et. al. konnten feststellen, dass die Tiere, während der Kalbzeit, die Gebiete rund um die Windturbinen meiden (vgl. ebd.). Das Gleiche konnte allerdings nicht über die Bauphase der Kraftwerke gesagt werden. Der Abstand, den die Rentiere während der Bauphase von den Turbinen hielten, variierte nicht signifikant (vgl. ebd.). Die Tiere fühlten sich also stärker von den kontinuierlichen Geräuschen der laufenden Turbinen gestört als von den Menschen und dem Baulärm in der Fertigungsphase (vgl. ebd. 9915). Ähnliche Beobachtungen konnten auch bei der Habitatsauswahl gemacht werden. Die Rentiere nutzten die Areale der Windkraftwerke und die Umgebung wesentlich häufiger vor der Konstruktion (vgl. ebd.: 9911). Hier galt dies sowohl für die Bau- als auch für die Betriebsphase (vgl. ebd.). Die Studie fand heraus, dass „the reindeer preferred areas where the constructed wind turbines later would be in sight and then switched to preferring areas where the wind turbines were out of sight during the operation phase“ (ebd.). Skarin et. al. folgern daraus, dass der Anblick und die Geräusche der Kraftwerke die weiblichen Rentiere störten (vgl. ebd.: 9912). Weiblichhe Rentiere sind während der Geburt und der Bindungsphase ihrer Kälber besonders empfindlich (vgl. ebd.). Die Forscher denken, dass die guten Hör- und Sehfähigkeiten der Fluchttiere dazu führen, dass sie sich von den Turbinen gestört fühlen und ihre Muster ändern (vgl. ebd.: 9914).
Die zweite Studie, die ich erläutern werde, ist von Eftestol et. al. von 2023. Auch in dieser Untersuchung geht es um den Einfluss von Windturbinen auf die Rentiere. Die Studie wurde in Finnmark County, Norwegen durchgeführt (vgl. Eftestol et. al. 2023: 56). Von April bis Oktober ist dies ein Areal, welches von Rentieren genutzt wird (vgl. ebd.). Dort stehen auch 15 Turbinen der Rákkocearru Windkraftwerke (vgl. ebd.). In Rákkoearrou leben acht Familien, welche Rentiere halten (vgl. ebd.). Die Mitglieder dieser Gemeinschaft waren auch Teil der Studie und wurden von den Forschern immer wieder kontaktiert und interviewt (vgl. ebd.: 57). Zusätzlich wurden auch in dieser Untersuchung die Rentierweibchen mit GPS-Halsbändern ausgestattet, um das Habitatsverhalten der Tiere zu dokumentieren (vgl. ebd. 58). So sollten am Ende die Erfahrungen und Beobachtungen der Rentierhalter im Zusammenspiel mit dem GPSDaten Aufschluss über das Verhalten der Tiere im Zusammenhang mit Windturbinen geben. Eftestol et. al. merken jedoch an, dass die Rentierhalter grundsätzlich eher negativ gegenüber der Konstruktion von Windturbinen auf den Weidegebieten ihrer Herden eingestellt sind (vgl. ebd.: 57). Die Forschung erstreckte sich von 2011 bis 2019, also über einen Zeitraum von acht Jahren (vgl. ebd.: 58). Die Studienzeit wurde in die verschiedenen Jahreszeiten eingeteilt. So konnte man vor allem die GPS-Daten selektieren, welche aus der Periode stammen, in welcher die Tiere freilaufen (vgl. ebd.). Auch in dieser Studie wurde die Habitatswahl der Rentiere vor der Konstruktion, während der Konstruktion und in der Operationsphase der Windturbinen verglichen (vgl. ebd.: 59). Dabei wurden die Auswirkungen auf verschiedene Nutzungsebenen gemessen. Einmal wurde der Einfluss auf die Revierskala und auch auf die Landschaftsskala gemessen (vgl. ebd.: 59).
Die Rentierzüchter berichteten von negativen Einflüssen der Windturbinen auf die Tiere (vgl. ebd.: 60). Sie berichteten, dass die Herden versuchten, die Kraftwerke zu vermeiden und ihre Habitatswahl änderten (vgl. ebd.). Sie schilderten auch einen höheren Weidedruck im südlichen Teil des Areales (vgl. ebd.). Generell empfanden die Hirten ein stark verändertes Verhalten innerhalb der verschiedenen Jahreszeiten im Vergleich zu der Zeit vor der Windturbinenkonstruktion (vgl. ebd.).
Die GPS-Daten waren da nicht ganz so deutlich. Die Forscher fanden negative sowie positive Effekte der Windturbinen, abhängig von der jeweiligen Jahreszeit (vgl. ebd. 64). Im Frühling mieden die Tiere die Turbinen während der Bau- und der Operationsphase auf der Revier- sowie auf der Landschaftsskala (vgl. ebd.). Im Sommer schienen die Tiere die Kraftwerke nicht auf der Landschaftsskala, sondern nur auf der Revierskala zu meiden (vgl. ebd.). Im Herbst mieden Rentiere die Windfarmen nach der Entwicklung auf der Landschaftsskala, aber nicht auf der Revierskala. Gegensätzliche Ergebnisse fand man während der Bauphase mit Vermeidung auf der Landschaftsskala und Anziehung auf der Revierskala (vgl. ebd.). Eftestol et. al. merken an, dass diese verschiedenen Vermeidungs- oder Anziehungsphasen während der unterschiedlichen Jahreszeiten auch durch weitere Faktoren beeinflusst werden konnten (vgl.

ebd.). Beispielsweise könnten die unterschiedlichen Verhaltensweisen auch durch kürzere Tage im Herbst und eine schlechtere Sicht durch Nebel erklärt werden (vgl. ebd.: 66). Generell zeigen die Untersuchungen, dass man davon ausgehen kann, dass die Tiere besonders vor und während der Kalbzeit empfindlich auf die Turbinen reagieren (vgl. ebd.: 65). Dies wird sowohl von den Rentierzüchtern als auch durch die Ergebnisse der vorherigen Studie von Skarin et. al. unterstützt (vgl. ebd.).
Zusammenfassend kann man sagen, dass die beiden Studien eine Tendenz zeigen. Beide Untersuchungen konkludieren, dass die Rentiere sich in gewissen Situationen scheinbar so weit von den Windkraftwerken gestört fühlen, dass sie diese meiden. Dies passiert jedoch nicht ganzjährlich. Bei einer starken Bebauung der Weidegebiete mit Windturbinen in der Zukunft könnte dies zu Problemen führen. Vermeidungsstrategien der Tiere könnten so nur erschwert erfolgen. Ein verändertes Verhalten der Tiere könnte die traditionelle Rentierhaltung der Sami beeinflussen und noch schwieriger gestalten.
Zusätzlich ist die Haltung vieler Rentierhalter abweisend. Sie beobachten abwegiges Verhalten in ihren Herden und fühlen sich von den Windturbinen auf ihren Weidegebieten gestört. Ihre Expertise auf diesem Gebiet sollte in Entscheidungsprozesse einfließen, welche ihr Gewerbe und ihre traditionelle Lebensweise beeinflusst.

4.4 Schwedens Kolonialismus in Grün

Aus meinen vorherigen Kapiteln schlussfolgernd, werde ich nun eine Einschätzung darüber erheben, ob der Umgang des schwedischen Staates mit den Sami mit dem Konzept des grünen Kolonialismus einhergeht. Ich beziehe mich hier spezifisch auf die Problematik, neue Windkraftprojekte mit den Interessen der Sami zusammenzubringen.
Schwedens Druck, ihren Anteil an erneuerbaren Energien weiter zu erhöhen, ist vehement. Sogar fünf Jahre schneller als im grünen Deal vereinbart, möchte das Land einen Energiesektor schaffen, welcher komplett regenerativ agiert. Windenergie ist dabei ein maßgeblicher Faktor. Die Gegebenheiten für große Windparks in Schweden stimmen. Schweden ist spärlich besiedelt. In der Europäischen Union hat nur Finnland eine noch geringere Bevölkerungsdichte (vgl. Urmersbach 2023). Besonders der Norden Schwedens und damit die Arktis haben das Potenzial, einen großen Teil der benötigten Windkraft zu tragen. Die Anwesenheit der Sami auf diesem Gebiet macht es für den Staat schwierig, die eigenen Pläne umzusetzen. Wie im vorherigen Kapitel erläutert, reagieren Rentiere teilweise empfindlich auf die Windturbinen und meiden diese. Dazu kommt die Ablehnung der Sami-Rentierhalter gegenüber der Bebauung ihres traditionellen Landes.
Zusätzlich zeigen Ergebnisse aus Analysen über Gerichtsverfahren von Sami gegen Energiekonzerne eine weitere Problematik auf. Cambou et. al. haben sich 2022 mit den Gerichtsfällen Pauträsk und Norrbäck beschäftigt. Beides sind Fälle, in denen samische Rentierhalter gegen die Errichtung von Windturbinen auf ihren Gebieten geklagt haben und die Prozesse verloren haben. Cambou et. al. konkludierten, dass die Rentierhaltung vor Gericht wie ein herkömmliches Gewerbe betrachtet wurde (vgl. Cambou et. al. 2022: 50). Zu ähnlichen Ergebnissen kam Cambou schon 2020 In einem Fachzeitschriftenartikel, welcher ebenfalls Gerichtsprozesse von Windkraftkonzernen mit Sami-Rentierhaltern untersuchte. In dem Fall untersuchte sie allerdings auch Fälle, in denen das Urteil zum Vorteil der Rentierhalter ausfiel. Auch hier kam sie zu ähnlichen Ergebnissen. Sie kritisierte, dass die Gerichte eher bereit waren, die Forderungen der Energiekonzerne abzulehnen, wenn dies den Rentierhaltern wirtschaftlich schadete (vgl. Cambou 2020: 325). Diese Vorgehensweise der schwedischen Gerichte führt dazu, dass nur wirtschaftlich profitable Rentierhalter ihrer traditionellen Lebensweise adäquat nachgehen können. Der Fokus der Gerichte sollte allerdings auf dem Schutz der indigenen Identitäten liegen.
2016 kritisierte der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen den Umgang Schwedens mit den Sami. Der Rat missbilligt die eingeschränkten Rechte der Sami in Bezug auf ihr traditionelles Gebiet und die Nutzung von Ressourcen (vgl. Anaya/UN-Menschenrechtsrat 2011: 11). Wie auch Cambou kritisiert der Menschenrechtsrat, dass die Rentierhaltung oft nur aus einer wirtschaftlichen Sicht betrachtet wird (vgl. ebd.: 13). Es wird außerdem angemerkt, dass die Interessen der Sami so oft gegen die des Staates abgewogen werden und dabei verlieren (vgl. ebd.). Der Rat sieht den schwedischen Environmental Code, welcher bei einem solchen Interessenkonflikt genutzt wird, nicht als faire rechtliche Grundlage für das indigene Volk an (vgl. ebd.). Er rät dem Staat, dass die Hürden traditionelles Sami-Land nutzen zu dürfen, höher sein müssen und in Streitfällen den Sami Repräsentanten Rechtshilfen zustehen sollten (vgl. ebd.: 21). In Bezug auf die Rechte an Ressourcen und Land konkludierte der Rat, dass Schweden
„[…] not in line with the international human rights obligations and commitments […]“ (ebd.: 13) ist.
In der Historie waren die Sami immer wieder gezwungen, ihre Art zu leben, anzupassen und zu retten. Erlaubt man den Energiekonzernen immer weiter das traditionelle Gebiet des Volkes zu nutzen, geht man das Risiko ein, weitere Traditionen und indigene Lebensweisen zu beeinflussen oder sogar zu gefährden. Eine Wende der Energieversorgung muss an einen gerechten Wandel gebunden sein. Meine Analyseergebnisse spiegeln dies allerdings nicht wider. Der schwedische Staat riskiert, dass finanzielle sowie umweltpolitische Entscheidungen über die Interessen der Sami gestellt werden. In diesem speziellen Fall konkludiere ich, dass man dem schwedischen Staat durchaus vorwerfen kann, grünen Kolonialismus zuzulassen. Durch den ungenügenden Schutz der Sami und ihrer Lebensweise werden Mechanismen des grünen Kolonialismus geduldet.
Es gibt allerdings mehrere Maßnahmen, welche dieses Problem lösen könnten. Einmal ist es wichtig, die Forschung in Bezug auf die Auswirkungen von Windturbinen auf die Rentiere stark zu fördern. Eine klarere Eingrenzung, in welchem Abstand und zu welcher Jahreszeit die Turbinen störend auf die Tiere wirken, ist essenziell. So könnte zukünftig bestimmt werden, ob die Koexistenz der Herden und der Turbinen auf traditionellem Sami-Land überhaupt möglich ist. Sollte dies machbar sein, könnte dann in enger Zusammenarbeit mit den Rentierhaltern Schutzmaßnahmen ausgearbeitet werden, welche tatsächlich wirksam sind. Weiter muss die traditionelle Rentierzucht vor Gericht nicht nur als Gewerbe, sondern vor allem als indigene Lebensweise anerkannt werden. Wie der UN-Menschenrechtsrat auch konkludierte, ist es unabdinglich, detaillierte Gesetze im Umgang mit der Rentierhaltung auszuarbeiten.

5 Kolumbianische Kohle in Deutschland

Der aktuelle Plan der deutschen Bundesregierung ist es, bis 2038 aus der Kohleindustrie auszusteigen. Bis dahin soll auch das letzte Kohlekraftwerk der Republik abgeschaltet werden. Die Fraktionspartei Bündnis90/Die Grünen verlangt den Ausstieg sogar noch deutlich früher, bis 2030. Heutzutage werden in Deutschland selbst allerdings sowohl noch Braun- und Steinkohle produziert sowie auch aus dem Ausland importiert. 2022 wurden knapp 35 Millionen Tonnen Steinkohle aus Drittländern importiert (vgl. Statistisches Bundesamt 2023). 2021 stammte die Hälfte dieser Einfuhren noch aus Russland (vgl. ebd.). Im Folgejahr lieferte die russische Föderation deutlich weniger Rohstoffe. Das liegt hauptsächlich an dem 2022 beschlossenen Kohle-Embargo, welches als Sanktion gegen Russland verhängt wurde (vgl. tagesschau.de 2022). Ausgleichend wirkten dann Lieferungen aus den USA, Australien und Kolumbien (vgl. Statistisches Bundesamt 2023). Die Importe aus Kolumbien stiegen verhältnismäßig am stärksten an. Statt 1,7 Millionen Tonnen wie 2021 wurden im folgenden Jahr ca. 5,7 Millionen Tonnen Steinkohle aus Kolumbien nach Deutschland importiert (vgl. ebd.).
Kohlelieferungen aus dem südamerikanischen Land sind nicht unumstritten. Steinkohleimporte aus Kolumbien werden gerne plakativ als „Blutkohle“ bezeichnet. Damit werden die verschiedenen umweltlichen und sozialen Probleme, welche mit diesen Lieferungen einhergehen, kritisiert. Das gesamte Ausmaß dieser Missstände ist vielfältig und überschreitet das Ausmaß dieser Arbeit. Aus diesem Grund werde ich mich im Folgenden auf die Auswirkungen der größten kolumbianischen Mine El Cerrejón auf die indigene Gemeinschaft der Wayúu konzentrieren. Ob die Unterstützung der Kohlemine durch Deutschland eine Form des grünen Kolonialismus darstellt, erläutere ich am Ende dieses Kapitels.

5.1 Die Wayúu und El Cerrejón

Die Wayúu sind eine in Venezuela und Kolumbien ansässige indigene Gemeinschaft (vgl. Szegedy-Maszák 2008: 300). In Kolumbien leben sie im Departamento La Guajira, welches im Norden des Landes liegt und an Venezuela und das Karibische Meer grenzt (vgl. ebd.). Etwa die Hälfte der in La Guajira lebenden Menschen sind indigenen Ursprungs (vgl. Niebank et. al. 2017: 11). Die Wayúu sind das größte indigene Volk in ganz Kolumbien (vgl. Noguera Saavedra 2016: 35). Sie leben in Clans, welche matrilinear aufgebaut sind (vgl. Gonzalez et. al. 2018: 462). Beispielsweise werden so Besitztümer, Ämter oder andere soziale Positionen nur über die weibliche Erblinie weitergegeben. Jeder Clan lebt in seinem eigenen Territorium mit komplexen Sozialstrukturen, welche stark durch ihre Traditionen und Mythen geprägt sind (vgl. ebd.). Diese einzelnen Gemeinschaften werden symbolisch durch ein spezifisches Tier repräsentiert (vgl. ebd.). Sie leben in Hüttensiedlungen, welche traditionell als piichipala oder miichipala bezeichnet werden (vgl. ebd.). Die Wayúu sprechen eine Sprache, welche sich Wayuunaiki nennt (vgl. ebd.: 462). Sie gehört zu den arawakischen Sprachen, welche aus Südamerika und der Karibik kommen und von verschiedenen indigenen Völkern gesprochen werden (vgl. ebd.). Allerdings sprechen die meisten Wayúu auch spanisch (vgl. ebd.). Das Volk ist finanziell vor allem von der Viehzucht abhängig (vgl. Noguera Saavedra 2016: 35). Die Anzahl der Tiere in den Besitztümern der Clans repräsentieren ihren Wohlstand (vgl. ebd.). Besser bekannt sind sie allerdings für ihre traditionelle Weberei (vgl. ebd.). Diese Arbeit wird oft als Nebentätigkeit oder während des Reisens vollführt und ist ein essenzieller Bestandteil der Wayúu-Kultur (vgl. ebd.). Typisch sind sehr farbenfrohe Taschen, welche die Traditionen und Spiritualität des Volkes repräsentieren sollen (vgl. ebd.: 37). Vor allem für Frauen ist es eine Pflicht, die verschiedenen komplizierten Techniken dieser Kunst zu beherrschen (vgl. ebd.).
Die spirituelle Lebensweise der Wayúu basiert auf dem Gott Maleiwa (vgl. Gonzalez et. al. 2018: 462). Für das Volk ist er der Gott, der die Welt erschaffen hat. Dieser spielt zwar die zentrale Rolle in der Kultur der Wayúu, stellt aber nicht die einzige Gottheit dieses Glaubens dar.
In La Guajira, auf dem traditionellen Gebiet der Wayúu, steht allerdings auch einer der größten Kohletagebaue der Welt. El Cerrejón ist der Name dieser Mine, welche vor allem Kohle für den Export ins Ausland hervorbringt (vgl. Betancur/Villa 2016: 3). Eröffnet wurde die Mine 1976. Ursprünglich sollte der Kohleabbau nur bis 2009 stattfinden, wurde 1999 allerdings bis 2034 verlängert (vgl. ebd.). Die Koexistenz der Wayúu und des Kohletagebaus bringt einige Konflikte mit sich. Im Folgenden stelle ich die aktuelle Situation der Wayúu im Zusammenhang mit der Mine auf ihrem Land dar.

5.2 Problemregion La Guajira

Die Konflikte auf dem traditionellen Gebiet der Wayúu sind vielschichtig. Anfangen werde ich damit, einen Überblick über die aktuellen Verhältnisse in La Guajira darzustellen.
Das nördlichste Departamento des Landes ist Standpunkt von Cerrejón und damit einem der wirtschaftlich wichtigsten Kohletagebaus in Kolumbien. 2017 trägt die Mine 2 % zum nationalen Bruttoinlandsprodukt im Sektor für Bergbau und Steinbruch bei (vgl. Ulloa 2020: 10). In La Guajira selbst ist sie im gleichen Jahr für 44 % des BIPs verantwortlich (vgl. ebd.). Cerrejón ist also der treibende Wirtschaftsfaktor der Region. Konträr dazu ist der allgemeine Zustand des Departamentos und der Bevölkerung. Trotz der ökonomischen Bedeutsamkeit der Mine macht Cerrejón nur 4 % der Arbeitsplätze in La Guajira aus (vgl. Suárez-Ricaurte 2022: 857). Nach eigenen Angaben beschäftigt das Unternehmen etwa 10.000 Mitarbeiter in El Cerrejón (vgl. Glencore 2021: 1). Obwohl die Bevölkerung des Departamentos zu etwa 50 % indigener oder afrokolumbianischer Abstammung sind, haben nur circa 3 % der Minenarbeiter_innen einen solchen Hintergrund (vgl. Niebank et. al. 2017: 11). Die Arbeitslosenrate der Hauptstadt von La Guajira, Riohacha, betrug im Jahre 2021 22,7 % und ist damit die höchste des Landes (vgl. acaps 2022: 2). Auch bei der Armutsbekämpfung weist die Gegend erhebliche Defizite auf. 2021 war La Guajira mit 67,4 % das Departamento mit der höchsten finanziellen Armut in Kolumbien (vgl. Díaz o. D.). Zudem ist die Kindersterblichkeit durch Mangelernährung in La Guajira die Höchste im ganzen Land (vgl. Vega-Araújo/Heffron 2022: 2). 45 von 100.000 Kindern unter fünf Jahren im Departamento sterben dadurch, dass sie keinen Zugang zu sauberem Wasser und adäquater Nahrung haben (vgl. ebd.). Besonders Kinder mit Wayúu-Abstammung sind von diesem Zustand betroffen (vgl. Contreras et. al. 2020: 100).
So scheint es, als würde die lokale Bevölkerung in La Guajira eher weniger von den ca. 2,5
Milliarden US-Dollar profitieren, die der Kohletagebau als Jahresumsatz macht (vgl. SuárezRicaurte 2022: 857).
Im Folgenden werde ich explizite Konflikte, die das Abbauen von Steinkohle auf dem Gebiet mit sich bringt, erläutern und die Auswirkungen für die Wayúu Gemeinschaft darstellen. So kann ich analysieren, inwiefern Cerrejón für die problematische Wasserversorgung der ansässigen Bevölkerung in La Guajira verantwortlich ist.
In Anbetracht der Begrenzungen meiner Bachelorarbeit habe ich mich bewusst dazu entschieden, mich auf die Wasserproblematik in La Guajira zu konzentrieren. Dieses Thema ist eines der am besten erforschten und ermöglicht es mir, eine fundierte Analyse und Bewertung vorzunehmen. Angesichts der Komplexität und des Umfangs anderer sozialer, wirtschaftlicher und Umweltprobleme in La Guajira wäre es unrealistisch, alle Aspekte in meiner begrenzten Arbeit abzudecken.

5.3 Wasserherausforderungen für die Wayúu

Die Versorgung mit Wasser ist in La Guajira immer wieder problematisch. Die Region wird hauptsächlich durch den Fluss Ranchería versorgt (vgl. Banks 2017: 63). 2010 sollte ein Damm in diesem Fluss Abhilfe schaffen und das dringend benötigte Wasser besser verteilen (vgl. Contreras et. al. 2020: 89). Dieses Vorhaben blieb allerdings erfolglos. Die Leitungen konnten das Wasser nicht bis ins Landesinnere führen, wo es am meisten benötigt wurde (vgl. ebd.). Eine Dürre von 2012 bis 2016 verschlimmerte die Situation im Departamento zusätzlich. Ausgelöst wurde diese durch das Wetterphänomen El Niño. Als El Niño bezeichnet man ein Klimaphänomen, welches an der tropischen Westküste Südamerikas auftritt (vgl. Wetter und Klima – Deutscher Wetterdienst o. D.). Durch Zirkulationsanomalien, welche in einem Abstand von ca. vier Jahren auftreten, ist El Niño für Auswirkungen verantwortlich, welche besonders in Südamerika, aber teilweise auch weltweit spürbar sind (vgl. ebd.). Besonders für Menschen mit indigenem Hintergrund waren die Effekte der Dürre deutlich spürbar (vgl. Contreras et. al. 2020: 87). El Cerrejón verbraucht circa 17 Millionen Liter Wasser am Tag (vgl. ebd.: 89). In La Guajira hat nur die Hauptmine und der Hafen von El Cerrejón ununterbrochen Zugang zu Trinkwasser (vgl. Banks 2017: 71). Dagegen haben die Wayúu keine 21 Liter Wasser pro Tag und pro Person zur Verfügung (vgl. ebd.). Zum Vergleich, die Mindestanforderung der Vereinten Nationen für Wasser liegt bei 50 Litern pro Tag und pro Person (vgl. United Nations, o. D.)
Die Verteilung des Wassers ist also ein großer Konflikt im Departamento. Dieser wurde erneut deutlich, als El Cerrejón die Erlaubnis bekam, den Arroyo Bruno zu verändern (vgl. Jaramillo et. al. 2022: 15). Der Arroyo Bruno ist ein Zufluss des Ranchería Flusses (vgl. Banks 2017: 62). Um an 35 Millionen Tonnen Kohle zu kommen, sollte der Fluss 700 Meter in den Norden verlegt werden (vgl. Contreras et. al. 2020: 89, vgl. Jaramillo et. al. 2022: 15). Dieses Vorhaben erregte großes öffentliches Interesse. Forscher_innen der University of La Guajira sprachen sich gegen das Projekt aus und ermahnten, dass die Folgen teilweise erst weit in der Zukunft zu spüren seien (vgl. Jaramillo et. al. 2022: 15). Sie gaben an, dass die Auswirkungen auch dann noch präsent wären, wenn die Mine 2034 geschlossen werden soll und die Bevölkerung allein mit den Konsequenzen umgehen muss (vgl. ebd.). 2015 verklagten drei Anführer von WayúuGemeinschaften Regierungs- und Umweltbehörden sowie El Cerrejón (vgl. Gómez-Betancur 2020: 775). Sie argumentierten, dass nicht abgeschätzt werden kann, inwiefern das Projekt den Arroyo Bruno und somit auch die Lebensweise der Wayúu beeinflussen wird (vgl. ebd.). Das Gericht konkludierte, dass das Leben der Wayúu in einem hohen Maße von der Existenz des Flusses abhängig ist (vgl. ebd.). Das Volk profitiert vom gesamten Ökosystem des Flusses. Der Arroyo Bruno ist eine der letzten Zonen in La Guajira, an der noch ein tropischer Trockenwald zu finden ist (vgl. Banks 2017: 62). Dort können die Wayúu Ressourcen für ihre traditionelle Medizin finden, sowie Fisch und Früchte (vgl. Gómez-Betancur 2020: 775). Die klassische
Lebensweise der Wayúu beinhaltet außerdem den Austausch von Gütern mit anderen WayúuKommunen. Die Bäume entlang des Arroyo Bruno schützen sie während ihrer langen Wanderungen zu anderen Gemeinschaften (vgl. ebd.). Ein weiterer Konflikt, welcher angesprochen werden muss, wenn man über die Beziehung der Wayúu mit Wasser redet, ist ihr spirituelles Glaubenssystem. Wasser ist für sie ein „[…] living being, which gives life to the people and the universe.“ (Gonzalez et. al. 2018: 462). Für die Wayúu ist in jeder Wasserressource eine Art göttliche Präsenz zu finden (vgl. ebd.). So ist es auch oft essenzieller Bestandteil spiritueller Praktiken (vgl. Gómez-Betancur 2020: 776). Die Gefährdung einer der letzten verlässlichen Wasserressourcen für viele Wayúu, könnte so also aktiv auch ein Risiko für die Lebensweise und indigenen Praktiken des Volkes darstellen. Die Entscheidung des Gerichts unterstützte in diesem Fall die Interessen der Wayúu, ihre Rechte zu Wasser und den Schutz der Biodiversität des Arroyo Bruno (vgl. Gómez-Betancur 2020: 776). Dieses Urteil konnte die Veränderung des Arroyo Bruno zwar nicht mehr verhindern, stoppte allerdings den geplanten Kohleabbau im alten Flussbett (vgl. Jaramillo et. al. 2022: 20). Der Konflikt ist bis heute nicht vollständig gelöst. Menschenrechtsorganisationen aus Kolumbien berichteten 2022 davon, dass Regierungseinrichtungen El Cerrejón schlussendlich entgegen der Entscheidung des Gerichtes die Erlaubnis für ihr Projekt erteilt haben (vgl. ABColombia 2022).
Die Diskussion um den Arroyo Bruno in La Guajira zeigt den Kampf der Wayúu um Wasser, in einer Gegend, die zu 75 % aus wüstenähnlichem Land besteht (vgl. Gómez-Betancur 2020: 775). Auch zeigt es die ungleichen Machtverhältnisse auf. Obwohl das Gericht die Wayúu in ihren Anliegen unterstützte, wurde der Fluss dennoch umgelegt und die Zukunft ist unklar. Dass der Arroyo Bruno künftig für den Kohleabbau genutzt wird, ist sehr wahrscheinlich. Diese Konflikte werden nur noch deutlicher, wenn man die direkte Einflussnahme von El Cerrejón auf die Wasserverteilung in der Region betrachtet. Neben der Regierung ist das Unternehmen Hauptverantwortlicher, wenn es um die Versorgung mit Wasser in La Guajira geht. Bevor der Kohletagebau im Departamento eröffnete, war es der Bevölkerung möglich, auch während einer Dürre an ausreichend Wasser zu kommen. Durch die Wanderung zu anderen Gebieten, welche heute Teil von El Cerrejón sind, oder auch die Nutzung von frei zugänglichen Brunnen und anderen Wasserressourcen, konnten die Auswirkungen bei einer Wasserknappheit relativ gering gehalten werden (vgl. Banks 2017: 72). Heutzutage sind viele Ressourcen der Region privatisiert und schlechter zugänglich, sodass die Allgemeinheit auf Hilfen vom Staat angewiesen ist (vgl. ebd.). Da dies allerdings nur unzureichend funktioniert, ist El Cerrejón der zweite große Akteur, wenn es um die Versorgung mit Wasser geht. Im Namen der „El Cerrejón Water
Foundation“ besitzt das Unternehmen viele Wassertanks, die zur Versorgung der Kommunen genutzt werden (vgl. ebd.). Während die Regierung sich nur ungenügend um die Instandhaltung von Wasserressourcen kümmert, genießt El Cerrejón einen besseren Ruf (vgl. ebd.: 73). Sie stellen moderne Technik bereit und warten die vorhandenen Systeme besser (vgl. ebd.). Die Einmischung des Unternehmens bei der Grundversorgung mit Wasser bringt jedoch auch Kritik mit sich. Bewohner der Region sind überzeugt, dass dies die staatliche Verantwortung minimiert, sodass dieser weniger hilfreich interveniert oder sich gänzlich zurückzieht (vgl. ebd.). El Cerrejón hat jedoch keine rechtliche Bindung, die Wasserversorgung vor Ort weiterzuführen. Somit sind viele Einwohner von La Guajira abhängig von den Entscheidungen des Unternehmens (vgl. ebd.). Diese Art von Macht, die dem Konzern damit gegeben wird, birgt auch die Gefahr erpressbar zu sein. Teile der Bevölkerung berichten davon, dass die Wasserversorgung auch als Druckmittel bei Umsiedlungsprozessen genutzt wird (vgl. ebd.: 74). Die Abwesenheit des Staates, wenn es um die Grundversorgung der Bevölkerung geht, sorgt dafür, dass große Teile des Departamentos der Willkür eines Großkonzerns ausgeliefert sind, während dieser dabei noch seinen Ruf verbessern kann. Das Unternehmen, welches also für einen Großteil der Wasserknappheit und Ungleichverteilung im Departamento verantwortlich ist, ist auch gleichzeitig oft die einzige Hilfe.

5.4 Die Verantwortung der kolumbianischen Regierung

Die vorliegende Aufarbeitung der Zustände in La Guajira zeigen, dass El Cerrejón mitverantwortlich für die unzureichende Wasserversorgung des Departamentos ist. Durch die regelmäßigen Dürren und die wenigen Trinkwasserquellen, ist die Region grundsätzlich anfällig für Wasserknappheiten. Der riesige Kohletagebau verbraucht durch industrielle Zwecke einen Großteil des vorhandenen Wassers. Besonders die ländlichen Gebiete, welche vor allem von der indigenen Bevölkerung des Gebietes bewohnt sind, werden so von einem ausreichenden Zugang zu Wasser abgeschnitten. Zusätzlich beeinflusst das Unternehmen die natürlichen Verläufe der Flüsse, welche eine essenzielle Rolle in der Lebensweise und Versorgung der Wayúu spielen. So gefährdet der Konzern die indigene Lebensweise des Volkes stark und verletzt deren Rechte auf eine adäquate Versorgung mit Wasser. Zusätzlich wird auch die Ausübung der spirituellen Gebräuche der Wayúu erschwert und ihre besondere Beziehung zu Wasserquellen beeinträchtigt. Die Einmischung in die Grundversorgung mit Wasser birgt viele Risiken für die ansässige Bevölkerung. Es zeigt aber auch ein weiteres Problem auf, welches angesprochen werden muss.
Denn auch wenn die Einwohner von La Guajira unter dem Einfluss von El Cerrejón leidet, liegt die Hauptverantwortlichkeit bei der regionalen- oder sogar nationalen Regierung. Der mangelhafte Zustand des Departamentos in vielen Bereichen ist nicht allein durch die Kohlemine zu erklären. Anhand des Wassermanagements lässt sich erkennen, dass der Staat sich hier aus der Verantwortlichkeit zurückzieht und El Cerrejón unverhältnismäßig viel Macht zuspricht. Ein einziges Unternehmen sollte nicht die Kompetenzen haben, über die grundsätzliche Versorgung mehrerer Kommunen mit Wasser zu entscheiden. Die kolumbianische Regierung muss in Zukunft verschiedene Kontrollmechanismen implementieren, welche ausschließen, dass Großkonzerne ihre Macht missbrauchen. Die Rechte der ansässigen Bevölkerung und in diesem Fall besonders hervorzuheben, die von indigenen Bevölkerungen, müssen geschützt und über wirtschaftliche Interessen gestellt werden. Ausbeuterische Praktiken von El Cerrejón und das Versäumnis der kolumbianischen Regierung, die Interessen der indigenen Gemeinschaften in La Guajira in den Vordergrund zu stellen, tragen zu einer ungerechten Dynamik bei.
5.5 Deutschlands Verantwortung und grüner Kolonialismus
Im Folgenden werde ich der Frage nachgehen, inwiefern Deutschland verantwortlich für die Zustände in La Guajira gemacht werden kann und ob dies auch eine Form des grünen Kolonialismus darstellt.
Die importierte Kohle aus Kolumbien hat in Deutschland schon einen schlechten Ruf. Als Anfang des Jahres über einen stark erhöhten Einkauf von kolumbianischer Kohle in die BRD berichtet wurde, ging dies nicht ohne Kritik einher. Das ZDF machte in einem Artikel über die angestiegenen Importe von Steinkohle auch auf die Zustände in La Guajira und der problematischen Stellung von El Cerrejón aufmerksam (vgl. Käufer 2023). Die Konflikte in dem Entwicklungsland sind auch hierzulande bekannt. Das Gesetz „über die unternehmerischen
Sorgfaltspflichten in Lieferketten“ trat Anfang des Jahres in Kraft. Eigentlich ist es dafür da, Menschenrechtsverletzungen und Umweltbelastungen innerhalb einer Lieferkette zu verhindern und deutsche Unternehmen so mehr in die Verantwortung zu ziehen (§ 3 Abs. 1 S. 1 LkSG). 2022 stellte die Fraktion DIE LINKE in einer Anfrage an die Bundesregierung die geplante Erhöhung der Kohleimporte aus Kolumbien infrage. In einer Antwort auf eine Frage über die Verantwortung für die Menschenrechtsverletzungen verweist die Bundesregierung auch auf dieses Gesetz. Auf eine weitere Anfrage über die Kenntnisse der Bundesregierung über die aktuellen Zustände vor Ort, wird bestätigt, dass die Bevölkerung in La Guajira unter diversen Verletzungen ihrer Rechte leidet. Gleichzeitig werden diese Problematiken relativiert und die Bemühungen des Kohlekonzerns betont, die Menschen- und Umweltrechtsverletzungen der letzten Jahre rückgängig zu machen.6 Insgesamt stellen die Antworten die Situation in La Guajira in einem Licht dar, welches ich durch meine Recherchen in diesem Kapitel nicht bestätigen kann. Die Problematiken in dem Departamento sind auch gegenwärtig noch gravierend. Die sehr aktuelle Umlegung des Arroyo Bruno, entgegen einem Gerichtsurteil, zeigt, dass die sozio- und umweltpolitischen Konflikte der Region kein Phänomen der Vergangenheit sind. Durch die Verlegung des Arroyo Bruno und die damit beabsichtigte Erweiterung der Mine, werden die Risiken für die ansässige Bevölkerung weiter erhöht. Das neue Lieferkettengesetz hat nicht zu einem neuen Umgang mit der importierten Steinkohle geführt. Gegenteilig werden seit diesem Jahr von immer weiteren Kohledeals mit dem kolumbianischen Präsidenten berichtet.
Dies könnte unter anderem an den eigenen umweltpolitischen Interessen Deutschlands liegen. Um den Kohleausstieg bis 2038 oder sogar 2030 bewältigen zu können, ist die BRD auf Importe aus dem Ausland angewiesen. Aus einer Untersuchung von 2022 geht hervor, dass die Stromversorgung bis zum Kohleausstieg auch ohne russische Importe bis 2030 gesichert werden kann (vgl. Hauenstein et. al. 2022: 7). Damit wäre dann auch die Erfüllung des Kohleausstiegsgesetzes gesichert. Erreichen kann Deutschland dieses Ziel allerdings nur durch erhöhte Importe aus dem Ausland (vgl. ebd.). Wie in Kapitel fünf dargestellt, werden die fehlenden russischen Importe momentan am stärksten durch die aus Kolumbien ersetzt.
Durch die Priorisierung der Bundesregierung, die Lieferquoten für Kohle beständig zu halten und die damit einhergehende Förderung von kolumbianischer Steinkohle kann man der Regierung eine Art koloniale Ausbeutung unterstellen. Die Konflikte in La Guajira sind ausreichend dokumentiert und durchaus bekannt. Eine Relativierung dieser ist im Hinblick auf die aktuellen Geschehnisse und die Menschenrechtsverletzungen durchaus fragwürdig. Bezieht man auch noch ein, dass die umweltpolitischen Ziele der BRD ohne diese Ausbeutung nicht oder schwieriger erreichbar wären, kann auch hier eine Art grüner Kolonialismus unterstellt werden.
Die Situation stellt sich hier anders als in meinem Kapitel vier über die Sami in Schweden dar. In diesem Kapitel habe ich konkludiert, dass eine schwedische Minderheit direkt unter den Einflüssen der Umweltpolitik der eigenen Regierung leidet. Die Wayúu in Kolumbien sind kein deutsches indigenes Volk, und trotzdem kann man auch hier den Vorwurf des grünen Kolonialismus machen. Deutschland nutzt die Ressourcen von Kolumbien, um Ziele auch hinsichtlich der eigenen Umweltpolitik zu erfüllen. Dabei werden die Auswirkungen im Herkunftsland der Kohleressourcen in Kauf genommen und durch erhöhte Importe weiter gefördert. Zusätzlich ist Deutschland einer der reichsten Industriestaaten der Welt und sollte diese Macht verantwortungsvoll gebrauchen. Um unabhängigere Berichte über die Situation in La Guajira zu erhalten, sollte die BRD regelmäßige Untersuchungen in dem Gebiet vornehmen. Zusätzlich sollte auch beachtet werden, dass Umweltschutz kein nationales Ziel sein darf. Man kann umweltschädigende Praktiken nicht in ein anderes Land auslagern. Ob klimaschädlicher Kohleabbau in Deutschland oder in Kolumbien stattfindet, wird nichts an den Auswirkungen ändern, die dies auf den Klimawandel haben wird.

6 Der Green Deal und ein gerechter Wandel

Nachdem ich mich diesen zwei Beispielen für grünen Kolonialismus in der EU gewidmet habe, untersuche ich, ob der europäische Green Deal zukünftig das Potenzial hat, diese Konflikte zu lösen.
Als die übergeordnete Problematik meines ersten Beispiels, welches ich in Kapitel vier besprochen habe, sehe ich das Missachten indigener Lebensweisen. Im Green Deal selbst werden indigene Völker nicht erwähnt. Stattdessen werden soziale Konsequenzen, welche mit der neuen Klimapolitik der EU einhergehen, generell unter dem Aspekt des „gerechten Wandels“ behandelt (vgl. Europäische Kommission 2019: 2). Bürger_innen sollen „[…] in all ihrer Vielfalt […]“ (ebd.) miteinbezogen werden. Man könnte also annehmen, dass damit auch indigene Völkergruppen mitgemeint und ihre Rechte damit geschützt sind. Mit den Ergebnissen meiner Recherchen würde ich dagegen argumentieren. Diese verallgemeinerte Formulierung wird den Interessen indigener Gemeinschaften nicht gerecht. Klimagerechtigkeit wird im Green Deal vor allem durch Finanzierungspläne gelöst. Beispielsweise soll der Klimasozialfonds Menschen und Regionen helfen, dessen Wirtschaft durch einen umweltgerechten Wandel stark beeinflusst wäre (vgl. Aktuelles Europäisches Parlament 2022). Dieser Ansatz lässt sich aber nicht so einfach mit den Interessen indigener Völker vereinbaren. Der Schutz von speziellen und traditionellen Lebensweisen sollte einen eigenständigen Punkt im Green Deal darstellen. Dies kann nicht durch monetäre Mittel ausgeglichen werden. Außerdem muss der Schutz auch dann verpflichtend sein, wenn die Bräuche der Völker nicht mit den Interessen der Europäischen Union vereinbar sind.
Im Beispiel der Samí muss die angemessene Ausübung der Rentierzucht gesichert sein, auch wenn dies Schwedens Streben nach einem klimaneutralen Energiesektor erschweren könnte. Die Gefahr für neokolonialistische Ausbeutung, die mit dem Bestreben eines grünen Wandels einhergehen, müssen transparent kommuniziert und verhindert werden. Es muss klare Vorschriften für die einzelnen Mitgliedsstaaten geben, betroffene indigene Völker an Entscheidungen zu beteiligen. Da dies bisher nicht der Fall ist, schützt der Green Deal die Rechte indigener Gemeinschaften und deren traditionellen Lebensweisen nur unzureichend. Das Streben nach einem gerechten Wandel, wie es die Kommission immer wieder betont, ist zwar der Grundstein dafür, muss aber noch weiter differenziert und präzisiert werden.
Ein weiteres Problem, welches ich durch meine Recherchen ausmachen konnte, sind unfaire Lieferketten mit internationalen Handelspartnern, welche potenziell Menschenrechte missachten und einen unethischen Umgang mit der Umwelt fördern. Im Green Deal werden Aspekte der internationalen Zusammenarbeit unter „Die EU als globaler Vorreiter“ zusammengefasst (vgl. Europäische Kommission 2019: 24). Die EU plant „[…] grüne Bündnisse […]“ (ebd.: 25) mit anderen Regionen der Welt. Dazu gehört auch Lateinamerika (vgl. ebd.). In diesem Zusammenhang soll der „gerechte Wandel“ auch für Drittstaaten gelten. Länder, die durch klimafreundliche Maßnahmen vor sozialen und wirtschaftlichen Herausforderungen stehen, sollen von der EU unterstützt werden (vgl. ebd.: 26). Um einen Übergang in eine klimaneutrale Wirtschaft auch international anzukurbeln, setzt die EU auf den eigenen handelspolitischen Einfluss (vgl. ebd.). Durch Handelsbeziehungen unter EU-Standards können so auch weitere Staaten zu einer umweltfreundlicheren Wirtschaft bewegt werden (vgl. ebd.). Dazu gehört beispielsweise, dass die G20-Staaten sich gegen die Subventionierung fossiler Energiequellen einsetzen und die Finanzierung dieses Sektors generell einschränkt (vgl. ebd.). Allgemein möchte die EU in Sachen Klimapolitik ein internationaler Vorreiter werden (vgl. ebd.: 24). Die Kommission betont, dass sie „[…] glaubwürdig […]“ (ebd.) agieren möchte und so eine globale Antwort auf den Klimawandel schaffen wollen (vgl. ebd.). Gleichzeitig kritisieren sie den Umgang internationaler Partner in klimapolitischen Fragen. Sie empfinden „Das derzeitige globale Ambitionsniveau […]“ (ebd.) als unzureichend.
Dies sind gute Ansätze, um in Zukunft faireren, umweltgerechteren Handel zu ermöglichen. Die Bestrebungen nach einer Wirtschaft, welche klimaneutral und gegen fossile Brennstoffe arbeitet, könnte auch die Förderung von El Cerrejón in La Guajira einschränken und so die Ausweitung und Weiterführung des Kohletagebaus limitieren. Die dortige Bevölkerung könnte durch das Vorhaben eines gerechten sozialen Übergangs profitieren. Optimal wäre also ein Ende des Handels der EU-Mitgliedsstaaten mit kolumbianischer Kohle, um stattdessen grüne Alternativen zu fördern und gleichzeitig die lokale Bevölkerung bei diesem Wandel zu unterstützen. Der Green Deal könnte einen guten Wegweiser für diese Zukunft darstellen. Ich kritisiere allerdings die mangelnde Selbstreflexion, die sich im Kontext der Pläne für die internationale Zusammenarbeit zeigt. Die Industriestaaten der EU sind weiterhin für einen großen Teil der weltweit ausgestoßenen CO2-Emmissionen verantwortlich. Sie exportieren und importieren auch gegenwärtig noch fossile Energiequellen. Deutschland beispielsweise ist abhängig von ausländischen Kohlelieferungen, um die eigene Energieversorgung zu sichern und den Kohleausstieg zu verwirklichen. Aus diesem Grund ist der Vorwurf an internationale Handelspartner, dass diese nicht ambitioniert genug gegen den Klimawandel arbeiten würden, undifferenziert. Solange EU-Mitgliedsstaaten nur durch die klimaschädlichen Tätigkeiten in Drittländern ihre eigenen Umweltziele erreichen können, ist keine globale Antwort, wie es die Kommission anstrebt, gefunden. Und so lange ist man auch mitverantwortlich für die Verlangsamung des grünen Wandels in Ländern außerhalb der EU. Diese Tatsache sollte auch im Green Deal problematisiert werden. Ein offenerer Umgang damit könnte die internationale Bekämpfung des Klimawandels einfacher und transparenter gestalten.
Der Ansatz des Green Deals, mit internationalem Handel umzugehen, hat also das Potenzial, diesen gerechter und klimafreundlicher zu gestalten. Jedoch plädiere ich auch hier auf eine weitere Differenzierung, welche die gegenwärtige Rolle der EU als beachtlichen Treiber des Klimawandels anerkennt. Nur so kann man auch die eigenen Handelsstrategien analysieren, verbessern und gemeinsam gegen das Voranschreiten und die Auswirkungen der Klimaerwärmung vorgehen.

7. Fazit

Mit der vorliegenden Bachelorarbeit wurde das Ziel verfolgt, neokolonialistische Ausbeutung im Kontext von moderner Umweltpolitik innerhalb der Europäischen Union zu untersuchen und anhand des Green Deals mögliche Lösungen oder Hindernisse für diese Konflikte zu finden. Die Forschungsfrage lautete daher: Inwiefern stellt das Konzept des grünen Kolonialismus ein gegenwärtiges Problem innerhalb der EU-Mitgliedsstaaten dar und hat der Green Deal das Potenzial, diese zu lösen?
Zu diesem Zweck habe ich mich einer ausführlichen Literaturanalyse gewidmet. Dafür analysierte ich zwei Beispiele, welche Missstände im Umgang mit indigenen Völkern im Zusammenhang mit europäischer Umweltpolitik aufzeigen. Daraufhin habe ich die zwei übergeordneten Probleme dieser beiden Thematiken ausgearbeitet und sie mit den Maßnahmen des Europäischen Green Deals verglichen. So konnte eine Einschätzung darüber getroffen werden, ob die vorliegenden Konflikte durch den Green Deal das Potenzial haben, zukünftig gelöst zu werden.
Zusammenfassend kann man feststellen, dass grüner Kolonialismus, so wie ich ihn definiert habe, in der EU und auch außerhalb durch Mitgliedsstaaten Anwendung findet. Das indigene Volk der Sámi in Schweden wird von der Umweltpolitik des Staates beeinflusst. Die traditionelle Rentierzucht und damit ihre indigene Lebensweise wird riskiert, um eine großflächige Versorgung mit nachhaltiger Windenergie sicherzustellen. Hinweise darauf geben Studien über den Einfluss der Windturbinen auf die Rentiere, die Ablehnung der Halter gegenüber den Aktivitäten auf ihrem traditionellen Land und der kontroverse Umgang der schwedischen Gerichte mit Rechtsverfahren gegen die Energielieferanten. Dies lässt mich zumindest im Kontext von erneuerbarer Windenergie zu dem Schluss kommen, dass die indigenen Lebensweisen der Sámi in Schweden nicht ausreichend geachtet werden und die eigenen umweltpolitischen Interessen über die des Volkes gestellt werden.
Zu ähnlichen Ergebnissen kam ich auch bei meinen Recherchen zu den Wayúu in Kolumbien. Der Fokus auf die kritische Situation mit Wasser in der Region und der Einfluss der Kohlemine El Cerrejón brachten mir Erkenntnisse über die Ungerechtigkeiten, denen die Wayúu ausgesetzt sind. Schlussfolgern konnte ich daraus, dass der kolumbianische Staat eine große Mitschuld an der Unterversorgung mit Wasser trägt und die Verantwortlichkeit für die eigene Bevölkerung teilweise den Betreibern der Kohlemine überlässt. Diese handeln jedoch in eigenem Interesse. So riskiert man die Abhängigkeit vieler Wayúu von dem Unternehmen, welches eine Teilschuld an der Wasserunterversorgung in der Region hat. Deutschlands Verantwortung ergibt sich durch die Importe von Steinkohle aus Kolumbien. Besonders die stark gestiegenen Einkäufe seit dem Kohleembargo gegen Russland geben Anlass dazu, diesen Handel kritischer zu betrachten. Durch die mangelhafte Aufarbeitung und intransparente Kommunikation der Bundesregierung über die gegenwärtigen Zustände in La Guajira, kann man auch der deutschen Politik eine Verantwortlichkeit zusprechen. Angesichts der Importe wird die größte Kohlemine Kolumbiens weiter gefördert und die lokalen Missstände können weitergeführt werden. Die Lieferungen von Steinkohle sind für Deutschland essenziell, um den eigenen Kohleausstieg verwirklichen zu können. Die wirtschaftlichen Machtdifferenzen zwischen dem Industriestaat Deutschland und dem Entwicklungsland Kolumbien machen die Ausbeutung der dortigen Kohleressourcen moralisch noch fraglicher. Demnach konnte ich auch hier Strukturen des grünen Kolonialismus erkennen.
Die Ergebnisse der Analysen der aufgeführten Beispiele führten dazu, die ausgearbeiteten Problematiken den Forderungen des Green Deals gegenüberzustellen. So konnte beurteilt werden, ob dieser einen potenziellen Lösungsweg für die Zukunft darstellt und ob das Streben nach einem gerechten Wandel adäquat umgesetzt werden kann. Dort bewertete ich die Chancen des Green Deals, eine vollständige Antwort auf meine dargelegten Konflikte zu sein als durchwachsen. Zwar könnte er einige in dieser Arbeit diskutierten Aspekte verbessern, ist im Hinblick auf die soziale Verträglichkeit im Zusammenhang mit marginalisierten Völkern jedoch zu undifferenziert. Auch die Pläne für die Kooperationen mit internationalen Handelspartnern reichen nicht aus, um eine globale Antwort auf den Klimawandel darzustellen. Im Besonderen, wenn man sich einen internationalen gerechten Wandel in eine klimaneutrale Zukunft wünscht.
Auf der Grundlage der vorgestellten Ergebnisse wird die Forschungsfrage wie folgt beantwortet:
Anhand meiner Recherchen zu den Samí in Schweden und den Wayúu in Kolumbien konnte ich feststellen, dass der Kolonialismus in Grün eine Problematik ist, welche auch EU-Mitgliedsstaaten betrifft. Der Green Deal der EU beinhaltet gute Ansätze, um einen gerechten Wandel umzusetzen. Die Pläne sind allerdings nicht vollständig und differenziert genug. Der Green Deal berücksichtigt nicht den Status und die Lebensgrundlagen indigener Gemeinschaften. Außerdem vernachlässigt er die Bedeutung der Schaffung eines gerechten und umweltfreundlichen internationalen Handelssystems.
Um diese Probleme zu beheben, ist es für die EU von entscheidender Bedeutung, die Perspektiven und das Wissen der indigenen Gemeinschaften in ihre Politik einzubeziehen, ihre Beteiligung sicherzustellen und ihre Rechte beim Übergang zu einer nachhaltigen Zukunft zu schützen. Nur so kann der von der EU angestrebte gerechte Wandel Wirklichkeit werden.
Weiter möchte ich einen Faktor der vorliegenden Arbeit kritisieren. Der Begriff „grüner Kolonialismus“ ist problematisch, da er auf dem historisch belasteten Konzept des Kolonialismus basiert, der mit Unterdrückung, Ausbeutung und kultureller Auslöschung verbunden ist. Die
Verwendung dieses Begriffs könnte versehentlich die komplexen Machtdynamiken und einzigartigen Erfahrungen indigener Gemeinschaften, die mit Umweltungerechtigkeiten konfrontiert sind, herunterspielen und unser Verständnis und Potenzial für sinnvolle Veränderungen einschränken. Eine Verbesserung würde ich schon durch die Umformulierung „grüner Neokolonialismus“ erkennen. Angewendet wurde dieser Begriff trotz allem, da er das Potenzial hat, das Augenmerk auf die Situation der indigenen Völker zu lenken und deren Blickwinkel zu fokussieren. Zusätzlich gib es gegenwärtig keine Definition dieser Problematik, die die Situation korrekter beschreiben könnte. Die Untersuchung von „Klimagerechtigkeit“ wäre in diesem Kontext ebenfalls richtig. Dies ist allerdings sehr weit gefasst und stellt marginalisierte Gruppen nicht in den Vordergrund. Mir ist die Problematik dieses Begriffs also durchaus bewusst. Aktuell konnte ich jedoch keine Bezeichnung finden, welche die besonderen Konflikte indigener Lebensweisen mit der Umweltpolitik vorrangig westlicher Industriestaaten besser beschreibt.
Aufgrund des begrenzten Umfangs der Bachelorarbeit konnte auf einige Aspekte dieses Themas nicht eingegangen werden. Zum einen wäre ich gerne ausführlicher auf die rechtliche Situation indigener Völker in Schweden und Kolumbien eingegangen. Interessant wäre gewesen, in welchem Maß diese staatlich geschützt sind und wie weit dieser Schutz reicht. Zusätzlich wäre eine weitgreifendere Untersuchung der Konflikte in La Guajira hinreichend gewesen. Die Komplexität der lokalen Auseinandersetzungen konnte aufgrund der Beschränkungen dieser vorliegenden Arbeit nicht analysiert werden.
Weitere Forschungsarbeiten zu diesem Thema könnten die Begriffsproblematik aufgreifen und einen passenderen Terminus für die Schwierigkeiten von umweltpolitischen Maßnahmen im Zusammenhang mit indigenen Völkern ausarbeiten. Sinnvoll wäre es auch, die grundsätzliche Zusammenarbeit der Europäischen Union mit indigenen Gruppen während klimapolitischen Auseinandersetzungen zu analysieren. So könnte darüber aufgeklärt werden, ob diese ausreichend repräsentiert sind oder ob ihre Sichtweisen nur lückenhaft in die Implementierung neuer Vorgehensweisen miteinfließen.


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