Corona: zwischen Fluch(t) und Segen. Von Sandro Wittke
Auch in der aktuellen Situation sind wir noch aktiv und unsere Vereinsmitglieder machen sich viele Gedanken rund um das Thema Corona. Ihren Gedanken möchten wir einen Platz auf unserer Website geben.
Corona: zwischen Fluch(t) und Segen
von Sandro Wittke
Seit den letzten Tagen hallt mir der Satz einer guten Freundin immer wieder durch den Kopf. Die Geschichte dahinter ist recht interessant: nach einem Tag in der Uni und einem kleinen Spaziergang in der Stadt laufen wir abends zur Bushaltestelle und hören Betrunkene hinter uns laut grölen. Angewidert durch die Ausrufe dieser betrunkenen Menschen dreht sie sich zu mir und sagt: „Ganz ehrlich. Ich hasse Menschen. Manchmal wünschte ich, ich wäre allein auf der Welt“. Eine harte Aussage, aber durchaus nachvollziehbar. Mit der derzeitigen sozialen Isolation habe ich weniger alkoholisierte Menschen auf den Straßen umherziehen sehen. Ein Segen, zumindest ein Stück weit. Ein derartiges Verhalten stufe ich schon als sehr skurril ein, wenn man bedenkt, wie verrückt man zum Rest der Bevölkerung erscheint. Aber eine Tatsache gibt es da: wenn der Mensch sich (zwangsläufig) isolieren muss und auf jede sozialen Kontakte verzichtet, stumpft er irgendwann ab und fängt an „unüberlegter“ zu handeln und verrückter zu erscheinen.
Wenn wir uns sozial isolieren und voneinander distanzieren, kann es bei recht extrovertierten Menschen dazu kommen, dass diese sich unbeachtet und gehasst fühlen. Bei den introvertierten Vertretern setzt womöglich ein Gefühl der Gelassenheit ein, da diese sich nicht der Hürde stellen müssen, sozial mit anderen Menschen zu interagieren. Bleibt die Frage, wie lange der Zustand dann jeweils anhält. Geht man davon aus, dass die Isolation nun Stück für Stück aufgelöst wird, lässt sich eine Welle von kreativen Ideen erwarten, wie man bei einer nächsten Einschränkung mit der Isolation umgehen kann. Zwar mögen die Ideen kreativ sein, aber keinesfalls innovativ. Dafür fehlt unter anderem die Zeit zum Nachdenken. Und so gut diese besagten Ideen auch sein mögen, wirklich weiterbringen werden diese uns nicht. Durch die daraus resultierende Stagnation des Wissensgewinns und der unzureichenden Problemlösung fangen wir an, uns in weniger reale Welten zu flüchten und schenken der Realität nur noch wenig Beachtung. Wir innovieren nicht, wir idealisieren lediglich. Das führt mitunter dazu, dass wir bestimmte Themen, wie Massenaussterben oder Ozonzerstörung, einfach totschweigen.
An dieser Stelle gebe ich offen zu: ich mag viele Menschen nicht. Und kohortenähnliche Menschenansammlungen noch weniger. Die Abstands- und Hygieneregeln sind in diesem Kontext also mehr als angemessen. Auch gegen eine Isolation habe ich nicht viel, das ist schließlich ein notwendiger Schritt. Aber wenn ich so über die Isolation nachdenke und was diese mit meinem Kopf anstellt, bin ich doch ganz dankbar für die Menschen da draußen. Wenn ich nicht ab und an den ein oder anderen sozialen Kontakt hätte, würde ich vermutlich schon „wiederholt gegen die Wand rennen“, um es metaphorisch auszudrücken. Ganz allein wird der Mensch schließlich irgendwann ein bisschen verrückt und flüchtet vor der Realität, um ein Stück weit eine funktionierende Welt zu erfinden, in der alles perfekt scheint. Reale Probleme, mit denen wir tagtäglich konfrontiert sind, werden plötzlich surreal und unwichtig. Wir realisieren Probleme nicht als Probleme, sondern als Störfaktor unsrer Fantasiewelt. Und dies, obwohl Themen wie soziale Isolation und Klimawandel direkt zu unseren Füßen liegen! Gleichzeitig wäre Freiheit auch ein ziemlich großes Plus. Gewiss, die Politik ist aktuell ein wenig unvorbereitet, aber würden wir uns von heute auf morgen ohne irgendwelche Beschränkungen bewegen dürfen, würden wir schon innovative Lösungen finden, um ein derartiges Dilemma erneut umgehen zu können. Kreativität und Innovation gehen dabei Hand in Hand. Wer hat schon Interesse, sich nach einer fast zweimonatigen Isolation wieder in die Fänge der eigenen vier Wände zu begeben und unvorhersehbar lange eingeschlossen zu sein? Wir setzen uns durch die direkte Rückkehr in die Normalität verstärkt mit aktuellen Themen auseinander und versuchen, Lösungen zu erarbeiten, die tragfähig sind, anstatt diesen zu entgehen.
Manchmal frage ich mich trotzdem, wie sinnvoll das alles ist. Gibt es überhaupt eine passende Lösung für unsere derzeitige Situation? Was wäre, wenn der Mensch alle Probleme einfach ignoriert? Was wäre, wenn der Mensch einfach versuchen würde, alle Probleme auf der Welt zeitgleich zu beheben? Wie sähe die Welt aus, wenn wir uns zukünftig nicht irgendwelchen politischen oder sozialen Normen unterordnen, sondern einfach den Regeln der Natur folgen? Was passiert, wenn der Mensch einfach aufhört, innovativ zu sein und keine Probleme mehr löst? Und was wäre, wenn der Mensch einfach in allen Belangen aufhört zu denken?
Hier möchte ich es ausdrücken, wie einst Sokrates: ich weiß, dass ich nicht weiß. Aber schon der Gedanke, nichtwissend und damit dumm zu sein, sollte die Menschen dazu antreiben, verstärkt über die Konsequenzen ihres Handelns nachzudenken, zu reflektieren und zu evaluieren. Wer gibt schon freiwillig von sich zu, dumm zu sein? Neben traurigen Selfies aus dem Homeoffice, die nach Aufmerksamkeit der eigenen misslichen Lage trachten und virtuellen Treffen mit Familien und Freunden, die die Lage misslicher und schmerzhafter machen, denken wir momentan nicht. Wir leiden stumm vor uns hin. Damit eine Frage zum Schluss: womit füllen wir dann eigentlich unsere Existenz, wenn wir keine Probleme mehr lösen und unseren Kopf für nichts mehr brauchen?