Warum uns die Demokratie unfrei macht
Karl Kühne – „Warum uns die Demokratie unfrei macht“ – veröffentlicht im Philou (philou. – Unabhängiges Studierendenmagazin an der RWTH Aachen University (rwth-aachen.de))
Die Demokratie befreite historisch das Individuum von der autoritären Fremdbestimmung. „Entwürdigt wird jeder, […] wenn andere, ohne ihn zu fragen, mit unbeschränkter Machtvollkommenheit über sein Geschick entscheiden“, schrieb bereits 1861 John Stuart Mill (1861: 141). Das demokratische Wahlrecht gibt allen Bürger_innen die Souveränität, ihre Interessen öffentlich zu artikulieren und ermöglicht folglich Selbstbestimmung. „Demokratie macht uns nicht frei, sie ist der höchste Ausdruck politischer Freiheit!“ – vermutlich sind es jene Ausführungen, die wir erwarten, wenn das Verhältnis zwischen Freiheit und Demokratie betrachtet wird. Dennoch will dieser Beitrag das Gegenteil zeigen: Werden die kompetenztheoretischen Voraussetzungen der Demokratie betrachtet, so entstehen Zweifel daran, dass sie die Freiheit aller Individuen ausreichend sichert. Vielmehr stellt sie in der Perspektive eine Freiheitseinschränkung dar, die in normativer Hinsicht als illegitim und ungerecht angesehen werden kann. Neben den Ausführungen von Mill bezieht sich der Artikel auf das Werk „Against Democracy“ des amerikanischen Philosophen Jason Brennan. Jenes provozierte jüngst Kontroversen, da der Autor die These vertritt, dass eine Epistokratie – eine Staatsform, die das Wahlrecht an Kompetenztests bindet – ein freiheitlicheres und höherwertigeres Leben ermögliche (vgl. Brennan 2017: 13). Das Problem demokratischer Entscheidungsprozesse soll eingangs an einem Gedankenexperiment verdeutlicht werden: Drei Personen (A, B & C) sind nach einem Schiffbruch auf einer entlegenen Insel gestrandet, die als einzige Ressource einen Baumstamm bietet. A und B sind mit der Situation überfordert und resignieren. Sie schlagen vor, aus dem Baumstamm gleich ein Grabkreuz zu bauen. C hingegen nutzt die Zeit, um eine rationale Lösung auszuarbeiten. Sein Plan sieht vor, das Holz in der Nacht anzuzünden, damit es als rettende Wärmequelle fungiert und zugleich eintreffende Rettungshelikopter alarmiert. Die begrenzte Ressourcenmenge sorgt dafür, dass die beiden Ideen miteinander unvereinbar sind. Folglich ist das Problem nicht individuell zu lösen, sondern verlangt eine kollektiv verbindliche Entscheidung. Damit handelt es sich um eine politische Situation. Einigen sich die drei Personen auf ein demokratisches Entscheidungsverfahren, ist C verpflichtet, die Lösung von A und B zu akzeptieren, wenn es ihr nicht gelingt, diese durch ihre Affektivität von einem rationalen Lösungsweg zu überzeugen. Das demokratische Machtverhältnis begünstigt also A und B, obwohl die Alternative von C verantwortungsvoller und effektiver für alle Beteiligten ist. Die Behauptung, dass das demokratische Verfahren eine gerechte und freiheitliche Lösung hervorgebracht hätte, obwohl die Überlebenschancen aller reduziert
worden sind, wirkt nachfolgend nicht überzeugend. Die Frage, die jenes Gedankenexperiment thematisiert, formulierte Mill wie folgt
„Empfindet man es als ungerecht, dass einer dem anderen nachgeben muss, welche Ungerechtigkeit ist dann größer: dass das bessere Urteil dem schlechteren zu weichen hat oder das schlechtere dem besseren?“ (Mill 1861: 146)
Das Inselbeispiel verleitet zu der Antwort, dass demokratische Verfahren nicht an sich gerecht und freiheitlich sind, wenn sie verantwortungslos erfolgen. Selbst wenn A und B über die Mehrheit verfügen, ist es aufgrund von Effektivitäts- und Gerechtigkeitskriterien nicht haltbar, ihre Alternative gegenüber C durchzusetzen. Das demokratische Verfahren wurde illegitim, als einzelne Individuen (A und B) ihre moralische Pflicht – bewusst oder unbewusst – vernachlässigten, verantwortungsvoll und informiert gegenüber den anderen Entscheidungsunterworfenen (C) aufzutreten. Realitätsfern wäre es anzunehmen, dass das Beispiel nicht auf moderne Demokratien zuträfe, da sich alle Bürger_innen vor ihrer Wahlentscheidung rational informieren würden. An der Stelle knüpft Brennan an: Das demokratische Wahlrecht sei nicht in kollektiver oder individueller Selbstbestimmung begründet (vgl. Brennan 2017: 155 – 164). In kollektiver Betrachtung kann Selbstbestimmung mithilfe eines Individualrechts begründet werden. So wie jedes Individuum die Freiheit haben sollte, sich selbst schädigen zu dürfen, so steht jenes Recht auch der politischen Gemeinschaft zu. Diese Argumentation bildet die Grundlage für umfassende kollektive Selbstbestimmung, welche dem Volk inkompetente Entscheidungen gestattet. Ein Individualrecht auf das Kollektiv zu übertragen, beruht allerdings auf der problematischen Annahme, dass sich jenes als homogene Gemeinschaft begreift. Anderweitig existiert keine Analogie zwischen Individuum und Volk. In modernen individualistischen Gesellschaften fehlt ein solches homogenes Volksverständnis, weshalb auf dieser Basis kein kollektives Selbstbestimmungsrecht abgeleitet werden kann. (vgl. ebd.: 26ff.) Vielmehr besteht eine Nation aus einzelnen Individuen, die den Wahlentscheidungen ihrer Mitbürger_innen unterworfen sind, wie das Gedankenexperiment zeigte. Folglich schaden ignorante und irrationale Wähler_innen vorrangig ihren Mitmenschen (vgl. Brennan 2017: 27). Das Wahlrecht ist somit eine Form der Fremdbestimmung, die über die Wahlberechtigten hinausreicht – man bedenke vom Wahlrecht Ausgeschlossene oder internationale Verflechtungen. Da die einzelne Wahlstimme mehr Macht über andere als über einen selbst gewährt, kann es sich bei dem Wahlrecht nicht um ein individuelles Selbstbestimmungsrecht handeln (vgl. ebd.: 274f.). Ein Herrschaftsrecht, das Macht über andere verleiht, bedarf hingegen einer guten Rechtfertigung (vgl. ebd.: 27f.). Diese fehlt, wenn Wähler irrationale, unmoralische oder unbegründete Wahlentscheidungen treffen. Es gilt: „Citizens may reasonably demand competence from the electorate.” (Brennan 2013: 198) Jener Kompetenzanspruch kann von einer egalitären Demokratie nicht garantiert werden. Es fehlt ihr somit eine Rechtfertigung, um die Bürger_innen zu den Entscheidungen anderer zu verpflichten. Zusammenfassend stellen verantwortungslose und uninformierte Wahlentscheidungen unzulässige Freiheitseinschränkungen für die Mitbürger_innen dar, die besser informiert sind. Brennan kritisiert folglich, dass die Demokratie kein negatives Freiheitsrecht vorsieht, welches vor den inkompetenten Wahlentscheidungen anderer schützt. Er verlangt, dass „[w]enn unschuldigen Menschen bedeutsame politische Entscheidungen aufgezwungen werden, […] jede einzelne Entscheidung kompetent und rational von kompetenten und rationalen Menschen gefällt […]“ werden muss (Brennan 2017: 283). Solange dieses Recht nicht existiert, sollte die Demokratie als eine illegitime und ungerechte Staatsform betrachtet werden, die aktiv individuelle Freiheiten beschränkt. Brennans Argumentation eröffnet eine Schlussfolgerung, die einem logischen Disqualifikationsprinzip folgt. Dennoch hat sie problematische Implikationen, da sie die demokratische Gleichheit als unrechtmäßige Fremdbestimmung abwertet. Eine Ausübung des universellen Wahlrechts sei meist unmoralisch, ungerechtfertigt und nicht funktional begründbar, wie es dazu bei Richard Arneson heißt (vgl. Arneson 2009: 197f.). Brennan schlägt deshalb eine politische Machtverteilung vor, die an der Kompetenz und den Kenntnissen der Bürger_innen orientiert ist (vgl. Brennan 2017: 36). Um nicht mit einer undemokratischen Alternative enden zu müssen, sollte danach gefragt werden, welche praktischen Konsequenzen und Fragen die brennansche Perspektive aufwirft. Ist seine Betrachtung der politischen Praxis zutreffend? Oder anders formuliert: Handelt es sich bei dem Inselbeispiel um eine sinnvolle Analogie des Politischen? Dies kann durchaus bezweifelt werden, da politische Streitfragen selten einer Dichotomie zwischen wahr und falsch folgen, wie Alexander Bogner zu bedenken gibt (vgl. Bogner 2021: 43ff.). Benötigen wir überhaupt ein solches negatives Freiheitsrecht vor inkompetenten Entscheidungen für umfassende politische Freiheit? Müssen wir die Ungerechtigkeiten und Freiheitseinschränkungen, die sich aus dieser kompetenztheoretischen Betrachtung der Demokratie ergeben, gar akzeptieren? Letztendlich stellte Mill fest, dass „[…] kein Wahlrecht auf die Dauer befriedigen [kann], das irgendeine Person oder Klasse kurzerhand ausschließt […]“ (Mill 1861: 141). Es wäre auch unrealistisch anzunehmen, dass der Inkompetente ohne weiteres identifiziert werden kann und bereitwillig den Herrschaftsanspruch des Kompetenten hinnimmt. Jene Ansicht impliziert folglich die These, dass gerade die Demokratie eine notwendige Grenze der Freiheit darstellt.
Arneson, R. (2009): The Supposed Right to a Democratic Say. In: Christiano, T./Christman, J. (Hrsg.): Contemporary Debates in Political Philosophy. Chichester: John Wiley & Sons. S. 197 – 212.
Bogner, A. (2021): Die Epistemisierung des Politischen. Wie die Macht des Wissens die Demokratie gefährdet. Stuttgart: Reclam.
Brennan, J. (2017): Gegen Demokratie. Warum wir die Politik nicht den Unvernünftigen überlassen dürfen. Berlin: Ullstein Buchverlage GmbH. 2. Auflage 2017.
Brennan, J. (2013): Epistocracy within Public Reason. In: Cudd, A./Scholz, S. (Hrsg.): Philosophical Perspectives on Democracy in the 21st Century. Berlin: Springer Verlag. S. 191 – 204. Mill, J. (1861): Betrachtungen über die Repräsentativregierung. Berlin: Suhrkamp Verlag. 1. Auflage 2013.