Die Notwendigkeit eines neuen Senioren-Pflegekonzeptes? Ein Fallbeispiel
verfasst von: Tobias Dumschaft / Carmen Krämer / Raphaela Kell
Das Altersschicksal von Hilde S. aus der Eifel
Die seit 13 Jahren verwitwete 85-jährige Hilde S. lebt allein in ihrem Haus in einem etwa 2.000 Seelen großen Eifeldorf, in dem sie verwurzelt ist und wo sie sich Zuhause fühlt. Ihre vollerwerbstätigen Kinder wohnen und arbeiten in der 30 Kilometer entfernten Kreisstadt. Ihre altersbedingten körperlichen Einschränkungen machen ihr seit Jahren immer mehr zu schaffen. Bislang konnte sie ihr Leben mit Nachbarschaftshilfe und einem zwei Mal täglich anfahrenden ambulanten Pflegedienst selbstbestimmt in ihrer gewohnten Umgebung gestalten.
Doch dann veränderte sich die Situation: Sie erlitt einen leichten Schlaganfall, der glücklicherweise nicht zu ganzkörperlichen Lähmungen, dennoch zu einem Kraftverlust in ihrer rechten Hand führte. Ohne die volle Kraft in dieser Hand gelingt es Hilde S. nun nicht mehr, sich vom Stuhl oder aus dem Bett zu erheben. Sie ist fortan nicht mehr in der Lage, eigenständig von einem Stuhl auf den anderen zu wechseln oder selbstständig die Toilette zu erreichen. Auch die eigenständige Zubereitung ihrer Mahlzeiten ist nahezu unmöglich geworden. Ansonsten ist Hilde S. im vollen Besitz ihrer geistigen Kräfte, regelt ihren kompletten Briefverkehr und organisiert ihr Hilfs-Netzwerk.
Trotz der nur leichten Behinderung wird Hilde S. wahrscheinlich nicht mehr in ihrem Dorf und in ihrem Haus wohnen bleiben können. Die Pflegedienste in der Eifel sind, laut eigener Bekundung, überlastet und eine Intensivierung ihrer Leistungen ist nur sehr bedingt möglich. Maximal können die für die komplette Eifelregion zuständigen Pflegedienste 3 – 4 Mal am Tag die wichtigsten Pflegemaßnahmen und Versorgungsleistungen übernehmen. Übrig bleiben viele Stunden, in denen Menschen wie Hilde S. sich selbst überlassen bleiben. Die Angst vor den „normalen“ Lebenshandlungen, wie Toilettengang oder Essenszubereitung, wird zur existentiellen Herausforderung. Das Gefühl der Verzweiflung wächst. Die Einsamkeit und das Alleingelassensein nehmen in ihrem letzten Lebensabschnitt mehr und mehr Raum ein.
„Alt-Sein“: Ein strukturelles Problem
Die Situation von Hilde S. ist tragisch und sie ist damit nicht allein. Wahrscheinlich hat jede Familie in Deutschland eine ähnliche Geschichte zu erzählen. Und damit sollten wir klar sehen und benennen: Das Problem hat Struktur. Im Rahmen der jetzigen gesellschaftlichen Pflegekonzepte bleibt Senior:innen entweder der Weg in die Tagespflege oder, wie es in den meisten Fällen geschieht, der Weg ins Seniorenheim. Viele Familien können sich nicht an der täglichen Pflege und Betreuung beteiligen. Vor allem im ländlichen Raum können sie in den seltensten Fällen auf ein engmaschiges und intensives Pflegesystem zurückgreifen. Die Lebensherausforderungen von älteren Menschen im Alltag zu lösen, können ambulante Pflegedienste allein nicht leisten. Die Mitarbeiter:innen müssen einen festgeschriebenen Tages- bzw. Routenplan abarbeiten, in dem jede Pflegeleistung zeitlich geplant und der Weg zur nächsten Patienten ebenfalls exakt berechnet ist. Einem akuten Hilfsbedarf von Patient:innen kann verständlicherweise seitens der beruflichen Pflege nicht Sorge getragen werden.
Zwei zentrale Faktoren, die das „Alt-sein“ bestimmen: Zeit und Pflegekosten.
Es fehlt hauptsächlich an Zeit: Zeit, die weder die berufstätigen Familienangehörigen für ihre Eltern aufbringen können, um ihnen eine hinreichende Versorgung und Betreuung im Alter zu gewährleisten, als auch die Zeit, die das professionalisierte Senioren-Pflegesystem ihren Patient:innen nicht kostendeckend anbieten kann. Zwar beklagen die Pflegekräfte die fehlende Zeit für die Patient:innen immer wieder als enorme psychische Belastung, doch mehr Zeit für Zwischenmenschliches können sie in einem knapp durchkalkulierten ambulanten Pflegesystem nicht erübrigen, wenn sie einigermaßen rentabel arbeiten sollen.
Hinzu kommen die Kosten: In einem nach marktwirtschaftlichen Prinzipien arbeitenden Pflegesystem, wie es sich in den letzten Jahrzehnten wie von Geisterhand entwickelt hat, gilt: Zeit = Geld. Um beide Faktoren zugunsten der pflegerischen Betreuung zu optimieren, wäre die „Suche“ nach systembedingten „Zeitdieben“ das Mittel der Wahl. Wo könnten die mobilen Pflegedienste zeit-effizienter und damit auch kostensparender arbeiten – sowohl für ihr eigenes Unternehmen als auch für die Pflegeversicherungen und damit den Zeitgewinn an ihre Patient:innen weitergeben? Auf der anderen Seite könnte man fragen, inwieweit Pflegebedürftige und deren Angehörige sich zusätzlich Zeit „kaufen“ könnten, damit über die Grundpflege hinaus auch Alltagshandlungen geregelt werden können. Viele Familien können sich eine solche Versorgung nicht leisten und so fällt diese Möglichkeit in den meisten Fällen weg.
Das Dilemma ist auf der Straße erkennbar
Um einen ersten, leicht nachvollziehbaren Zugriff auf diese Fragestellung zu erhalten, ist es nicht einmal notwendig einen Blick in die Unternehmensbuchhaltung und -kostenabrechnungen der Pflegedienste zu werfen. Diese Hypothese, dass Pflege in ländlichen Regionen schon jetzt ein Problem ist, das in den nächsten Jahren immer größer wird, erschließt sich durch eine, im wahrsten Sinne des Wortes „offen sichtliche“ Alltagsbeobachtung: Mehrfach am Tage fahren verschiedene ambulante Pflegedienstwagen die Straße im Dorf entlang, die klar erkennbar unterschiedlichen Pflege-Anbietern zuzuordnen sind. Sie legen teils weite Strecken zurück, um von einem Dorf in das nächste zu gelangen: Ist das effizient? Es hat sich ein Pflegedienstanbieter-Netz etabliert, in dem die Mitarbeiter:innen mehr Zeit in ihren Dienstautos und auf der Straße verbringen, als im Haus oder in der Wohnung ihrer Patientenschaft. Die breite Palette der regionalen ambulanten Pflegedienste, die alle in jedem der umliegenden Dörfer unterwegs sind, ist aus logistischer und zeitlicher Perspektive eine völlig ineffiziente Fehlentwicklung. Wieviel Zeit könnten Pfleger und Pflegerinnen gewinnen, wenn sich beispielweise die Pflegedienste untereinander logistisch abstimmen würden und nur noch ein Pflegedienst in einer Straße oder einem Dorf mehrere Patient:innen betreut? Wie effizient und zudem klimafreundlich wäre es, würden die Dörfer unter den Pflegediensten aufgeteilt, um vor allem Anfahrtswege einzusparen? Wieviel Zeit für eine intensivere Betreuung könnte zugunsten der alleinstehenden Senior:innen, die nicht selten vor allem auch an Einsamkeit leiden, herausgeholt werden?
Die Zukunft der Pflege in ländlichen Regionen
Hieran schließt sich grundsätzlich die Frage an, ob vor allem im ländlichen Raum nicht auch ein anderes Pflegekonzept denkbar wäre. Ein wichtiges Kriterium für ein neues Konzept ist die räumliche Verdichtung: So könnte das Versorgungssystem schneller und näher an Patient:innen dran sein und hätte für deren Alltagsschwierigkeiten und Problemlagen mehr Zeit zur Verfügung.
Wie könte das bestehende Pflegemodell in ländlichen Gebieten verbessert werden? Greifen wir die Frage der logistischen Ineffizienzen im mobilen Pflegekonzept noch einmal auf. Wenn wir also Zeit und Kosten dadurch einsparen können, dass die Pflegedienste räumlich näher an ihre Patient:innen heranrücken sollen, wäre es eine Überlegung wert, in den Dörfern beispielsweise kleine Seniorenpflegezentren zu errichten, von wo aus die pflege- und betreuungsbedürftigen Dorferbewohner:innen tagsüber betreut werden könnten. Solche Zentren könnten ggfs. die mobilen Pflegedienste ergänzen oder im Idealfall sogar ersetzen. Wenn durch ein dörflich zentral organisiertes Pflegemodell, Senior:innen deutlich länger in ihren Wohnungen und Häusern wohnen blieben, könnten Heimkosten pro Senior:in von etwa 3.500 Euro monatlich eingespart werden. In einem Dorf, in dem nur etwa 10 Senior:innen mit Hilfe eines neuen Pflegemodells zu Hause statt im Heim leben könnten, wären das 35.000 Euro eingesparte Heimkosten, die einer dörflichen Senioren-Pflegestation zur Verfügung gestellt werden könnten, um beispielsweise die Menschen, wie Frau Hilde S., mit vergleichbar leichtem Pflegebedarf, vor dem Umzug in ein ferngelegenes Heim zu bewahren. Diese „Dorf-Senio:innenzentren“ könnte durch ehrenamtliche Arbeit der Angehörigen oder anderer Dorfbewohner zusätzlich unterstützt werden, beispielsweise indem Einkäufe oder auch innerdörfliche Besuche zwischen den Senior:innen oder Veranstaltungen, wie Lesungen,Vorträge etc. organisiert werden. Im Idealfall könnten die Dorf-Pflegezentren auch zu Begegnungsorten zwischen den Senior:innen oder Cafés ausgebaut werden, um der zunehmenden Vereinsamung entgegen zu wirken und die Generationen miteinander in Kontakt zu bringen.
Dies ist nur eine Idee von hoffentlich vielen, wie sich Senior:innenpflege und -betreuung vielleicht umdenken lässt.
Generell stellt sich die Frage, ob die freie Wirtschaft in Form von ambulanten Pflegediensten, Pflegeheimen oder zukünftig auch Pflegerobotern, in der Lage sein wird, eine würdevolle und menschliche Pflege von Menschen, wie im Fall von Hilde S., zu gewährleisten. Der demographische Wandel schreitet in Deutschland weiter voran, die Personalnot in der beruflichen Pflege wird immer akuter und angehörige Pflegende sind, wenn sie überhaupt selbst Pflege leisten können, völlig überlastet.
Es muss gelingen, eine gesunde Mischung aus professioneller und informeller Pflege zu organisieren. Dazu müssen sowohl lokale Gemeinschaften als auch überregionale politische Entscheider:innen Lösungen kreieren. Nüchtern müssen wir jedenfalls feststellen: Die Angebotsmöglichkeiten der mobilen Pflegedienste reichen im Fall von Hilde S. bei weitem nicht aus, damit sie weiterhin selbstbestimmt in ihrem Zuhause leben kann.
Unser Arbeitskreis möchte im Gespräch mit Sozialverbänden, Pflegediensten, Bürgern und Bürgerinnen sowie Politik und Verwaltung daran mitwirken, die Debatte über ein „Selbstimmtes Älterwerden“ auf breiter Ebene anzustoßen und wir möchten daran mitarbeiten, einen Ideenpool für neue Pflege-Mix-Konzepte für die StädteRegion anzulegen, die dabei helfen können, so vielen Menschen wie möglich ein innovaties Pflegekonzept anzubieten, das ihnen ermöglicht, solange wie möglich in ihrer gewohnten Umgebung zu leben.
Hierzu ein interessanter Artikel inklusive Filmbericht: https://www.ndr.de/nachrichten/niedersachsen/lueneburg_heide_unterelbe/Zu-wenig-Pflegekraefte-auf-dem-Land-,pflegekraefte120.html