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Tom Fischer: Rutger Bregman und die Idee eines neuen Menschenbildes – Wie sähe unsere Gesellschaft mit einem „neuen Realismus“ aus?

Bild: Golden/Violinist by pixaby

„Der Mensch ist böse“ war sich Marquis de Sade sicher (Sade & Döpp 2014: 1). Voltaire meinte, ohne jeden Zweifel zu wissen: „Der Mensch sei ein herzlich schlechtes Wesen“ (vgl. Zeller 2022: 5). Wenn man Literatur über das Menschenbild untersucht, findet man zahlreiche solcher Zitate. Dass der Mensch von Natur aus egoistisch und schlecht sei, ist ein Lehrsatz, der seit vielen Jahrhunderten in der westlichen Kultur verbreitet wird (vgl. Bauer 2008: 9). Große Denker der letzten Jahrhunderte, wie beispielsweise Nietzsche, Freud, Luther oder Machiavelli, haben an dieses sehr negative Menschenbild geglaubt und dieses auch gelehrt. All diese Namen haben unsere Gesellschaft mit ihrem Denken sehr geprägt, bis heute. Unser Menschenbild hat großen Einfluss auf unser Handeln und darauf, wie wir Menschen uns begegnen und wie wir miteinander umgehen. Doch der niederländische Historiker Rutger Bregman (*26.04.1988) hat sich diesem Thema näher gewidmet und ist sich sicher: Der Mensch ist im Grunde gut (vgl. Bregman 2021). In seinem 2020 veröffentlichen Buch widerlegt er mithilfe wissenschaftlicher Beweise die These, dass der Mensch wirklich so schlecht ist, wie wir annehmen.

Wie eine Welt mit einem positiven Menschenbild aussehen würde, ist bisher nicht bekannt, beziehungsweise wurde nur sehr oberflächlich untersucht. Deswegen versucht diese Arbeit folgende Forschungsfrage zu beantworten: Was würde sich in unserer Gesellschaft ändern, wenn wir ein positives Menschenbild nach Rutger Bregman hätten?

Um diese Frage beantworten zu können, müssen mehrere Punkte beleuchtet werden. Zunächst muss die Relevanz des Menschenbildes für unsere Gesellschaft beleuchtet, und das bisherige Bild des Menschen erklärt werden. Des Weiteren muss Rutger Bregmans Idee einer „neuen Realität“, also eines neuen Menschenbildes näher erläutert werden, bevor dann die eigentliche Forschungsfrage beantwortet werden kann. Die Schlussfolgerung trägt am Ende die relevantesten und wichtigsten Punkte dieser Arbeit zusammen.

 

Das bisherige Menschenbild – ein falscher Realismus?

Das folgende Kapitel beschreibt das bisherige Menschenbild, welche Personen es geprägt haben und welche Auswirkungen dieses Bild auf unsere Gesellschaft hat. Davor muss allerdings der Begriff des Menschenbildes definiert werden, und die Frage beantwortet werden, wieso es von großer Relevanz für die Gesellschaft ist.

Der Begriff „Menschenbild“ hat im Laufe der Zeit viele, sich voneinander unterscheidende Definitionen angehäuft. Je nachdem, in welchen Bereich man ihn anwendet, wird die Definition angepasst. Wie zum Beispiel definiert Weinert den Begriff im Bereich von Organisationen wie folgt: „Menschenbilder sind Grundannahmen, Einstellungen und Erwartungen von Führungskräften gegenüber Zielen, Fähigkeiten, Motiven und Werten von Mitarbeitern“ (Weinert 1998: 672). Da diese Arbeit allerdings alle Definitionen des Begriffes anspricht, gebraucht sie eine allgemeinere Begriffsbestimmung. Zichy bietet daher mit seiner Definition die Grundlage dieser Arbeit und definiert den Begriff „Menschenbild“ folgendermaßen: „Menschenbilder sind kohärente Bündel an Annahmen über wichtige Eigenschaften des Menschen im Allgemeinen“ (vgl. Zichy 2021: 9).

Es ist schon ein sehr alter Begriff, der oftmals missverstanden wird, da er im Laufe der Zeit missinterpretiert wurde. Deswegen ist es wichtig, den Begriff von seinem Ursprung aus zu betrachten. Er stammt aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und wurde vom deutschen Philosophen Friedrich Nietzsche (1844–1900) erfunden. Es war auch er, der die folgenden drei Thesen aufgestellt hat, die die Relevanz des Begriffs verdeutlichen: (1) Jeder Mensch hat und braucht ein Menschenbild, sie sind überall; (2) Menschenbilder bilden das Fundament einer jeden Gesellschaft und bilden das Zentrum für Kultur; (3) Menschenbilder sind macht – und wirkungsvoll, sie bilden den Menschen mit und sind elementar für die Art und Weise wie wir Menschen sind (vgl. Zichy 2021: 2). Dies bedeutet, dass das Menschenbild für jeden Menschen persönlich wichtig ist, und ist damit auch von großer Relevanz bei der Untersuchung einer ganzen Gesellschaft. Die Menschen in unserer Umgebung nehmen wir durch das Raster unseres Menschenbilds wahr und verhalten uns ihnen gegenüber entsprechend.

Es ist wichtig dieses näher zu beleuchten, bevor Bregman’s Menschenbild im nächsten Teil der Arbeit erläutert wird, um die wesentlichen Unterschiede erkennen zu können.

Es findet seinen Ursprung im Christentum, bzw. in der Aufklärung. Die orthodoxen Gläubigen und viele aufgeklärte Philosophen hatten ein sehr ähnliches Bild des Menschen: Der Mensch ist von Grund auf ein schlechtes Wesen. Gerade in der Zeit der Aufklärung hatte man sich zum ersten Mal intensiv mit dem Wesen des Menschen und seinem Ursprung auseinandergesetzt. Wenn man sich näher mit dem Thema beschäftigt, kommt man an einen Namen nicht herum: Thomas Hobbes. Es gibt wahrscheinlich keine Person in der Geschichte, die das westliche Menschenbild so geprägt hat wie er. Der am 5. April 1588 geborene Brite hatte eine klare Meinung über die Natur des Menschen. Der Mensch ist für Hobbes von drei Triebfedern gekennzeichnet: Furcht, Verlangen und Vernunft. Damit ist der Mensch von Natur aus egoistisch, was nicht willentlich überwunden werden kann.

In seinem Naturzustand ist der Mensch in erster Linie daran interessiert, die eigenen Bedürfnisse zu befriedigen. Da für Hobbes alle Menschen die gleichen Bedürfnisse haben, kommt es deswegen zu einem bitterlichen Konkurrenzkampf. Doch wie kann ein Mensch seine eigenen Bedürfnisse befriedigen, wenn alle anderen Mitmenschen genau dieselben Bedürfnisse haben? Indem man betrügt, lügt und benachteiligt. Dadurch entsteht ein Krieg aller Menschen gegeneinander („homo homini lupus est“ – der Mensch ist dem Menschen ein Wolf). Durch den andauernden angespannten Konkurrenzkampf haben sich die Menschen im Laufe der Zeit dann dazu entschieden, ihre Freiheit an einen Herrscher aufzugeben, der durch einen Vertrag gerechtfertigt herrschen darf, um Ordnung zu schaffen (vgl. Schumacher 2013). So entstanden die Zivilisation und ein erstes System, welches auf der Basis der Hierarchie basiert.

Mit diesen Vorstellungen des Menschen und der Gesellschaft wurde Hobbes berühmt. Er war aber nicht die einzige Person, die davon ausging, dass der Mensch schlecht sei: Machiavelli, Freud, Bentham, Calvin, Luther, Nietzsche und viele mehr. All diese Namen haben auch unsere heutige Auffassung vom Menschen beeinflusst. Sie sind der Grund dafür, dass wir mit viel Misstrauen aufeinander zugehen und uns schwertun unsere Mitmenschen von Anhieb zu vertrauen. Ihre Ansichten bilden die Basis für das heutige Leben und man kann sie in vielen Strukturen unserer Gesellschaft erkennen. Man stelle sich ein Unternehmen vor: Wie ist es aufgebaut und nach welchen Prinzipien funktioniert es? Es gibt eine klare Hierarchie, es wird festgemacht, wer wofür zuständig ist und wer wem Anordnungen erteilen darf. Die Arbeitszeiten sind fest geregelt und es gibt wenig Urlaub. Arbeitende müssen unter Druck ihre Projekte pünktlich beenden und Deadlines einhalten.

Eine weitere Institution, welches das schlechte Menschenbild perfekt verkörpert, ist die Schule. Auch hier gibt es eine klare Hierarchie. Die Stundenpläne der SchülerInnen werden nicht von ihnen selbst, sondern von der Schule entworfen. Die SchülerInnen lernen nicht Stoff, für den sie sich interessieren, sondern den Stoff, wovon man ausgeht, dass er den Kindern später in ihrem Leben am meisten bringen wird. Der Unterricht startet und endet mit einem Glockenschlag. Der ganze Lernstoff wird nicht von den Kindern selbst erlernt, sondern von der Lehrperson gelehrt (was ein großer Unterschied ist). Die Leistungen der Kinder werden mit Prüfungen getestet und sie werden benotet, wodurch auch hier ein Konkurrenzkampf entsteht.

Bei beiden Beispielen lässt sich die Frage stellen, auf welcher Grundlage Unternehmen und Schulen konzipiert wurden. Die Antwort ist Misstrauen und Unmut. Wenn man von Anhieb denkt, dass der gegenüberstehende Mensch schlecht sei, wird man ihn auch so behandeln. Der Mensch muss sich in unserem kapitalistischen System, welches mit vom Menschen entworfenen Werten gespickt ist, einfügen und anpassen. Und um dies zu erreichen, muss dieser schon früh an dieses System gewöhnt werden. Die Überlegung dahinter ist sehr simpel: Wenn man eine(n) ArbeitnehmerIn möchte, der/die seine/ihre Arbeit gewissenhaft und pünktlich verrichtet, muss er/sie schon sehr früh Teil dieser Gesellschaftsform sein. Dazu steckt man ihn/sie in ein Bildungssystem, das genau darauf ausgelegt sind, solche Menschen zu „produzieren“.

Dieses System wurde mit der Industrialisierung eingeführt. Die Arbeit stand im Mittelpunkt aller Menschen. Wer nicht arbeitete, war schlecht. Doch dieses System ist zur heutigen Zeit überholt, denn die Arbeit steht nicht mehr im Mittelpunkt eines jeden Menschen. Ganz im Gegenteil: Die Menschen sind durch dieses System, gepaart mit der Globalisierung und „der schieren Unendlichkeit an Möglichkeiten“ komplett überfordert, und äußern das Bedürfnis nach weniger Arbeit und weniger Druck. Und um diese gesellschaftlichen Strukturen und Herausforderungen herbeizuführen, braucht es ein neues Menschenbild und neue gesellschaftliche Strukturen (vgl. Ludwig 2022: 1). Rutger Bregman ist genau dieser Auffassung und versucht zu beweisen, dass eine „neue Realität“ längst überfällig ist. Das nächste Kapitel beschreibt Bregmans Idee von einem „neuen Realismus“, einem positiven Menschenbild.

 

Bregman’s Menschenbild – eine neue Realität?

Bregman hat 2019 ein Werk veröffentlicht, welches das gerade beschriebene Menschenbild angeht und versucht klarzumachen, dass wir seit Jahrhunderten einem falschen Menschenbild Glauben schenken. Der Mensch wird schon viel zu lange zu negativ angesehen. Er verteidigt das Wesen des Menschen und behauptet, dass es im Grunde gut sei. Um seine Behauptungen zu untermauern, zählt er zahlreiche Beispiele aus der Geschichte auf, die beweisen sollen, dass der Mensch gerade nicht unkooperativ, feindselig und egoistisch ist. Diese Beispiele sollen genau das Gegenteil aufzeigen und beweisen, dass der Mensch immer um seine Mitmenschen bedacht ist.

Laut Bregman ist es so, dass gerade das Zusammenarbeiten in großen Gruppen den Menschen so erfolgreich gemacht hat. Solange der Mensch ein Nomade war, bis vor rund 12 000 Jahren, war es aber kein Machtkampf – ein survival of the fittest – was dem Menschen oft vorgeworfen wird, sondern ein Überleben der freundlichsten Art, also ein survival of the friendliest. Die Menschen kamen gut miteinander aus und kooperierten. Jedoch änderte sich dies mit der Sesshaftigkeit und damit auch mit der Zivilisation. Die eigene Freiheit wurde aufgegeben und wurde in die Hände Macht strebender Führer gegeben. Mit diesem Gedanken bestätigt Bregman Jean Jacques Rousseaus These, dass die Zivilisation den Menschen die Glückseligkeit, die Zufriedenheit und die Gleichheit weggenommen hat.

Aber das Kooperative hat der Mensch tief in seinen Genen verwurzelt. Dies zeige sich bis heute vor allem bei Naturkatastrophen oder Kriegen. Man denke an die Hilfsbereitschaft nach dem Hochwasser in Teilen Belgiens und Deutschlands im Juli 2021. Oder auch ganz aktuell nach den verheerenden Erdbeben in der Türkei und in Syrien. Die Menschen verfallen in einen Ausnahmezustand und es kommt geradezu zu einer Explosion des Altruismus und der Hilfsbereitschaft.

Ein großes Problem stellen jedoch die Medien dar. Eine negative Schlagzeile macht sich immer besser in der Presse als eine positive Schlagzeile. Ein gutes Beispiel bietet die Berichterstattung während der Coronapandemie: Auch wenn der Großteil der Gesellschaft sich an die Regelungen gehalten haben, hat oftmals der Teil der Gesellschaft die Aufmerksamkeit der Medien bekommen, die protestierten und nicht mit der Handhabung der Politik einverstanden war.

Wie das negative Menschenbild in unsere Köpfe eingeflößt wird, beweist das Beispiel Bregmans mit dem Buch „Herr der Fliegen“ von William Golding aus dem Jahr 1954. Dieses Buch wird in Schulen weltweit seit Jahrzehnten von SchülerInnen gelesen. Es berichtet von einer kleinen Gruppe von Jungen, die einen Flugzeugabsturz überleben und auf eine kleine Insel gespült werden. Das Resultat? Sie verfallen in eine brutale, hierarchische Barbarei. Die Jungen bringen sich teilweise gegenseitig um, bis sie schlussendlich vom Militär gerettet werden (Golding 2022). Golding war geprägt vom Zweiten Weltkrieg, welchen ihn zu einer schlechten Idee des Menschen verleitete, was er in seinem Buch demonstriert. Es ist allerdings nur eine erfundene Geschichte, die so nie stattgefunden hat. Was die allerwenigsten Menschen wissen, ist, dass es so einen Vorfall tatsächlich gegeben hat, nur wenige Jahre nachdem Golding sein Buch veröffentlichte. Es waren fünf abenteuerlustige Jungs aus Tonga, die eines Tages auf die Idee kamen, mit einem gestohlenen Boot auf das Meer rauszufahren. Sie gerieten in einen Sturm, kenterten und strandeten auf einer kleinen unbelebten Insel im Indischen Ozean. Es ist wie im Buch, nur mit einem entscheidenden Unterschied: Die Jungs sind nicht in ein barbarisches System verfallen und haben auch nicht versucht einander umzubringen. Ganz im Gegenteil: Sie kooperierten und versuchten gemeinsam zu überleben. Sie bauten sich Hütten, pflanzten einen eigenen Gemüsegarten und bauten eine Feuerstelle. Wenn sie sich stritten, gingen die Parteien auseinander, bis sie sich beruhigten und diskutierten alles aus. Nach über 15 Monaten wurden sie von einem australischen Kapitän gerettet. Diesen hat Bregmann in Australien ausfindig machen können, der ihm die ganze Geschichte geschildert hat (vgl. Bregman 2021: 48-57).

Das Buch „Herr der Fliegen“ wird seit Jahrzehnten in der Schule gelesen und verbreitet (bewiesenermaßen) ein falsches Menschenbild. Die wahre Geschichte der fünf Jungs aus Tonga ist bei weitem nicht so bekannt, obwohl sie der Wahrheit entspricht. Menschen sind zu Kooperation fähig, gerade in Ausnahmesituationen. In solchen Momenten kann man oft nicht klar denken, der Verstand schaltet sich selbst aus und es greifen die Instinkte ein. Deswegen ist es auch so schwer sich in eine solche Situation hineinzufühlen.

Bregman führt aber noch weitere Beispiele auf, wie versucht wird, ein falsches Menschenbild zu verbreiten. Er nennt zwei bekannte Experimente aus der Wissenschaft: Zum einen, das Milgram-Experiment (1961), welches die Bereitschaft durchschnittlicher Personen getestet hat, autoritären Anweisungen auch dann Folge zu leisten, wenn sie in direktem Widerspruch zu ihrem Gewissen stehen (vgl. Bregman 2021: 186-206). Zum anderen das Stanford-Prison-Experiment (1971), welches das menschliche Verhalten unter den Bedingungen der Gefangenschaft erforscht hat, speziell unter den Feldbedingungen des echten Gefängnislebens (vgl. Bregman 2021: 167-185). Die Ergebnisse der Experimente gingen damals viral. Beide Experimente kamen zu ein und derselben Schlussfolgerung: Der Mensch ist ein schlechtes, Macht ergreifendes Wesen. Heutzutage ist man sich aber sicher, dass beide Experimente fehlerhaft waren und bewusst manipuliert wurden. Man wollte zu den Ergebnissen kommen, die schlussendlich veröffentlicht wurden und hat dafür die Forschung verfälscht.

Bregman stellt sich auch der schwierigen und sensiblen Frage, weshalb die Soldaten der Wehrmacht während des Zweiten Weltkrieges so abscheuliche Verbrechen verüben konnten. Hier bezieht sich Bregman vor allem auf Interviews, die mit deutschen Soldaten während und kurz nach dem Krieg geführt wurden. Ihnen ging es nicht um die Ideologie der Nationalsozialisten, wie es viele vermutet haben. Ihnen ging es um etwas ganz anderes: Bregman argumentiert, dass es ihnen um ihre Kameraden ging. Sie wurden angetrieben von Loyalität, Freundschaft und Treue. All dies sind Eigenschaften, die wir als positiv wahrnehmen. Dies zeigt aber auch ein klares Problem, nämlich dass solche positiven Eigenschaften für furchtbare Verbrechen ausgenutzt werden können (vgl. Bregman 2021: 230-232).

Natürlich muss man auch erwähnen, dass Bregmans Thesen nicht kritikfrei anzusehen sind. So kritisiert Knopf mehrere Punkte. Beispielsweise spricht er den Punkt an, dass Bregman die Ansichten großer Philosophen wie Kant nicht erwähnt. Auch Hannah Arendt findet zwar einen Platz in Bregmans Buch, jedoch nur sehr oberflächlich. Die Oberflächlichkeit wird ihm auch bei der Behandlung von Hobbes und Rousseau vorgeworfen, die Bregman „in seiner Interpretation der Menschheitsgeschichte als philosophische Kronzeugen“ benutzt (Knopf 2020: 4). Beim Versuch, die Taten der Wehrmachtssoldaten zu erklären, lässt er die fast 50.000 Todesurteilen außen vor, die in den sogenannten ›Endphaseverbrechen‹ des Kriegs gegen die eigenen Kameraden ausgesprochen wurden.

Was also Bregman versucht ist eine neue Realität zu schaffen. Er möchte die Menschen von seiner Idee, dass der Mensch im Grunde gut ist, überzeugen. Er nimmt Beispiele aus der Geschichte, die diese Idee unterlegen sollen. Wie die Welt mit einem neuen Menschenbild aussehen würde, wird Teil des nächsten Kapitels sein. Dabei wird auf Bregmans Vorstellungen eingegangen, aber sie werden auch noch weitergesponnen, um ein noch genaueres Bild zu schaffen.

 

Auswirkungen des „neuen Menschenbildes“ auf unsere Gesellschaft

Die genauen Auswirkungen des Menschenbildes Bregmans sind sehr schwer zu definieren aus zwei Gründen: Zum einen wurde dieses Menschenbild in noch keiner Gesellschaft ausgiebig praktiziert oder ausgelebt. Zum anderen, und passend dazu, das alte, negative Menschenbild ist so tief in vielen Bereichen unserer Gesellschaft verwurzelt, dass man mit viel Kreativität an die Frage herangehen muss. Aber es gibt Hoffnung, denn auch schon heutzutage gibt es Menschen, die versuchen ein positives Menschenbild in bestehende, vom eigentlich negativen Menschenbild „infizierte“ Strukturen anzuwenden. Bregman nennt hierfür mehrere Beispiele. Er spricht von Unternehmen in Frankreich, Gefängnissen in Norwegen, oder Schulen und Pflegeeinrichtungen in den Niederlanden. Alle Einrichtungen haben alle eins gemeinsam: sie alle wenden durchweg ein positives Menschenbild an.

Er nennt beispielsweise Gefängnisse in Norwegen, die ganz anders mit Kriminellen umgehen, als man es sonst kennt. Sie werden nicht in kleine dunkle– mit Eisengitter versperrte – Zellen gesteckt, sondern können sich frei auf dem Gelände bewegen. Wärter sind nicht bewaffnet und haben eher ein kollegiales Verhältnis zu den Häftlingen. Das System verbucht ganz klare Erfolge: Kriminelle sitzen viel kürzer in Haft und die Chance, dass sie wieder kriminell tätig werden, sinken drastisch. Des Weiteren vertrauen die Norweger auf der Tradition des community policing. Dieses System baut auf Vertrauen zwischen Polizei und Gesellschaft auf (vgl. Bregman 2021: 356-360).

Auch die Pflegeeinrichtung Buurtzog in den Niederlanden begann ihre Organisation und ihre Arbeitsweise umzustellen. Die Organisation hat keine Manager, kein Callcenter, keine Planer, und auch keine Boni. Die Angestellten werden in Teams aufgeteilt und organisieren sich selbstständig, ohne einen Vorgesetzten. Für 50 Teams gibt es einen Coach, der einspringt, wenn es mal ein Problem gibt, wofür keine Lösung gefunden werden kann. Die Zufriedenheit der ArbeiterInnen und Klienten ist herausragend, sie sind günstiger als jede andere Pflegeeinrichtung, und die Pflegequalität ist deutlich überdurchschnittlich (vgl. Bregman 2021: 300-304). Ein ähnliches System verfolgt das Unternehmen FAVI aus Frankreich, die Teile für die Automobilindustrie herstellen. Auch hier wird in kleineren Team gearbeitet, ohne einen direkten Vorgesetzten (vgl. Bregman 2021: 305).

Auch Schulen, wie die Agora in den Niederlanden haben nichts mehr mit einer herkömmlichen Schule zu tun. Es gibt keine Vorgesetzten oder LehrerInnen, sondern Coaches; keine abzuleistenden Unterrichtsstunden, sondern eigenerstellte Lehrpläne. Jeder führt seine Arbeit so aus, wie er/sie es für richtig hält. Man ist in gewisser Weise sein eigener Chef und selbst dafür verantwortlich, was am Ende der Schulzeit dabei rauskommt. Die SchülerInnen können sich ihren Unterricht selbst zusammenstellen und das lernen, wofür sie sich auch wirklich interessieren (vgl. Bregman 2021: 318-325).

All diese Beispiele basieren auf eine Eigenschaft, den die heutige Gesellschaft aufgrund unseres Systems nur noch wenig praktiziert: Vertrauen. Ohne Vertrauen in die Mitmenschen könnten Bregmans Beispiele nicht funktionieren. Die ständige Überwachung und Kontrolle in einer hierarchischen Struktur fallen ganz weg. Man vertraut darauf, dass die Mitarbeitenden aus eigenem Antrieb und eigener Motivation ihre Arbeit gewissenhaft verrichten. Und dies zahlt sich aus: Die Qualität der Arbeitenden ist qualitativ hochwertiger und die Menschen gehen gerne zu ihrer Arbeit. Diese vorgestellten Institutionen werden immer bekannter und beliebter bei ArbeitnehmerInnen. Es gibt beispielsweise sehr viele PflegerInnen in den Niederlanden, die gerne in die Pflegeeinrichtung Buurtzog wechseln würden, da sich das Unternehmen einen großen Namen gemacht hat.

Die von Bregmans genannten Beispiele demonstrieren zwei wichtige, nicht zu vernachlässigende Punkte: Zum einen, dass bereits heutzutage Strukturen existieren, die ein positives Menschenbild anwenden, und zum anderen, dass diese funktionieren. Sie geben nur eine kleine Idee, wie die Welt aussehen könnte mit einer „neuen Realität“, aber es gibt noch sehr viele weitere Bereiche, bei denen ein neues, positives Menschenbild zu grundlegenden Veränderungen führen könnte. Was die Forschungsfrage dieser Arbeit angeht, muss man sich bewusst werden, dass ein neues Menschenbild die ganze Gesellschaft und alle Strukturen, in denen wir leben, verändern würde.

Ein wichtiger Punkt schwebt bei Bregman zwar herum und wird ab und an angedeutet, wird aber nicht wirklich präzise ausgeführt: der Umgang mit Menschen. Wenn wir Menschen unser Bild von der Person, die vor uns steht, von Anhieb ändern würden, hätte das große Auswirkungen auf unser Zusammenleben. Natürlich auch die Beziehungen unter den Menschen, aber auch auf höheren Ebenen, wie zum Beispiel bei politischen Themen. Man stelle sich einmal die Migrationskrise in der Europäischen Union 2015 vor. Hätte es diese dann überhaupt gegeben? Vermutlich schon, aber sie hätte definitiv ein anderes Gesicht bekommen. Menschen, die Zuflucht gefunden haben in einem anderen Land wurden, und werden oft mit Vorurteilen bombardiert. Sie werden oft mit Kriminalität, Faulheit und teuren Kosten in Verbindung gebracht. Die Folgen dieses Denkens waren und sind immer noch verheerend: Ein starker Aufschwung rechter Parteien in Europa (beispielsweise die AfD in Deutschland oder Vlaams belang in Flandern in Belgien) oder das Anzünden von Asylantenheimen sind nur zwei von vielen Beispielen. Mit einem neuen Menschenbild sieht Zuwanderung in einem Land höchstwahrscheinlich anders aus. Man würde die Geflüchteten nicht mehr mit Misstrauen, Hass und Vorurteilen begrüßen, sondern mit Hilfsbereitschaft, Empathie und Vertrauen. Denn auch das hat es gegeben in vielen europäischen Ländern. Man erinnere sich an die hunderten Menschen, die Flüchtlinge an Bahnhöfen und Flughäfen mit Plakaten mit Aufschriften wie „Herzlich Willkommen“ oder „Jetzt seid ihr in Sicherheit“ begrüßt haben. Aber auch hier haben die Medien vor allem den Menschen Gehör gegeben, die gegen diese „Willkommenskultur“ waren.

Ein weiteres politisches, aber auch gesellschaftliches Thema, welches die ganze Welt beschäftigt, ist der Klimawandel. Die Tragfähigkeit unseres Planeten ist ausgereizt und daran Schuld ist der Mensch und das kapitalistische System, welches er erschaffen hat. Die Frage lautet: Kann ein positives Menschenbild dazu beitragen, den Klimawandel gut zu überstehen? Ja, kann es. Das Problem ist, dass vielen Klimaschützern ein zynisches Bild des Menschen vorschwebt, was viele Menschen davon abhält etwas an ihrem Verhalten zu verändern.

Die Überlegung ist simpel: Durch das neue Menschenbild wird der Umgang der Menschen untereinander verbessert. Man versucht, sich um die Menschen besser zu kümmern, und sie mit mehr Respekt zu behandeln. Das bedeutet, dass der Mensch, und nicht die Arbeit in den Fokus rückt, so wie es die letzten 200 Jahre durch die Industrialisierung der Fall war. Und wenn man sich nachhaltig um die Menschen kümmern möchte, kommt man an den Klimawandel nicht herum, denn ein guter und nachhaltiger Umgang mit der Erde bedeutet auch, dass die nächsten Generationen der Menschheit weiterhin auf unserem Planeten leben können. Kurz gesagt: Um den Menschen zu respektieren, muss man auch die Natur respektieren und sie gut und nachhaltig behandeln.

Dieses Kapitel hat zwei Dinge demonstriert: Zum einen, dass ein positives Menschenbild unsere Gesellschaft sehr verändern würde. Zum anderen haben die genannten Beispiele gezeigt, dass die Vorstellung von einer „neuen Realität“ gar nicht so abstrakt ist, wie man meinen könnte. Es gibt mutige Menschen, die dieses neue Menschenbild bereits praktizieren, und das mit Erfolg. Sie setzen ein positives Menschenbild voraus, selbst da, wo sich viele ein positives Menschenbild nicht vorstellen können, wie beispielsweise in den norwegischen Gefängnissen. Und sie werden dafür belohnt: Wenn man sich die zahlreichen Institutionen anschaut, stößt man auf viele positive Punkte, die die negativen bei weitem übertrumpfen. Die Überlegung ist einfach: Wenn ich ein anderes, positives Bild von dem Menschen habe, der mir gegenübersteht, dann werde ich ihn auch anders behandeln. Die Globalisierung und die Technologie haben die Menschen auf der ganzen Welt näher zusammengebracht, wodurch wir untereinander im ständigen Austausch sind. Gerade dann ist ein guter und respektvoller Umgang miteinander extrem wichtig, und Bregmans Bild des Menschen könnte einen großen Beitrag dazu leisten. Die Beispiele zeigen, es ist Zeit für einen „neuen Realismus“, für ein neues Menschenbild.

 

Schlussfolgerung

Diese Arbeit hat untersucht, was ein neues Menschenbild nach der Vorstellung von Rutger Bregman für unsere Gesellschaft bedeuten würde. Jeder Mensch hat ein eigenes Menschenbild und ist von großer Bedeutung, denn es erklärt die Vorstellung vom Menschen, aber auch den Umgang mit ihm. Das bisherige Menschenbild war sehr negativ behaftet. Diese Arbeit hat das für unsere Gesellschaft prägende Menschenbild von Thomas Hobbes vorgestellt, da es für viele weitere bedeutende Philosophen später als Grundlage für ihre Thesen verwendet wurde. Der Mensch hat seine Freiheit aufgrund des andauernden Konkurrenzkampfes abgegeben, wodurch ein hierarchisches System entstand. Diese Vorstellungen haben dann alle Strukturen unserer Gesellschaft infiziert. Schulen, Unternehmen, Verwaltungen, Gerichte, und Gefängnisse sind nur einige Beispiele. Sie bauen auf dem Menschenbild von Hobbes auf: Hierarchie, Macht und Misstrauen.

Bregman ist dieses Menschenbild angegangen und sieht es als falsch an. Für ihn ist der Mensch von Natur aus ein gutes, kooperatives und freundliches Wesen. Er nennt zahlreiche Beispiele, die diese These untermauern. Es sind allesamt wahre Begebenheiten, die aufzeigen, dass der Mensch im Grunde gut ist.

Die Welt, mit einem solchen Menschenbild wäre eine ganz andere als die, in der wir jetzt leben. Bestehende Systeme sähen ganz anders aus und müssten komplett umstrukturiert werden. Aber so abstrakt wie es klingt ist es nicht, denn schon zahlreiche Institutionen wenden bereits mit Erfolg ein positives Menschenbild an. Ihre Arbeitsweisen basieren auf Vertrauen und Eigenständigkeit, was sich auch auszahlt. Diese genannten Beispiele demonstrieren, dass die Einbindung eines positiven Menschenbildes gar nicht so abwegig ist, wie man meinen könnte. Um einen Umschwung in der Gesellschaft hinzubekommen, müssten natürlich noch viel mehr Menschen von dem „neuen Realismus“ mitbekommen, denn am Ende sind es die Menschen selbst, die für ihr Menschenbild zuständig sind.

Diese Arbeit hat mehrere Limitationen aufzuweisen und bietet Platz für weitere Recherche in dem angesprochenen Themenbereich. Sie hat sich lediglich auf Rutger Bregmans Idee eines neuen Menschenbildes bezogen, wobei noch weitere Autoren wie Yuval Harari beispielsweise mit in die Diskussion miteinbezogen werden könnte. Des Weiteren hat diese Arbeit zum Beispiel nicht ausführlich die Frage beantwortet, wie eine Transmission zu einem neuen Menschenbild genau geschehen könnte.

 

Literaturverzeichnis

 

Bauer, R. (2008). Gehirn oder Geist – Wer und was sind wir? Logos Berlin.

Bregman, R., Faure, U. & Busse, G. (2021). Im Grunde gut: Eine neue Geschichte der Menschheit (10.). Rowohlt Taschenbuch.

Döpp, H. & Sade, M. D. (2014). Der Mensch ist Böse – Zum 200. Todestag des Göttlichen Marquis: – Lehren und Sprüche des Marquis de Sade – (2. Aufl.). BoD – Books on Demand.

Golding, W. (2022). Herr der Fliegen/Die Erben/Der Turm der Kathedrale + 1 exklusives Postkartenset. FischerVerlag.

Ludwig, B. (2022b). Unserer Zukunft auf der Spur: Wer wir waren, wer wir sind, wer wir sein können (K&S Um/Welt). Kremayr & Scheriau.

Schumacher, E. (2014, 24. April). Thomas Hobbes: Der Naturzustand des Menschen. ZEIT für die Schule. Lernplattform. https://blog.zeit.de/schueler/2013/09/25/thomas-hobbes-naturzustand/

Weinert, A. B. (1998). Organisationspsychologie (4. Aufl.). BeltzPVU.

Zichy, M. (2021). Die Macht der Menschenbilder. Wie wir andere wahrnehmen: [Was bedeutet das alles?]. Reclam.

 

 

 

Menschenbild, Rudger Bregnan im Grunde gut