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Raphaela Kell / Detlef Baer: Aachener Scoring-Modell zur Bilanzierung nachhaltigen Unternehmertums

Das Pariser Klimaabkommen, die Sustainable Development Goals (SDGs), der Circular Economy Action Plan (CEAP), die Taxonomie und die Corporate Sustainability Reporting Directive (CSRD) der Europäischen Union sowie das im Januar 2023 in Kraft getretene Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz der Bundesrepublik setzen den neuen globalen Handlungsrahmen für alle wirtschaftlichen und unternehmerischen Aktivitäten. Zudem gibt es immer mehr nationale und internationale Gerichtsurteile gegen Unternehmen und Regierungen zugunsten eines effektiveren Klima- und Umweltschutzes. Europa- und bundesweit stehen Unternehmen somit vor enormen Veränderungsprozessen und Herausforderungen. Angesichts der rasant sich zuspitzenden Klima- und Umweltprobleme müssen sich Unternehmen in ihrer Gesamtheit mindestens den Vorgaben der ratifizierten Klima- und Umweltschutzabkommen anpassen und in Rechenschaftsberichten die Bilanzierung ihrer Bestrebungen öffentlich zugänglich machen.

Bundes- wie Landesministerien, aber auch immer mehr Städte und Kommunen suchen und fordern in diesem Zusammenhang ein allgemein anerkanntes, umfassend angelegtes Benchmarkingsystem, welches möglichst alle denkbaren sozialen und ökologischen Aspekte einer unternehmerischen Nachhaltigkeitsstrategie berücksichtigt und mit dem die Prozesse nachhaltigen Unternehmertums bemessen und optimiert werden können. Allein in Deutschland kursiert eine Vielzahl solcher Benchmarking- und Bilanzierungssysteme (auch Scoring genannt), was eine vergleichende Bewertung unternehmerischer Nachhaltigkeitsstrategien nahezu unmöglich macht. Zudem erfassen die meisten der zurzeit entwickelten Nachhaltigkeits-Scorings meist nicht die gesamte Komplexität der Nachhaltigkeitszielsetzungen und Umweltauswirkungen, sondern bilanzieren, je nach Anbieter und Klientelinteressen, nur Teilbereiche der gesamten Nachhaltigkeitspalette. Nur die wenigsten Modelle bilden darüber hinaus ausdifferenzierte Scores ab, die eine nachvollziehbare Gewichtung der unterschiedlichen Nachhaltigkeitskriterien/-indikatoren ermöglichen.

Wenn Unternehmen in naher Zukunft Rechenschaft darüber ablegen müssen, ob und inwieweit sie ihr Wirtschaften nachhaltiger ausrichten, müssen sie sich darauf verlassen können, dass die unter diesem Aspekt erfolgten Maßnahmen allseits formal anerkannt und von ihren Kund:innen und Geschäftspartner:innen akzeptiert werden. Auch Städte und Kommunen benötigen u.a. für die Frage der öffentlichen Beschaffung oder Planungen zur kommunalen Wirtschaftsförderung ein allgemeingültiges Bilanzierungs- bzw. Scoring-System, um objektiv ermessen zu können, ob Unternehmen, deren Produkte sie beziehen oder mit denen sie kooperieren, auch tatsächlich im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung agieren oder Greenwashing betreiben und somit den Klima- und Umweltschutz oder soziale Standards unterlaufen.

In immer mehr Städten und Kommunen wächst der Wunsch, Unternehmen, die sich nachhaltig aufstellen, zu prämieren, zu fördern und gegebenenfalls zu zertifizieren. Gleichzeitig sorgen sich viele Unternehmerinnen und Unternehmer, dass mit den Rechenschaftsberichten oder etwaigen Zertifizierungsprozessen ein immenser Arbeits- und Kostenaufwand auf sie zukommt, um diese Bilanzen zu erstellen oder sich zertifizieren zu lassen. So wird zum Beispiel das Bilanzierungsmodell der sogenannten Gemeinwohlökonomie, welches augenblicklich stark in den Fokus kommunaler Nachhaltigkeitsstrategien gerückt ist, wegen des enormen Arbeits- und Kostenaufwands, den die Betriebsführung erbringen muss, an dieser Stelle immer stärker kritisiert.

Was wir jetzt also dringend benötigen, ist ein sehr komplex ausgelegtes, branchenübergreifendes und allgemein anerkanntes, aber zugleich auch für Unternehmen einfach zu handhabendes Bilanzierungs- und Optimierungssystem, das nicht nur im Sinne der EU-Taxonomie Unternehmen und Investoren eine Beurteilungsgrundlage an die Hand gibt, sondern darüber hinaus auch Verbraucherinnen und Verbrauchern sowie Städten und Kommunen eine Bewertung von Nachhaltigkeit in Unternehmen ermöglicht.

 

Der Arbeitskreis Wirtschaft und Unternehmen unseres Vereins Regionale Resilienz Aachen hat mit der Unterstützung einiger Studierender des Instituts für Politische Wissenschaft der RWTH Aachen und der FH Aachen in den vergangenen Jahren an der Entwicklung eines solchen Scoring-Systems gearbeitet und versucht, ein möglichst komplex angelegtes Indikatoren-Set zur Bemessung nachhaltigen Unternehmertums zu erstellen, das möglichst alle Facetten einer nachhaltigen Wirtschaftsentwicklung bis hin zu ethischen Aspekten, die über das Lieferkettensorgfaltsplichtengesetz hinausgehen, einbezieht. Wir freuen uns sehr, dass wir aktuell eine Kooperation mit dem Team des Startups Circonomit aufbauen können, das von der gleichen Idee wie wir beseelt ist und eine entsprechende Evaluations- und Optimierungssoftware entwickelt, in die auch unsere Kriterien und Indikatoren einfließen können. Gemeinsam mit dem Center for Circular Economy der RWTH Aachen und mit Unterstützung des Instituts für Politische Wissenschaft der RWTH Aachen arbeiten wir in engem Austausch an der Perfektionierung eines komplex aufgebauten Bilanzierungs- bzw. Zertifizierungssystems.

Nach vielen Recherchen, die wir für die Entwicklung unseres eigenen Indikatoren-Sets tätigen mussten und in denen wird durch die Auswertung bestehender Bechmarkingsysteme wichtige Erkenntnisse über die Vorteile, aber auch Unzulänglichkeiten dieser Systeme erlangen konnten, sind wir der Überzeugung, dass die von Circonomit entwickelte und jetzt in einem Pilotprojekt getestete Softwarelösung ein bereits sehr umfassendes Bemessungssystem in Deutschland ist, welches eine bemerkenswert einfache Anwendung in Unternehmen gewährleistet. Einzelne Abteilungen und Produktionsprozesse können ebenso bilanziert werden wie das Unternehmen in seiner Gesamtheit. Das entwickelte Scoring-Modell ist allumfassend angelegt, überprüft je nach Branchenzugehörigkeit eines Unternehmens jedoch nur die Kennzahlen/Indikatoren, die für dieses im Hinblick auf Nachhaltigkeit relevant sind. Dadurch lassen sich auch Unternehmen unterschiedlicher Branchen miteinander vergleichen, was im Rahmen eines zukunftsweisenden wirtschaftlichen Transformationsprozesses nicht unwichtig ist. Auch seine Ausbaufähigkeit zur Integration weiterer – gegenwärtig vielleicht noch nicht als relevant erkannter – Indikatoren/Kennzahlen macht dieses System besonders zukunftsfähig.

Die Softwarelösung von Circonomit stellt auf der Oberfläche die Zusammenhänge zwischen Umwelt- und Wirtschaftsfaktoren dar. Dies erleichtert dem Nutzer das Verständnis der Auswirkungen von Veränderungen in verschiedenen Bereichen der Wertschöpfungskette. So können fundierte Entscheidungen für eine nachhaltige Entwicklung getroffen werden. Durch die Verknüpfung aller Entscheidungsträger werden alle im Rahmen eines Prozesses agierenden Personen aktiv in die Entscheidungsfindung miteingebunden. Partielle Ineffizienzen können dadurch identifiziert und behoben werden und so enorme Ressourceneinsparungen erzielen. Außerdem werden Entscheidungen zentral erfasst und so für alle Beteiligten nachvollziehbar. Dadurch wird eine resiliente und wettbewerbsfähige Unternehmenstransformation unter Berücksichtigung aktueller und zukünftiger gesetzlicher Rahmenbedingungen gewährleistet.

Wie genau funktioniert die Softwarelösung von Circonomit?

Circonomit verknüpft auf dem Fundament eines graphenbasierten Modellierungs- und Berechnungsrahmens Umwelt- und Wirtschaftsindikatoren, um die Komplexität bestehender Abhängigkeiten in Unternehmen durch in Algorithmen verankerte mathematische Modelle aufzubrechen. Eine integrierte Filterfunktion ermöglicht dem Nutzer die gezielte Auswahl von benötigten Indikatoren. Im ersten Modul sind die Knotenpunkte „Abteilungen“, „Entscheidungsträger“, „Produkte“, „Prozesse“ und „Gesetzestexte“ enthalten. Erkannte Ineffizienzen in bestehenden Abhängigkeiten werden als Hebel genutzt, um Geschäftsstrukturen zu optimieren und so Kosten und Umweltbelastungen zu reduzieren. Eigene Daten können eingepflegt und mit bestehenden Knotenpunkten verbunden werden. Neben einer ganzheitlichen Prozessbetrachtung können so einzelne Teilbereiche herausgelöst werden, um eine partielle, abteilungsspezifische Evaluation zu gewährleisten.

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