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Politische Partizipation

Linnéa Raufuß: Politische Partizipation im Wandel – von Protest zu mehr Konstruktivität?

Vorgelegt als Bachelorarbeit von Linnéa Raufuß am Institut für Politische Wissenschaft der RWTH Aachen

Politische Partizipation ist aus unserem heutigen Leben kaum wegzudenken. Angefangen bei Wahlen bis hin zu neueren Formen wie Bürger:innenräten; mittlerweile gibt es zahlreiche Möglichkeiten, das politische Geschehen als Bürger:in aktiv zu beeinflussen. Aktuell sind diese in den Rahmen des repräsentativen Demokratiesystems eingebettet, aber der Wunsch nach weiterführenden und direktdemokratischen Möglichkeiten auf Bürger:innenseite wächst stetig (vgl. Vehrkamp/Tillmann 2014: 10). Politik und Verwaltung lassen sich immer mehr auf diese Wünsche ein und sehen selbst den Mehrwert von mehr Beteiligung (vgl. ebd.: 27; 42). So ist beispielsweise im neuen Koalitionsvertrag für NRW zwischen CDU und den Grünen klar geregelt, dass mehr Elemente zur Bürger:innenbeteiligung in verschiedenen Gebieten der Politik angeboten werden sollen (vgl. CDU NRW/Bündnis 90 Die Grünen o.J.: 90f.). Doch inwiefern hat sich genau diese Entwicklung überhaupt ergeben und sind wir damit auf dem Weg hin zu einem neuen Verständnis von Demokratie?

Ich stelle in dieser Arbeit die These auf, dass die Anfänge politischer Partizipation in der Bundesrepublik Deutschland neben der klassischen Wahlmöglichkeit eine eher protestbasierte Form aufwiesen, begründet durch den Mangel an weiteren Partizipationsmöglichkeiten. Ausgehend von einer immer weiter zunehmenden Komplexität der globalen und lokalen Probleme und der immer größer werdenden Wünsche nach mehr Beteiligung auf Seiten der Bürger:innen ist dann eine Entwicklung zu mehr Partizipation erfolgt. Letztendlich scheint es sowohl von der Zivilgesellschaft als auch von politischen Akteur:innen gewünscht zu sein, Bürger:innen aktiver einzubinden, so dass sich die Partizipationslandschaft von primär protestbasierten „bottom-up“-Formen zu einer Existenz von konstruktiven und auch „top-down“-initiierten Formen entwickelt hat. Ein Paradigmenwechsel hin zu mehr Partizipation, basierend auf einem gegenseitigen Vertrauen, scheint sich anzubahnen. Aufgrund dieser Vermutung soll die vorliegende Arbeit folgende Forschungsfrage beleuchten: Inwiefern hat sich die politische Partizipationslandschaft in Deutschland von einer Protestkultur zu einem Angebot konstruktiver Formen entwickelt?

Um diese Frage zu beantworten, soll zunächst eine Einführung in die Begrifflichkeit politischer Partizipation gegeben werden. Für die Arbeit relevante Typologisierungen wie „top-down“ oder „bottom-up“ werden hier erläutert. Auf Basis dieser Ausführungen sollen im nächsten Kapitel Beispiele von Protestbewegungen der 60er-, 70er- und 80er-Jahre innerhalb Westdeutschlands analysiert werden. Hierbei handelt es sich primär um die Studentenbewegung, beziehungsweise die Außerparlamentarische Opposition (APO) und die Neuen Sozialen Bewegungen (NSB). Nachfolgend soll die Partizipationslandschaft der 60er- und 70er-Jahre analysiert werden, um eine potentielle Entwicklung dieser überhaupt überprüfen zu können. Welche Folgen die APO und die NSB unmittelbar mit sich brachten, insbesondere mit Blick auf eben diese potentiellen Entwicklungen der Partizipationslandschaft, wird das nächste Kapitel zeigen.

Ausgehend von den damaligen Entwicklungen wird dann ein Einblick in die deliberative Demokratietheorie folgen, die in den 90er-Jahren den Diskurs um Partizipation dominierte. Hierbei wird unter anderem betrachtet, welches Menschenbild die deliberative Demokratietheorie voraussetzt. Zudem wird die praktische Umsetzung der deliberativen Formen politischer Partizipation genauer beleuchtet, die gleichermaßen einen Übergang in die Gegenwart mit den sogenannten „neuen“ Formen politischer Partizipation bieten.

Im folgenden Kapitel werden diese „neuen“ Formen kurz zusammengefasst und ein Stimmungsbild aus Gesellschaft und Politik eingeholt. Wie stehen beide Akteur:innen zu diesen Entwicklungen? Ist der Wunsch nach Partizipation durch die Etablierung neuer Formen gestillt?  Anschließend wird im Rahmen dieser Entwicklung kurz beleuchtet, inwiefern Partizipation auf Basis aktueller Herausforderungen als Lösung angesehen werden kann. Diese Darstellung soll eine mögliche Erklärung für die positive Entwicklung zugunsten partizipativer Ansätze bieten, ohne hierbei eine endgültige Wertung dieser anzustreben.

Im letzten inhaltlichen Kapitel wird dann die Legitimität dieser neuen Formen analysiert. Was ist mit Blick auf die Input-, Throughput- und Output-Legitimation zu beachten, damit Partizipation tatsächlich positive Konsequenzen mit sich bringt? Hierbei sollen Faktoren wie die Zugänglichkeit und die erzielten Ergebnisse fokussiert werden. Handelt es sich beispielsweise um „Elitenprojekte“ und „Scheinverfahren“ oder wird tatsächlich ein zugänglicher und ergebnisorientierter Prozess angestrebt? Im Ausblick kann dann die Frage aufgeworfen werden, ob eine Tendenz zu partizipativer Öffnung das potentielle Entstehen eines neuen Demokratieverständnisses auf lange Sicht mit sich bringen würde. Diese Frage wird allerdings nicht mehr Teil dieser Arbeit sein, denn ob sich tatsächlich ein Paradigmenwechsel vollziehen wird, kann erst die Zukunft zeigen. Ziel dieser Arbeit soll vielmehr sein, erste Tendenzen basierend auf den Protestbewegungen der 60er-Jahre zu beleuchten.  

2.     Einführung in politische Partizipation

Um die Entwicklung der Möglichkeiten zur politischen Partizipation darstellen zu können, muss zunächst geklärt werden, was genau unter politischer Partizipation verstanden wird. Hierfür liefert die Politikwissenschaft mit der geläufigen Definition nach Max Kaase einen potentiellen Ansatz. Laut Kaase umfasst politische Partizipation demnach „Tätigkeiten, die Bürger […] freiwillig mit dem Ziel unternehmen, Entscheidungen auf den verschiedenen Ebenen des politischen Systems zu beeinflussen“ (Kaase 1992: 682 zit. nach Bätge et al. 2021: 4). Auch diese vorliegende Arbeit wird sich an der Definition nach Kaase orientieren, ohne hierbei einen Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben. Ebenfalls soll hier keine strikte Trennung der Begriffe der politischen und sozialen Partizipation vorgenommen werden. Soziale Partizipation hat zwar nicht das Ziel der unmittelbaren Einflussnahme des politischen Geschehens und unterscheidet sich somit in den Motiven von der politischen Partizipation (vgl. Steinbrecher 2009: 28), allerdings kann „fast jedes Handeln, auch innerhalb eines explizit nicht-politisch abgegrenzten Umfeldes, politische Dimensionen im Sinne von politischer Bedeutsamkeit annehmen“ (Kaase 1997: 160, zitiert nach Steinbrecher 2009: 27). Die Sphäre des gesellschaftlichen Handelns ist folglich schwierig von der Sphäre des politischen Handelns zu trennen (vgl. ebd.).

Was die Definition von Kaase nicht konkret zeigt, aber beinhaltet, ist die Tatsache, dass politische Partizipation in einige Kategorien typologisiert werden kann. Da diese für den weiteren Verlauf der Arbeit relevant sind, werden sie nun kurz dargestellt:

Zunächst lässt sich politische Partizipation in verfasste und nicht-verfasste Formen einteilen, wobei hier synonym auch der Begriff der „Institutionalisiertheit“ (Niedermayer 2001: 160) verwendet werden kann. Gemäß dieser Typologisierung zeichnen sich institutionalisierte oder verfasste Formen durch ihren „verfassungsmäßig, gesetzlich oder über sonstige allgemeine Regelungen explizit vorgesehene[n], nach allgemeinverbindlichen Regeln ablaufende[n]“ (ebd.) Charakter aus, „während die nicht institutionalisierten Formen durch offene Zugangs- und Rahmenbedingungen gekennzeichnet sind“ (ebd.) und sich folglich auch nicht in Form von Rechtstexten äußern. Da, wie die Definition nach Kaase zeigt, Partizipation „auf den verschiedenen Ebenen des politischen Systems“ (Kaase 1992: 682 zit. nach Bätge et al. 2021: 4), nämlich Bund, Länder und Kommunen, stattfinden kann, dienen beispielsweise die Gesetzestexte dieser Ebenen als Grundlage verfasster Formen. Auf Bundesebene fungiert das Grundgesetz (GG) als Rechtsquelle für politische Partizipation. Aufgrund des repräsentativen Charakters der Bundesrepublik Deutschland stehen hier „Wahlen und Abstimmungen“ (GG Art. 20 Abs. 2) im Fokus, wobei Abstimmungen auch direktdemokratische, also „unmittelbare Sachentscheidungen des Volkes“ (Bätge et al. 2021: 6), darstellen. Eine Unterscheidung nach Wirkungskraft der Partizipationsformen ist folglich auch möglich, so dass hier bereits erkennbar wird, dass sich die Charakteristika der einzelnen Formen nicht klar einordnen lassen. Auf die institutionalisierten Formen im Grundgesetz wird in Kapitel 3 erneut Bezug genommen, so dass der genaue Ablauf hier nicht weiter ausgeführt werden soll. Auf Landesebene existieren ebenfalls in Landesverfassungen verankerte Formen, wie Wahlen und Abstimmungen, wobei letztere ihre Form in Bürger:innenentscheiden finden und „im Wesen den Volksentscheiden auf staatlicher Ebene“ (Bätge et al. 2021: 7) entsprechen.

Eine weitere Typologisierung der Formen politischer Partizipation lässt sich durch die Einteilung in konventionelle und unkonventionelle Formen vornehmen und kombiniert hierbei den Aspekt der Verfasstheit mit der Legitimität (vgl. Kaase 1992: 148). „Als konventionell werden diejenigen Beteiligungsformen bezeichnet, die mit hoher Legitimitätsgeltung auf institutionalisierte Elemente des politischen Prozesses, insbesondere die Wahl bezogen sind, auch wenn diese Formen selbst nicht institutionalisiert sind.“ (ebd.) Verfasste Formen sind also in den meisten Fällen auch als konventionell anzusehen, aber andersherum sind nicht alle konventionellen Formen zwangsläufig per Rechtstext festgelegt, wie das Beispiel der Parteiarbeit zeigt. Diese gilt als übliches und konventionelles Instrument zur Ausübung politischer Beteiligung, ist aber nicht rechtlich verankert festgelegt.

Ähnlich wie bei dem Zusammenhang von Verfasstheit und Konventionalität verhält es sich bei der Typologisierung politischer Partizipation in legale und illegale Formen. Illegale Formen sind nicht institutionalisiert, wobei aber nicht-institutionalisierte Formen nicht symmetrisch hierzu zwangsläufig illegal sind (vgl.  Niedermayer 2001: 160). Nicht genehmigte Proteste, die sich gegen geltendes Recht setzen, können dann in Form des zivilen Ungehorsams beispielsweise als illegal eingestuft werden. Genehmigter Protest hingegen ist legal. (Vgl. ebd.: 161) Beide Formen gelten hierbei allerdings als unkonventionell (vgl. Lange 2014: 227).

Zu guter Letzt ist Partizipation einteilbar in „bottom-up“- oder „top-down“-initiierte Formen. „Bottom-up“ bedeutet in diesem Kontext, dass Bürger:innen proaktiv Partizipation initiieren, indem sie beispielsweise Bürger:innenentscheide aufsetzen oder sich in Bürger:inneninitiativen zusammenschließen (vgl. Decker/Lewandowsky/Solar 2013: 37). „Top-down“ hingegen meint, dass politische Akteur:innen, wie beispielsweise Berufspolitiker:innen oder Verwaltungsmitarbeitende, Formen anbieten, die dann von der Zivilbevölkerung wahrgenommen werden können (vgl. ebd.: 37f.). Beispielhaft anzuführen wären hier aktive Befragungen im Rahmen von Konsultationsprozessen oder von Kommunen initiierte Bürger:innenräte.

Diese Einführung zeigt, dass politische Partizipation nicht eindeutig definierbar ist und einzelne Formen in ihrer Typologisierung nicht endgültig voneinander abgegrenzt werden können. Dennoch sollten Kriterien zur Einordnung aufgezeigt werden, um in der nun folgenden Analyse der Partizipationslandschaft einen potentiellen Wandel besser darstellen zu können.

3.     Protestbewegungen als Anfänge der Partizipationslandschaft

Die Protestbewegungen der 60er- und 70er- Jahre waren im westlichen Teil Deutschlands maßgeblich durch die Studentenbewegung, beziehungsweise die Außerparlamentarische Opposition (APO) und die darauf aufbauenden Neuen Sozialen Bewegungen (NSB) gekennzeichnet. Im Folgenden sollen diese Strömungen dargestellt und ihre potentiellen Auswirkungen auf die Partizipationslandschaft betrachtet werden.

3.1 Studentenbewegung und Außerparlamentarische Opposition

In den 70er-Jahren wird den westlichen Demokratien ein „Wertewandel“ zugeschrieben, der basierend auf Analysen von Ronald Inglehart eine „Verschiebung von den materialistischen zu den postmaterialistischen Werten, von traditionellen politischen, religiösen, moralischen und sozialen Normen hin zu den sich durchsetzenden Werten der Lebensqualität, Selbstentfaltung und -verwirklichung“ (Reichardt 2008: 74) hervorbrachte (vgl. ebd.). Im Zuge dieser Veränderungen des Wertesystems entstanden dann die Protestwellen der 60er- und 70er-Jahre. Diese beschränkten sich gemäß dem diagnostizierten Wertewandel der westlichen Welt nicht auf die Bundesrepublik; stattdessen hatten „[d]ie meisten westlichen Industriegesellschaften […] damals eine ähnliche Entwicklung zu verzeichnen.“ (Angster 2012: 59) In den USA beispielsweise wurden in den 60er-Jahren Proteste gegen das bis dato praktizierte „Apartheid-Regime“ (ebd.) lauter. Kombiniert mit „eine[r] grundlegende[n] Systemkritik“ (ebd.) und Forderungen nach mehr „Partizipationschancen“ (ebd.) fanden diese Entwicklungen „einen Kristallisationspunkt in der schwarzen Bürgerrechtsbewegung“ (ebd.). In Michigan etablierte sich parallel die „Organisation Students for a Democratic Society (SDS)“ (Angster 2012: 60), welche „das sogenannte Port Huron Statement“ (ebd.) verfasste. Die SDS „stellt sich hierin gegen den Rassismus in den Südstaaten, gegen die Gefahr eines Atomkriegs und forderte eine ‚partizipatorische Demokratie‘ anstelle der bisherigen Elitenherrschaft.“ (ebd.)

Ähnlich zu den Entwicklungen in den USA sind es auch in Deutschland die Studierenden, die seit den 60er-Jahren die Protestlandschaft prägten. Ausgehend von „Forderungen […] nach einer generellen Ausweitung der Mitbestimmungsrechte von Studierenden und dem Abbau hierarchischer Strukturen in den Hochschulen“ (Schulz 2008: 225) wurde mit Eintritt der USA in den Vietnamkrieg ein weiteres Thema für die sogenannte Studentenbewegung Proteste relevant (vgl. Schulz 2008: 225). Auch die parallellaufende Ostermarsch-Bewegung gilt als wichtiger Strang der Studentenbewegung (vgl. Borowsky 1983: 85). Diese Ostermarsch-Bewegung war eine „von christlichen, pazifistischen und sozialistischen Gruppen gebildete und nur locker organisierte Protestbewegung“ (ebd.) und richtete sich Anfang der 60er-Jahre zunächst gegen den Besitz von Atomwaffen, entwickelte sich aber mit der Zeit zu einer generellen Abrüstungsbewegung (vgl. ebd.). Eine weitere Wurzel hat die Studentenbewegung in der in den USA und Großbritannien entstandenen Neuen Linken, welche „sich von der kommunistischen ebenso wie von der reformistisch-sozialdemokratischen Bewegung bewusst abgrenzte und die sozialistische Dogmatik durch eine antiinstitutionelle Orientierung ersetzen wollte.“ (Möltgen-Sicking 2021: 55) Maßgebliche Trägerorganisation dieser Neuen Linken und der Studentenbewegung war der ursprünglich SPD-nahe Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS), welcher aber seit 1960, aufgrund unterschiedlicher Ansichten zum Godesberger Programm, nicht mehr von der SPD mitfinanziert wurde (vgl. Schulz 2008: 435; Borowsky 1983: 85).

1966 nahmen die Proteste der Studentenbewegung dann die erste Große Koalition zwischen CDU und SPD in ihren Fokus (vgl. Angster 2012: 62). Nachdem die Regierung zwischen FDP und CDU unter Kanzler Ludwig Erhard aufgrund von Uneinigkeiten über den für 1967 geplanten Haushaltsplan nd damit verbundenen Steuererhöhungen im Oktober 1966 scheiterte, musste eine neue Lösung gefunden werden (vgl. Borowsky 1983: 58ff.). Zur Option standen „die Neuauflage einer Koalition zwischen CDU/CSU und FDP mit veränderter Zusammensetzung, eine große Koalition zwischen CDU/CSU und SPD und eine Koalition zwischen SPD und FDP.“ (ebd.: 61) Ludwig Erhard sollte aufgrund des „Autoritätszerfall[s]“ (ebd.) aber in keiner der genannten Optionen „eine Rolle spielen“ (ebd.). Letztendlich entschieden sich die Parteien, trotz teilweisem Unmut in der SPD, für die große Koalition zwischen CDU/CSU und SPD (vgl. ebd.: 65). Ludwig Erhardt trat infolgedessen am 30. November 1966 zurück; einen Tag später wurde dann Kurt Georg Kiesinger vom Bundestag zum neuen Kanzler gewählt (vgl. ebd.: 66f.). Die große Koalition führte bezogen auf die Zusammensetzung des Bundestags dazu, dass die FDP als einzige parlamentarische Opposition mit lediglich 49 Abgeordneten den 447 Abgeordneten von CDU/CSU und SPD gegenüberstand (vgl. Borowsky 1983: 84). „Eine kritische Auseinandersetzung mit der Regierungspolitik im Parlament war dieser winzigen Oppositionspartei nur eingeschränkt möglich.“ (ebd.) Der Mangel an einer starken Opposition verunsicherte die ohnehin schon unruhigen Studierenden und erweckte die Sorge einer regelrechten Gefährdung der Demokratie inklusive Kontrollverlust der Regierung (vgl. Angster 2012: 62). Zusätzlich wurden Rufe nach einer Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit Deutschlands lauter, welche in den Augen der protestierenden Studierenden noch nicht stattgefunden hatte (vgl. Angster 2012: 62). Befeuert wurde dieser Eindruck durch die Tatsache, dass Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger ehemals Mitglied der NSDAP war und damit „die Verantwortlichen von damals noch immer an der Macht“ (ebd.) seien. Es etablierte sich infolgedessen 1967 die sogenannte Außerparlamentarische Opposition (APO)[1] (vgl. Borowsky 1983: 84). Zusätzlich zu der wahrgenommenen Oppositionslosigkeit und den Überbleibseln der NS-Zeit wurde die Demokratie laut den Protestierenden der APO auch durch die bevorstehende Verabschiedung der „Notstandsgesetze“ 1968 gefährdet (vgl. Angster 2012: 62). Es wurde ein potentieller „Eingriff des Staates in die Grundrechte befürchte[t]“ (Möltgen-Sicking 2021: 55) und eine totale Machtverschiebung zugunsten der Exekutive prophezeit (vgl. Angster 2012: 62). Das wohl bekannteste Gesicht der Bewegung, Rudi Dutschke, erklärte die praktizierte parlamentarische Demokratie folglich „für nicht demokratisch […], da das Parlament die ‚wirklichen Interessen unserer Bevölkerung‘ nicht repräsentiere: Es bestehe, so Dutschke, ‚eine totale Trennung zwischen den Repräsentanten im Parlament und dem in Unmündigkeit gehaltenen Volk‘.“ (Angster 2012: 64).

All diese Wahrnehmungen und Befürchtungen mündeten in einer generellen Systemkritik an der Bundesrepublik und ihrer Gesellschaftsordnung, „die als ‚reaktionär‘ und ‚verkrustet‘ charakterisiert wurden.“ (Borowsky 1973: 87) In der Konsequenz forderte die Bewegung letztlich eine weitreichende „Demokratisierung der Demokratie“ (Lorenz/Hoffmann/Hitschfeld 2020: 4) oder gar eine „partizipatorisch[e] Demokratie“ (Rucht 2018: 43), ähnlich wie auch die amerikanischen Kommiliton:innen der SDS im Port Huron Statement (vgl. ebd.). Diese Forderungen nach Transformation wurden in den Bewegungen durch Protestformen wie „Massenkundgebungen und Unterschriftensammlungen, zu denen sich Sit-ins, Teach-ins, Menschenketten sowie Institutsbesetzungen reihten“ (Walk 2008: 111), versucht durchzusetzen. Prinzipiell dominieren damit unkonventionelle Formen der Partizipation in den Jahren der Studentenbewegung. In der Öffentlichkeit wurden diese als eher destruktive Gefahr für die Demokratie wahrgenommen, auch wenn sich dieses Bild bei genauerem Hinsehen nicht bestätigen konnte. So waren „es hauptsächlich hochgebildete, junge Menschen mit positiven Einstellungen zur Demokratie […], die Formen unkonventioneller Partizipation nutzten, um das Spektrum ihrer bisherigen Partizipation zu erweitern“ (Lange 2014: 226). (Vgl. ebd.) Mit der Zeit kam es allerdings tatsächlich zu einer teilweisen Radikalisierung der Studentenbewegung in Deutschland, in deren Folge sich die sogenannte „Rote Armee Fraktion“ (RAF) gründete. Diese nutzten in ihrem Repertoire gewaltsamere Formen des Widerstands bis hin „zum bewaffneten Kampf“ (Möltgen-Sicking 2021: 55). (Vgl. ebd.)

Abschließend ist allerdings noch zu erwähnen, dass die Studentenbewegung und die APO keineswegs auf so stringent und linear ablaufenden Protesten aufbauen, wie hier dargestellt. Viele verschiedene Ereignisse überschneiden sich und führen in ihrer Menge letztendlich zu der Bewegung, die heute als Studentenbewegung betitelt und mit der APO zum Teil gleichgesetzt wird. Studentenbewegung und APO prägen maßgeblich die Protestformen der 60er- und 70er- Jahre und eröffnen die Etablierung der sogenannten Neuen Sozialen Bewegungen, auf welche im nächsten Kapitel näher eingegangen wird.

 3.2 Neue Soziale Bewegungen

Aufbauend auf der „Beteiligungseuphorie“ der 60er- und 70er-Jahre und der Studentenbewegung als Ausdruck dieser, etablierten sich seit Ende der 60er-Jahre allmählich die Neuen Sozialen Bewegungen (vgl. Geißel/Thillmann 2006: 161). Unter diesen Neuen Sozialen Bewegungen werden demnach sämtliche Bewegungen und Initiativen gesammelt begriffen, die sich in eben diesem Zeitraum entwickelten. Es handelt sich also um ein Sammelsurium an Bewegungen mit vielfältigen Themen und nicht um ein spezifisches Anliegen einer Protestbewegung. (Vgl. ebd.) Dennoch haben die NSB gemeinsam, dass sie sich gemäß ihrem Prädikat der Neuen Sozialen Bewegungen von folglich existierenden älteren sozialen Bewegungen abgrenzen. Als Bewegungen, die sich von den NSB unterscheiden, werden beispielsweise von Karl-Werner Brand maßgeblich die Arbeiterbewegung, aber auch die Studentenbewegung der 60er-Jahre aufgezeigt (vgl. Brand 1987: 32).[2] Von der Arbeiterbewegung grenzten sich die NSB zum einen durch ihre Organisationsform ab (vgl. Geißel/Thillmann 2006: 161). Während die Arbeiterbewegung sich maßgeblich durch institutionalisierte Formen wie Gewerkschaften organisierte (vgl. Brand 1987: 32), waren die NSB dezentraler und informeller organisiert und strukturierten sich eher in „lockeren Netzwerken“ (Geißel/Thillmann 2006: 161). „Das Prinzip der Autonomie, der Selbstorganisation ‚Betroffener‘, der authentischen Artikulation von Bedürfnissen und Interessen, besitzt für sie [die NSB] einen zentralen Stellenwert; entsprechend vehement werden hierarchische Strukturen abgelehnt […].“ (Brand 1987: 34) Zum anderen sind die NSB und die Arbeiterbewegung – trotz der Themenvielfalt der NSB – durch ihre übergreifenden Inhalte zu unterscheiden. Denn während die Arbeiterbewegung ihren Fokus auf Produktions- und Einkommens- beziehungsweise Verteilungsfragen legte und somit eher materialistische Themen abdeckte, konzentrierten sich die NSB auf postmaterialistische Aspekte, wie die „gesellschaftliche Reproduktion“ (Borowsky 1989: 42) (vgl. Borowsky 1989: 32; Geißel/Thillmann 2006: 161). Gemäß der zuvor bereits aufgezeigten Tendenz des von Inglehart dargestellten Wertewandels scheint eine Verschiebung der Wertinhalte seit der Arbeiterbewegung durchaus schlüssig. Doch auch von den normativen Vorstellungen der APO grenzten sich die NSB zum Teil ab. Hierbei existiert nämlich ein ideologischer Unterschied zwischen den „Traditionslinien“ (Brand 1987: 35) beider Protestbewegungen: so orientierte sich die Leitidee der APO maßgeblich an der ideologischen und marxistischen Theorie der Neuen Linken, welche es aber nicht schaffte, „die konkreten Erfahrungen, die Ängste und Hoffnungen einer neuen Generation sinnfällig zu deuten und in handlungsleitenden Utopien zu bündeln.“ (ebd.) Auch die NSB folgten zwar einem „links-libertärem Selbstverständnis“ (Geißel/Thillmann 2006: 161) und legten ihren Fokus deshalb, wie bereits erwähnt, auf „postmaterialistische Themen“ (ebd.), allerdings weniger theoretisch und kapitalismuskritisch, als es aufgrund der Prägung durch die Neue Linke bei der Studentenbewegung üblich war (vgl. Brand 1987: 36). Trotz der normativen Differenzen waren sich die NSB und die Studentenbewegung der 60er-Jahre in ihrer Methodik sehr ähnlich. So wurde im vorherigen Kapitel bereits erläutert, dass die Studentenbewegung sich eher an unkonventionellen Formen der Partizipation bediente und ihre Forderungen maßgeblich mittels Protestaktionen wie Sit-ins „und begrenzten Regelverletzungen (z.B. Blockaden)“ (ebd.: 37) durchzusetzen versuchte. „[D]ie neuen sozialen Bewegungen können daran bruchlos anknüpfen.“ (ebd.)

Zu den bekanntesten Beispielen der NSB gehören maßgeblich die neuen Frauen-, Ökologie- und Friedensbewegungen. Die neue Frauenbewegung ging hierbei unmittelbar aus der Studentenbewegung der 60er-Jahre hervor, indem im SDS aktive Studentinnen bereits 1968 den „Aktionsrat zur Befreiung der Frau“ (Borowsky 1989: 154) gründeten, um sich gegen patriarchische Strukturen und die Diskriminierung von Frauen – auch in den eigenen Reihen – einzusetzen (vgl. ebd.). Aufgrund der Verknüpfung der Unterdrückung des weiblichen Geschlechts mit der Vorherrschaft einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung ist diese Bewegung in ihren Anfängen noch thematisch nahe an die antikapitalistische Stimmung der Studentenbewegung geknüpft (vgl. Borowsky 1989: 154). Die lockere und autonome Organisationsstruktur in Form einer Unabhängigkeit von großen und bestehenden Organisationen oder Verbänden lässt sich hierbei durch einen emanzipatorischen Willen sowie einem „Mißtrauen gegenüber festen Organisationsstrukturen und der Sorge vor politischer Vereinnahmung“ (Borowsky 1989: 158) erklären (vgl. ebd.: 156). In Konsequenz dessen suchte sich die Frauenbewegung maßgeblich „Bündnispartner“ (ebd.: 158) in anderen sozialen Bewegungen wie der Friedensbewegung (vgl. ebd.). Die Verbindung einzelner Bewegungen der NSB ist auch am Beispiel der Friedens- und Ökologiebewegungen zu erkennen. So sind den Friedensbewegungen, neben einer generellen Bewegung gegen Bewaffnung und Krieg, maßgeblich Proteste gegen die militärische Nutzung von Atomenergie in Form von Atomwaffen zuzuschreiben, während die Ökologiebewegungen zum Teil die zivile Nutzung von Atomenergie thematisierte (vgl. Rucht 2008: 246f.). In ihrer thematischen Vielfalt werden die NSB aber weiterhin prinzipiell durch ihren Wunsch nach Mitsprache vereint.

Es bleibt also festzuhalten, dass die NSB die linke Werteorientierung der Studentenbewegung fortführten und ihren Fokus auf postmaterialistische Themen legten. Dabei wurden viele unkonventionelle Partizipationsmethoden der Studentenbewegung adaptiert und lockere Organisationsstrukturen genutzt. Verschiedene Bewegungen und Bürger:inneninitiativen wurden hierbei zu thematischen und organisatorischen Partnern. Insgesamt ist die Zeit der 60er-, 70er- und 80er-Jahre geprägt von Bewegung und Protest, kombiniert mit dem Wunsch nach gleichberechtigter Demokratie und gesellschaftlichem Fortbestand.

3.3 Der historische Kontext der Partizipationslandschaft

Warum war Protest in den Bewegungen der 60er-, 70er- und 80er-Jahren so prägnant? Geprägt vom Wertewandel sollten offenbar Transformationen des politischen und gesellschaftlichen Systems erzielt werden; so viel konnte in den vorherigen Kapiteln bereits gezeigt werden. Doch um zu klären, warum die eigens initiierten Formen der unkonventionellen Beteiligung das Mittel der Wahl darstellten, muss betrachtet werden, inwiefern Partizipation im System Deutschlands überhaupt anderweitig möglich war. Hierbei muss allerdings angemerkt werden, dass kein Kausalzusammenhang zwischen den angebotenen Möglichkeiten zur Partizipation und der letztlichen Motivation hergestellt werden soll; diese ist zu individuell, um hier den tatsächlichen Grund festzustellen. Dennoch ist es gerade im Kontext der Arbeit relevant, aufzuzeigen, warum die Bewegungen mit ihren unkonventionellen Formen eine Mitsprache oder gar eine „Demokratisierung“ forderten.

Am 23.5.1949 wurde das Grundgesetz als Verfassung der Bundesrepublik Deutschland in Bonn offiziell verabschiedet; einen Tag später trat es in Kraft (vgl. Marschall 2011: 31). Die relevanten „Staatsstrukturprinzipien“ (Art. 20 GG) sind in Artikel 20 des Grundgesetzes verankert. Gemäß diesem ist „Die Bundesrepublik Deutschland […] ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.“ (Art 20 GG Abs. 1) Der demokratische Charakter der Bundesrepublik wird hierbei durch das Volk als Souverän gekennzeichnet: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.“ (Art. 20 GG Abs. 2) Wie im zweiten Kapitel bereits erwähnt wurde, stellen die genannten Abstimmungen direktdemokratische Elemente der politischen Partizipation dar. Allerdings werden diese nur „in Ausnahmefällen“ (Marschall 2011: 46) vorgesehen. Artikel 29 zur „Neugliederung des Bundesgebietes“ (Art. 29 GG) stellt einen dieser Fälle dar; falls es zu einer potentiellen Neugliederung des deutschen Bundesgebietes kommen sollte, muss das entsprechende Gesetz durch einen Volksentscheid bestätigt werden (vgl. ebd.; Marshall 2011: 46). Auch für den Fall einer Verfassungsänderung ist gemäß Artikel 146 des Grundgesetzes eine Bürger:innenbeteiligung vorgesehen, da eine neue Verfassung „von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen“ (GG Art. 146) werden muss (vgl. Vetter/Hoyer 2016: 349).

Weitere direkte Einflussmöglichkeiten auf „sonstige grundlegende Fragen“ (Marshall 2011: 46) werden der Bevölkerung gemäß der deutschen Verfassung aber nicht eingeräumt. Direktdemokratische Elemente wie Abstimmungen auf Landesebene, also Bürger:innenentscheide, existieren in der Zeit der dargestellten Bewegungen der 60er-, 70er- und 80er-Jahre tatsächlich nur in Baden-Württemberg, wo sie „Mitte der 1950er Jahre“ (Möltgen-Sicking 2021: 60) eingeführt wurden (vgl. ebd).

Aufgrund dieses Mangels an direktdemokratischen Einflussmöglichkeiten dominierte die Wahl als politische Partizipationsform sowohl auf Landes-, als auch auf Bundesebene. Wahlen beziehen sich hierbei maßgeblich auf „Entscheidungen über Personen“ (Bätge et al. 2021: 6). Es werden folglich primär Abgeordnete für die jeweiligen Parlamente der politischen Ebenen gewählt, die hierbei als Repräsentant:innen, also „Volksvertretung“ (Marschall 2018: 35) fungieren sollen. Die von den Gewählten getroffenen Entscheidungen haben im Sinne der Volksvertretung zudem responsiv zu sein; sie sollen also „möglichst den Wünschen und Interessen der Bürger entsprechen“ (Deiss-Helbig 2013: 567).

Eine direktere Möglichkeit der Mitbestimmung des politischen Geschehens stellt die Parteiarbeit dar, weil beispielsweise Mandatsträger:innen selbst „zu positiver Gestaltung […] befähigt“ (Ellwein/Hesse 1987: 123) sind. Parteien nehmen hierbei eine „Doppelrolle [Herv. i. O.]“ (ebd.: 180) ein. Demnach sind Parteien sowohl Teil der Gesellschaft als auch der aktiven politischen Sphäre, da durch sie eben Mandatsträger:innen gestellt werden, die dann „im politischen System politische Verantwortung“ (Ellwein/Hesse 1987: 180) übernehmen. Aufgrund dieser Bedeutung der Parteien für Personalauswahl wird hierbei von einem „Parteienmonopol [Herv. i. O.]“ (ebd.) in Legislative und Exekutive gesprochen und die Bundesrepublik Deutschland auch als „Parteiendemokratie“ (ebd.: 181) bezeichnet. In der Bundesrepublik dominieren bis in die 80er-Jahre allerdings die CDU/CSU und SPD als große „Volksparteien“ (Marschall 2011: 117) mit Zusatz der FDP „als Partei, die im Laufe der Jahre als ‚Mehrheitsbeschafferin‘ fungierte und mit beiden anderen Parteien Koalitionen einging“ (ebd.). Aufgrund dessen wird auch von einem „Zweieinhalb-Parteiensystem“ (ebd.) gesprochen. Das Beteiligungsspektrum war folglich zum Zeitpunkt der Bewegungen begrenzt, so dass Interessen, die nicht durch Parteien und ihre zur Wahl stehenden Kandidat:innen abgebildet werden konnten, potentiell anderweitig artikuliert werden mussten.

In Verfassungstheorie und Praxis ist die Bundesrepublik Deutschland also aufgrund der Vorherrschaft von Wahlen als Partizipationsinstrument eindeutig als ein repräsentatives Regierungssystem zu kennzeichnen (vgl. Ellwein/Hesse 1987: 123). Ernst Fraenkel spricht hierbei wegen der extremen Dominanz der repräsentativen Elemente von „einer super-repräsentativen Verfassung“ (Fraenkel 1964: 107), Wolf-Dieter Narr sogar von einem „repräsentative[n] Absolutismus“ (Rucht/Roth 2008: 666). Partizipation über die repräsentativen Formen hinaus ist in diesem System nicht unbedingt notwendig, schließt sie aber auch nicht per se aus (vgl. Ellwein/Hesse 1987: 123). Allerdings kann es in repräsentativen Systemen vermehrt zu der Gefahr einer „Repräsentationslücke“ (Patzelt 2018: 885) kommen. Dies ist dann der Fall, wenn Interessen der Bevölkerung „von der politischen Klasse […] nicht ernstzunehmend behandelt werden.“ (ebd.: 886) Dass diese Lücke in Unzufriedenheit und Protestpotential münden kann, zeigt das bereits erwähnte Zitat von Rudi Dutschke zu seiner Wahrnehmung des Zustandes der Demokratie und der Repräsentationsschwäche des Systems (vgl. Angster 2012: 64). Wie bereits angemerkt wurde, stellt die vorherrschende Repräsentativität des Regierungssystems Deutschlands keinesfalls den alleinigen und kausalen Grund für die Proteststimmung der 60er-, 70er-, und 80er-Jahre dar. Aber eine Unzufriedenheit mit der realen Umsetzung der Politik ist durchaus als potentieller Beweggrund für die Grundstimmung des Emanzipations- und Partizipationswunsches anzusehen.

3.4 Entwicklungen der Partizipationslandschaft

Basierend auf dem zuvor erläuterten Wunsch der Bewegungen nach mehr Demokratie, mehr Emanzipation und den generellen Unzufriedenheiten mit der Realpolitik stellt sich nun die Frage, welche Auswirkungen die Forderungen praktisch mit sich brachten. Kam es tatsächlich zu einer „Demokratisierung der Demokratie“ (Lorenz/Hoffmann/Hitschfeld 2020: 4)?  Unmittelbar zu beantworten ist diese Frage nicht, da kaum kausal erklärt werden kann, ob Ereignisse, die zu einer Öffnung der Partizipationsmöglichkeiten beigetragen haben, allein den Protestbewegungen zugeschrieben werden können oder eher einem generellen Zeitgeist entspringen, welcher wiederum die gleichzeitige Etablierung der Bewegungen mit sich brachte. Zum Teil liefen Entwicklungen parallel ab, so dass keine Kausalkette zwischen den einzelnen Bewegungen und den Ereignissen erfasst werden kann. Ein Beispiel hierfür liefert die erste sozialliberale Koalition zwischen SPD und FDP unter Willy Brandt im Jahr 1969 (vgl. Reichardt 2008: 73). Ausgehend vom Wertewandel und „einer grundlegenden Umwandlung normativer Orientierungen und Lebensweisen“ (ebd.: 74), inklusive Umbruchstimmung hin zu mehr „Selbstentfaltung und -verwirklichung“ (ebd.), wurde diese neue Konstellation gewählt. „Die neue Koalition […] trat als Reformregierung an und versuchte, das Grundanliegen der außerparlamentarischen Opposition – ‚mehr Demokratie‘ in Staat und Gesellschaft – in ihr politisches Programm einzubeziehen.“ (Borowsky 1989: 11) Gemäß dieser Reformabsichten formulierte Willy Brandt in der Regierungserklärung folgende Aussichten: 

„Wir wollen mehr Demokratie wagen. Wir werden unsere Arbeitsweise öffnen und dem kritischen Bedürfnis nach Information Genüge tun. Wir werden darauf hinwirken, daß nicht nur durch Anhörungen im Bundestag, […] sondern auch durch ständige Fühlungnahme mit den repräsentativen Gruppen unseres Volkes und durch eine umfassende Unterrichtung über die Regierungspolitik jeder Bürger die Möglichkeit erhält, an der Reform von Staat und Gesellschaft mitzuwirken.“ (Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung Berlin o.J.: 2)

Transparenz und Kommunikation zwischen den politischen und zivilgesellschaftlichen Akteur:innen herzustellen, war demnach Ziel der Koalition. Willy Brandt schien der Meinung zu sein, dass „Vertrauen in die Kompetenz der eigenen Bevölkerung“ (Stark 2018: 435) angebracht ist, um „eine hohe Qualität repräsentativer Entscheidungen“ (ebd.) zu erzielen, die gemäß den vorherigen Ausführungen in der Zeit der Großen Koalition gelitten zu haben scheint. Konkrete Maßnahmen hierfür wurden beispielsweise im Bildungssektor umgesetzt, aber auch Mitbestimmung in gewerblichen Betrieben und Gleichberechtigung wurde gefördert (vgl. Möltgen-Sicking 2021: 56). Besonders relevant für die politische Partizipationslandschaft war das am 18.06.1970 vom Bundestag einstimmig beschlossene Absenken des aktiven Wahlrechts von 21 auf 18 Jahre und des passiven Wahlrechts von 25 auf 21 Jahre (vgl. Borowsky 1989: 73; Möltgen-Sicking 2021: 56).

Parallel zu der sozialliberalen Koalition und ihrer Aufbruchsstimmung etablierten sich, wie bereits erwähnt, die NSB, die aufbauend auf den Studentenbewegungen unkonventionelle Partizipationsformen, wie Proteste und Blockaden, einsetzten. Generell kommt es durch die Bewegungen zu einer Veränderung der Partizipationslandschaft im Sinne einer Öffnung hin zu eben diesen unkonventionellen Formen. Nicht-gewalttätige Formen der Demonstration erlangen immer mehr Akzeptanz in der Bevölkerung. (Vgl. Niedermayer 2001: 215f.) Es kommt zu einer „Liberalisierung des Demonstrationsrechtes [Herv. i. O.]“ (Ellwein/Hesse 1987: 139), welche auch kritisch angesehen wird, da diese ebenfalls zu einem Anstieg an illegitimen „unfriedlichen Demonstrationen“ (ebd.) führte. Aufgrund dieser Tendenz der „Erweiterung des politischen Beteiligungsrepertoires“ (van Deth 1997: 294) auch außerhalb der konventionellen Formen, wie beispielsweise Wahlen, und einer daraus resultierenden „Entinstitutionalisierung politischer Beteiligung“ (ebd.) spricht man, nach Kaase, von einer „partizipatorischen Revolution“ (Kaase 1984 zit. nach van Deth 1997: 294). Diese ist allerdings nicht nur auf die Öffnung des Repertoires hin zu unkonventionellen Formen zurückzuführen. Vielmehr „vollzieht sich [die ‚partizipatorische Revolution‘] wie der Wertewandel als Prozeß, den man tendenziell festmachen, auf verschiedene Ursachen zurückführen, nicht aber auf den Punkt oder das Ereignis bringen kann, an dem die ,Wende‘ erfolgt […].“ (Ellwein/Hesse 1987: 141) Parallel zu dieser Öffnung entstehen in den 90er-Jahren beispielsweise zusätzlich direktdemokratische Elemente auf kommunaler Ebene. Nach dem Vorbild Baden-Württembergs und der dort etablierten süddeutschen Ratsverfassung wurden diese Elemente „in unterschiedlicher Qualität in alle Gemeinde- und Kreisordnungen der Länder aufgenommen.“ (Roth/Rucht 2008: 666) Hierzu zählt unter anderem die Einführung der Direktwahlen von Bürgermeister:innen und Landräten, aber auch Bürger:innenbegehren und Bürger:innenentscheide wurden eingeführt. Auch „freiwillige Beteiligungsangebote“ (ebd.) wie „Bürgerforen, Planungszellen, Bürgerbeauftragte, Senioren- und Ausländervertretungen“ (ebd.) zählen zu den Reformen auf kommunaler Ebene, welche nach den 70er-Jahren „und verstärkt nach der deutsch-deutschen Vereinigung“ (ebd.) eingeführt wurden.

Des Weiteren kommt es mit der Zeit – trotz der „Entinstitutionalisierung“ der Partizipation durch unkonventionelle Formen – zu einer gewissen Institutionalisierung der NSB. 1972 bildeten beispielsweise 16 Umweltbewegungen den „Bundesverband Bürgerinitiativen Umweltschutz“, welcher eine breitere Koordination der Initiativen und eine Vermittlung der Anliegen der Bewegungen ermöglichen sollte (vgl. Borowsky 1989: 142). Bei dem Zusammenschluss zu einem Bundesverband blieb es allerdings nicht. Stattdessen etablierten sich „Tendenzen, die auf Umwandlung der Bürgerinitiativen-Bewegung in eine politische Partei gerichtet waren“ (Borowsky 1989: 145). Zunächst fand diese Umwandlung auf Landesebene statt, wie das Beispiel der ersten „Umweltschutzpartei“ (ebd.: 147) in Niedersachsen 1977 zeigt. Diese bestand aus einer Zusammensetzung von Umweltschutzinitiativen, die für die Kreistagswahl Kandidaten für eben diese Partei stellten, wobei die Partei noch keine einheitliche Bezeichnung trug (vgl. ebd.). Ein Jahr später kandidierten in Niedersachsen und Hamburg „alternative Listen“ (Borowsky 1989: 146), namentlich die „Grüne Liste Umweltschutz (GLU)“ (ebd.) für Niedersachsen und die „Bunte Liste – Wehrt Euch (BL)“ (ebd.) für Hamburg. Insbesondere in der Altersgruppe der 18- bis 35-Jährigen waren die Listen, zurückzuführen auf „das Erbe der APO“ (ebd.), erfolgreich (vgl. ebd.). Basierend auf den Erfolgen dieser und weiterer neu etablierten Parteien auf Landesebene wurde dann auch die „Gründung einer grünen Partei auf Bundesebene“ (ebd.: 148) initiiert. Somit wurde 1979 die „Grüne Aktion Zukunft (GAZ)“ (ebd.) gegründet. Nachdem diese keine wirklichen Wahlerfolge erzielte, formierte sich die „Sonstige Politische Vereinigung Die Grünen“ (ebd.). Aus diesen vorangegangenen Organisationen der GAZ und SPV Die Grünen wiederum entsteht 1980 letztlich die Bundespartei „Die Grünen“ (vgl. Borowsky 1989: 149). Die Grünen betrachten sich selbst zunächst als „Antiparteien-Partei [Herv. i. O.]“ (Möltgen-Sicking 2021: 57). In der Präambel ihres ersten Bundesprogrammes schreibt die Partei: „Wir sind die Alternative zu den herkömmlichen Parteien.“ (Die Grünen 1980: 4) Neben den spezifischen Anliegen ihrer Vorgängerbewegungen benennt die Partei auch bewegungsübergreifendende Ziele zur Demokratisierung des Landes. So fordern die Grünen „Volksbegehren und Volksentscheid zur Stärkung der direkten Demokratie“ (ebd.: 29) oder den „Aufbau demokratisch kontrollierte, bürgernaher Selbstverwaltung“ (ebd.). Mit den Grünen wird demnach das inhaltliche Angebot der Parteienlandschaft erweitert; Deutschland etabliert sich zu einem „Vierparteiensystem“ (Möltgen-Sicking 2021: 57).

Die Institutionalisierung der NSB kann allerdings nicht nur durch die Etablierung einer neuen bundesweiten Partei skizziert werden. Durch diese Institutionalisierung kam es nämlich auch zu einem Bedeutungsgewinn von Bewegungsorganisationen, zu denen auch Nichtregierungsorganisationen, also NROs oder gemäß der gängigen englischen Übersetzung NGOs, zählen (vgl. Klein/Walk/Brunnengräber 2005: 60). Dieser Übergang ist potentiell durch den Wunsch, „durch eine feste Bewegungsstruktur mehr Gewicht und Aufmerksamkeit“ (Frantz/Martens 2006: 56) auf die Anliegen zu lenken, entstanden. Durch den Institutionalisierungsprozess entstanden demnach aber auch gewisse „Brüche“ (Brunnengräber 2005: 335) mit den ursprünglichen typischen Strukturen der NSB. Während sich diese beispielsweise, wie zuvor erklärt wurde, durch ihre lockere Organisationsstruktur auszeichneten, kommt es bei dem Übergang in NGOs zu einer „Professionalisierung“ (Klein/Walk/Brunnengräber 2005: 60) und einer Umsetzung neuer formalisierter Strukturen. Dieser Bruch kann sowohl als negativ als auch als positiv empfunden werden. Während Kritiker:innen die Institutionalisierung als „Absterben sozialer Bewegung als Bewegung“ (Stickler 2005: 156) ansehen, sind Befürworter:innen der Meinung diese seien ein Indikator für die „Demokratisierungs- und Modernisierungsfähigkeit von Gesellschaften“ (ebd.). Unabhängig dieser Einschätzung brachte der Übergang von sozialen Bewegungen in NGOs eine „Transnationalisierung sozialer Bewegungen“ (ebd.) mit sich. Dies ist insbesondere durch die „zunehmende Verknüpfung lokaler und globaler Themenstellungen und erhöhte[n] Anforderungen an Koordinierung und Strukturierung“ (Klein/Walk/Brunnengräber 2005: 63) zu erklären, die eine transnationale Herangehensweise erfordert. Global gesehen ist demnach auch zu erkennen, dass die Anzahl der NGOs deutlich zunimmt. Sind es 1968 noch circa 1900 NGOs, so existieren 1981 schon circa 4100 NGOs. (Vgl. bpb 2017)

Insgesamt kam es durch die Bewegungen der 60er-, 70er-, und 80er-Jahre und der daraus resultierenden politischen und gesellschaftlichen Transformationen zu einer „Liberalisierung und Pluralisierung der westdeutschen Gesellschaft […], zu mehr politischer Teilhabe, einer öffentlichen Diskussionskultur und einer Individualisierung der Lebensstile.“ (Angster 2012: 59) Die Grünen und die Etablierung von NGOs boten neue institutionalisierte Formen der Partizipation. Ebenso kam es aber auch zu einer Öffnung hin zu mehr entinstitutionalisierten und unkonventionellen Formen politischer Partizipation. Demonstrationen gelangen an Akzeptanz. Der Wunsch nach Demokratie wurde vom repräsentativen System aufgefasst und beispielsweise durch die Einführung direktdemokratischer Elemente auf kommunaler Ebene umgesetzt. Es war die Zeit einer „partizipatorischen Revolution“ (Kaase 1984 zit. nach van Deth 1997: 294).

4.     Deliberative Demokratie

Die „partizipatorische Revolution“ prägte nicht nur die praktische Partizipations- und Parteienlandschaft. Auch in der theoretischen Sphäre der Politikwissenschaften etablierten sich neue Gedanken zum Verhältnis zwischen Staat und Bürger:innen – zu den Akteur:innen und Praktiken der Demokratie. Die von Habermas geprägte deliberative Demokratietheorie gilt als Ausdruck dessen. Die Theorie wiederrum findet ihre praktische Umsetzung in neuen Formen deliberativer Partizipation.

4.1 Theorie

Im Jahr 1980 etablierte Joseph M. Bassette erstmals den Begriff der deliberativen Demokratie. Seitdem konzipierten zahlreiche Theoretiker:innen eigene Ansätze der Deliberation. Jürgen Habermas‘ Überlegungen, maßgeblich aus seinem Werk „Faktizität und Geltung“, werden hierbei als wichtige Grundlage für die Weiterentwicklung der deliberativen Demokratietheorie angesehen. (Vgl. Giesen 2015: 167) Der Begriff der Deliberation bedeutet sinngemäß die „gemeinsame Überlegung durch Beratschlagung und Besprechung, Abwägung und gründliche Untersuchung der Gründe pro et contra, wie auch die damit zusammenhängende Entscheidungsfindung.“ (Barišić 2015: 19) Bezogen auf die Umsetzung im Kontext der Demokratie meint die deliberative Demokratietheorie dementsprechend übergreifend, dass Bürger:innen diskursiv über politische Entscheidungen beraten und zu einem gemeinschaftlichen Ergebnis auf Basis der ausgetauschten Erkenntnisse kommen (vgl. Möltgen-Sicking 2021: 52; Frieß 2021: 115). Kommunikation und Diskurs sind hierbei folglich der Schlüssel zu „vernünftigen“ (Frinken 2021: 29) politischen Entscheidungen (vgl. ebd.). Die in der liberalen Demokratie übliche „Präferenzaggregation durch Wahlen“ (ebd.) ist für die deliberative Demokratietheorie nicht ausreichend, um diesem Anspruch gerecht zu werden. Bessere Qualität der Entscheidungen entstehe demnach durch Deliberation (vgl. Frieß 2021: 116). Aber auch in Bezug auf die Legitimation demokratischer Entscheidungen sehen Befürworter:innen der deliberativen Demokratietheorie Vorteile durch gemeinsame Konsensfindung; „Deliberation […] erhärtet die Legitimität der Herrschaft.“ (Barišić 2015: 23) Damit diese qualitativ hochwertigen und legitimen Ergebnisse erzielt werden können, existieren allerdings gewisse Voraussetzungen, die durch die Deliberation entstehen. So ist nach Habermas zunächst einmal die Existenz einer autonomen Öffentlichkeit notwendig, um einen öffentlichen Diskurs führen zu können (vgl. Frinken 2021: 30). Diese autonome Öffentlichkeit zeichnet sich hierbei maßgeblich durch ihre Inklusion aus. Sie ist für alle offen und zugänglich. (Vgl. ebd.) „In der deliberativen Demokratietheorie bemisst sich die demokratische Qualität […] am Grad der Inklusivität von Öffentlichkeit, in der Deliberationsprozesse räumlich verortet sind.“ (Frieß 2021: 118) Gemäß dieser Voraussetzung sind die getroffenen Entscheidungen erst dann demokratisch legitim, wenn alle Bürger:innen auch mit in den Diskurs einbezogen werden können und niemand exkludiert wird. Diese Annahme beruht nach Habermas auf dem Diskursprinzip (vgl. Barišić 2015: 21). Habermas drückt dieses wie folgt aus: „Gültig sind genau die Handlungsnormen, denen alle möglicherweise Betroffenen als Teilnehmer an rationalen Diskursen zustimmen könnten.“ (Habermas 1993: 138) Verschränkt mit „dem Prozeß der Rechtssetzung“ (ebd.: 154) entsteht das „Demokratieprinzip“ (ebd.), „welches dann seinerseits dem Prozeß der Rechtssetzung legitimitätserzeugende Kraft verleiht.“ (ebd.) Hiermit wird zudem deutlich, dass der Diskurs in der deliberativen Demokratietheorie das Ziel hat, politische Entscheidungen – hier die Rechtssphäre – auch tatsächlich zu beeinflussen. Bloße Diskussion reicht nicht aus, um der demokratischen Legitimation gerecht zu werden. (Vgl. Frinken 2021: 29)

Neben der idealen Inklusion ist auch das Prinzip der „Chancengleichheit“ (Frieß 2021: 118) eine Voraussetzung der deliberativen Demokratie. Es sollen also nicht bloß alle Bürger:innen gleichermaßen Zugang zum Diskurs erhalten, sondern auch in diesem gleich behandelt werden – unabhängig von „Status, Geschlech[t] oder anderen Merkmalen“ (ebd.) (vgl. ebd.). Dies geht damit einher, dass in der deliberativen Demokratie keine Autorität existiert. Es besteht eine gewisse „Atmosphäre der Machtfreiheit“ (Frieß 2021: 118). Die Gleichberechtigung aller Diskursteilnehmer:innen zeichnet sich demnach auch durch die „Abwesenheit  jeglicher  Formen  von  Zwang  bei  der  Beratung“ (Barišić 2015: 22) aus. Habermas postuliert allenfalls „den zwanglosen Zwang des besseren Arguments“ (Habermas 1993: 370), der als einziges Ausmaß der Autorität gelten kann (vgl. Frinken 2021: 29).

Des Weiteren wird für die Deliberation die Annahme zur Voraussetzung, dass die Öffentlichkeit gewillt ist, sich mit eigenen Ideen an dem Diskurs zu beteiligen und diese Ideen auch „öffentlich zu rechtfertigen“ (Barišić 2015: 23) (vgl. ebd.: 22f.). „Politische Partizipation ist hier gewissermaßen Dauerzustand“ (Frieß 2021: 119), dies muss so auch von der Bevölkerung angenommen werden. Deliberation ist demnach eher als „eine eigenständige  Denk- und  Lebensweise  der  Bürger“ (Barišić 2015: 22) zu verstehen. Auch dass die Bevölkerung gemeinwohlorientiert handelt, wird in dieser Denkart als Voraussetzung angesehen. Es wird angenommen, dass so beispielsweise eigene Anliegen überdacht und gegebenenfalls auch zurückgenommen werden, wenn diese im Diskurs nicht durch ausreichend überzeugende Argumente dargestellt werden können (vgl. Kropp 2021: 42).

Die deliberative Demokratietheorie wird häufig maßgeblich aufgrund dieses zugrundeliegenden Menschenbildes kritisiert. Dass Bürger:innen im Dialog gemeinschaftlich zu einem für alle „optimalen“ Ergebnis kommen und hierbei ihre persönlichen Anliegen potentiell zurücknehmen, ist für Kritiker:innen „zu idealistisch gedacht“ (Kropp 2021: 47). Die hier angenommene „Trennung zwischen einem ‚Arguing‘, das sich auf Sachargumente bezieht, und einem ‚Bargaining‘, das individuelle Präferenzen zum Bezugspunkt strategischen Handelns nimmt“ (Kropp 2021: 47), scheint unrealistisch. (Vgl. ebd.) Auch die Tatsache, dass von der deliberativen Demokratietheorie angenommen wird, dass überhaupt alle Bürger:innen Teil der Öffentlichkeit sind und sich an den Diskursen beteiligen, kann man potentiell kritisieren. Häufig wird nämlich angenommen, dass in der Realität „die sachkundigen Bürger, die sich aktiv an einer Deliberation beteiligen, vor allem den gebildeten Mittelschichten entstammen.“ (Kropp 2021: 45) Dies führt zu dem nächsten Kritikpunkt, der auf das Ideal der Inklusivität der Deliberation entgegnet, dass es potentiell gar nicht wünschenswert wäre, die breite Masse in den Entscheidungsprozess einzubeziehen. Das „idealistische Menschenbild“ (Mühleisen 2015: 124) der deliberativen Demokratietheorie äußert sich somit nicht bloß in der Vorstellung, das Volk wolle den Diskurs führen. Vielmehr bestehen auch Zweifel an der Kompetenz der Bürger:innenschaft, überhaupt die „beste“ Lösung finden zu können. So wird bereits „seit Anbeginn der demokratischen Verfassungsidee (vgl. etwa Platon und Aristoteles) die politische und sachliche Kompetenz der Bürger in Frage gestellt“ (Wernecke 2015: 197). Die Gefahr einer „inkompetente[n] Urteilskraft“ (ebd.: 207) sei in deliberativen Praktiken demnach potentiell gegeben (vgl. ebd.).

Dieser Kritik an dem Menschenbild der Deliberation kann mit dem Verweis auf die Lernfähigkeit der Menschen begegnet werden. So sehen Befürworter:innen der deliberativen Demokratie ihre Ausübung demnach sogar als förderlich an, um die Lernfähigkeit und Reflektionsfähigkeit von Bürger:innen zu unterstützen und somit Meinungsänderungen zu ermöglichen (vgl. Kropp 2021: 50). Demnach könnte Deliberation potentiell die Entwicklung eines „breitere[n] Argumentationsrepertoires (für und gegen ihre eigene Position)“ (Frieß 2021: 124) fördern.

Habermas selbst gibt keine Vorschläge zur praktischen Umsetzung beziehungsweise „keine konkreten institutionellen Innovationen zur Verwirklichung des deliberativen Versprechens der deliberativen Demokratie.“ (Frinken 2021: 32) Er ist vielmehr der Meinung, dass Deliberation „weder institutionalisierbar noch organisierbar“ (Habermas 1992: 625 zit. nach Landwehr 2019: 415) sei. Dennoch haben sich konkrete praktische Methodiken etabliert, die die Grundgedanken der deliberativen Demokratie umsetzen und auch die Kritik teilweise mildern sollen. Diese sollen im Folgenden betrachtet werden.

4.2 Praktische Umsetzung

Ausgehend von der idealen Vorstellung einer auf Kommunikation und Diskurs basierenden Möglichkeit, das politische Geschehen als Bürger:in aktiv zu beeinflussen und hierbei eine gemeinwohlorientierte und qualitativ hochwertige Entscheidung zu treffen, wurden mit der Zeit Ideen zu der praktischen Umsetzung deliberativer Demokratie etabliert.

Eine potentielle Idee hierzu etablierte Archon Fung durch das Modell der Mini-Publics. Mini-Publics sollen hierbei, wie der Name schon aussagt, „verkleinerte Abbilder von Öffentlichkeit“ (Frieß 2021: 120) darstellen (vgl. ebd.). Laut Fung ist es nämlich realistischer, deliberative Elemente im kleinen Rahmen umzusetzen, als die „große“ Öffentlichkeit zu reformieren (vgl. Fung 2003: 339). Diese Mini-Publics zeichnen sich zudem dadurch aus, dass sie eine Verbindung zur politischen Sphäre haben, um die Öffentlichkeit tatsächlich auch an politischen Entscheidungsfindungen teilhaben zu lassen (vgl. Frieß 2021: 120). Prinzipiell definieren sich diskursive Formate in Mini-Publics durch einen „Wissensinput“ (Frinken 2021: 32), der sowohl von Expert:innen der jeweiligen Themenbereiche als auch von Betroffenen erbracht werden kann. Dieser Input wird entweder durch Fachvorträge oder sonstige Informationsmaterialien, wie zum Beispiel Broschüren, eingebracht. (Vgl. ebd.) Zudem sollen in den Mini-Publics alle gesellschaftlichen Gruppierungen abgebildet werden, um den zuvor bereits angeschnittenen Aspekt der potentiell möglichen Unterrepräsentation in der Deliberation zu mildern. Diese Charakteristika der Mini-Publics wurde zwar bereits von Fung definiert, allerdings schlug er hierfür eine aktive Rekrutierung aller „Schichten“ oder eine mögliche Anreizsetzung für Menschen mit geringem Einkommen vor (vgl. Fung 2003: 340; 342). Die Idee der gesellschaftlichen Inklusion wurde in der praktischen Umsetzung jedoch zu dem Aspekt der Zufallsauswahl der Teilnehmenden weiterentwickelt (vgl. Frinken 2021: 32). Damit auch innerhalb der Deliberation alle Teilnehmer:innen gleichermaßen ihre Argumente teilen können, sorgen Moderator:innen für eine gleichberechtigte Redeverteilung. „Free speech without regulation becomes just noise; democracy without procedure would be in danger of degenerating into a tyranny of the loudest shouter.” (Blumler/Coleman 2001: 17f. zit. nach Frieß 2021: 122) Die Existenz dieser Moderation ist demnach als weitere Eigenschaft der Mini-Publics anzusehen (vgl. Frieß 2021: 122; Frinken 2021: 32). Mit dieser Grundvoraussetzung der gleichen Redeanteile ist zudem verbunden, dass die Teilnehmer:innenzahl in der Praxis relativ gering sein muss. Je kleiner die Gruppe, desto intensiver kann diskutiert werden. Aufgrund dessen ist hier eine Anzahl von höchstens 20 Personen üblich. Allerdings erhöht sich mit der Teilnehmer:innenzahl die Repräsentativität der Meinungen, so dass abgewogen werden muss, was in dem jeweiligen Kontext erwünscht ist. (Vgl. Landwehr 2019: 417)

Konkret umgesetzt wird das Modell der Mini-Publics beispielsweise in Bürger:innenräten. Der Bürger:innenrat ist in gewisser Weise das exakte Abbild der Vorstellungen von Mini-Publics. Er setzt sich aus einer kleinen Gruppe an zufällig ausgewählten Bürger:innen zusammen, die gemeinsam versuchen, Lösungen zu bestimmten Themen zu suchen und dabei von Moderator:innen begleitet werden (vgl. Nanz/Fritsche 2012: 51). Die behandelten Themen beziehen sich in den meisten Fällen auf lokale Angelegenheiten, allerdings gibt es auch Beispiele für Bürger:innenräte, die bundesweit stattgefunden haben und dementsprechend auch bundesweite Fragen diskutierten. Beispiele hierfür sind die seit 2019 vom „Mehr Demokratie e.V.“ veranstalteten Bürger:innenräte zu Themen wie „Deutschlands Rolle in der Welt“ oder „Klima“ (Mehr Demokratie e.V. o.J.), auf welche im folgenden Kapitel erneut Bezug genommen werden soll.

Auch Bürger:innenhaushalte können als deliberative Form politischer Partizipation angesehen werden. Hierbei werden im Dialog potentielle Pläne für entweder Teile des Haushalts oder auch den Gesamthaushalt diskutiert (vgl. Nanz/Fritsche 2012: 46). Diese Art der Deliberation findet meistens auf Kommunalebene statt und wird hierbei von Politik und Verwaltung aktiv angeboten (vgl. ebd.). In den meisten Fällen haben die Bürger:innenhaushalte eher einen konsultativen Charakter; die letztliche Entscheidungshoheit liegt bei Politik und Verwaltung (vgl. ebd.: 45).

Der Grad der tatsächlichen Verbindlichkeit variiert bei der konkreten Umsetzung der verschiedenen Praktiken folglich, auch wenn die Theorie, wie bereits zuvor deutlich wurde, im Optimalfall die Notwendigkeit einer Einflussnahme skizziert. So können deliberative Elemente beispielsweise auch als bloßes Mittel der Befragung eingesetzt werden. Ein Beispiel hierfür wäre das sogenannte Bürger:innenpanel. Durch dieses werden über drei bis vier Jahre hinweg regelmäßig repräsentative Meinungen einer zufällig ausgewählten festen Gruppe eingeholt. Bürger:innenpanels bringen zusätzlich noch den Vorteil mit sich, dass die Teilnehmenden auch gewillter sind, an weiteren deliberativen Beteiligungsoptionen teilzunehmen. Konkrete Ergebnisse dieser können dann im Anschluss weiterhin in die Befragungen der Panels mit einbezogen werden, so dass eine potentielle Entwicklung aufgezeigt werden kann. (Vgl. Nanz/Fritsche 2012: 49) Ebenfalls muss noch erwähnt werden, dass in den meisten Fällen eher die Zivilgesellschaft Teil der in den deliberativen Formen dargestellten Öffentlichkeit ist. Organisierte Interessen, beispielsweise in Form von NGOs, werden hierbei eher selten repräsentiert. (Vgl. Kersting 2016: 96)

5.     Partizipation heute

Aufbauend auf allen zuvor erläuterten Entwicklungen ist die heute vorliegende Partizipationslandschaft reich an einer Vielfalt von politischen Beteiligungsmöglichkeiten. Im folgenden Unterkapitel sollen diese zunächst zusammengetragen und auf ihre Akzeptanz untersucht werden. Werden demnach die neuen Formen von Zivilbevölkerung und politischen Akteur:innen angenommen oder besteht weiterhin Bedarf an mehr Demokratie? Daraufhin soll noch die Frage beantwortet werden, ob Partizipation als Antwort auf Herausforderungen angesehen werden kann.

5.1 Neue Partizipationsformen

Im dritten Kapitel konnte bereits gezeigt werden, dass im Rahmen der Protestbewegungen seit den 60er-Jahren größtenteils unkonventionelle „bottom-up“-Formen aufgrund der Dominanz des repräsentativen Systems vorherrschten. Mit der Zeit reagierte das System durch beispielsweise die Einführung kommunaler direktdemokratischer Elemente auf die Forderungen nach mehr Partizipation, so dass nun eine breitere Partizipationslandschaft existiert. Diese beinhaltet neben Optionen wie kommunalen Bürger:innenentscheiden oder deliberativen Bürger:innenräten und Bürger:innenhaushalten auch Möglichkeiten zur Mitarbeit in NGOs, aber auch weiterhin der Initiierung von eigenen Initiativen seitens der Bevölkerung. Eine zusätzliche Erweiterung der Beteiligungsoptionen ergibt sich außerdem maßgeblich durch die weitreichende Etablierung des Internets. Seitdem entwickelten sich auch online-gestützte Partizipationsoptionen. So beinhalten deliberative Formen wie Bürger:innenhaushalte meistens zusätzlich auch eine „Online-Komponente“ (Kersting 2016: 97), während Social-Media-Plattformen wie Facebook mittlerweile sogar eher zum „demonstrativen Beteiligungsbereich“ (ebd.) zugeordnet werden. Demnach seien Dialoge, die online stattfinden, weniger deliberativ als man zunächst annehmen könnte, da kein direkter Austausch zustande kommt, sondern eher Monologe verfasst werden, die sich durch einen „stark expressiven Charakter“ (ebd.) auszeichnen (vgl. ebd.).

Trotz der Tendenz einer Öffnung zu mehr Partizipation ist allerdings festzuhalten, dass in der Literatur zum Teil davor gewarnt wird, die Effekte zu euphorisch zu betrachten. So stellt Lars Holtkamp fest, dass das Angebot „dialogorientierte[r] Verfahren“ (Holtkamp 2020: 242) nach einem ersten Hoch auch rasch wieder abfiel und lediglich vereinzelt Kommunen auch tatsächlich beispielsweise Bürger:innenhaushalte durchführen. (Vgl. ebd.: 243f.) Hier liegt die Vermutung nahe, dass Partizipation demnach eher auf Bürger:innenseite gefordert wird und politische Verantwortliche dieser eher skeptisch gegenüberstehen. Ein anderes Bild ergibt sich aber in einer Studie der Bertelsmann-Stiftung, die auf Seite der politischen Akteur:innen eine Tendenz hin zu einer Offenheit an mehr politischer Partizipation feststellt. So sei in der Tat zu erkennen, dass sich politische Akteur:innen  für mehr politische Partizipation aussprechen. Die Relevanz „neuer“ Formate ist ihrer Ansicht nach mittlerweile sogar nahezu gleichzusetzen mit der Relevanz der Partizipation durch Wahlen. (Vgl. Vehrkamp/Tillmann 2014: 13) Wie bereits erwähnt wurde, lässt sich dies praktisch beispielsweise daran erkennen, dass im Koalitionsvertrag zwischen CDU und den Grünen für NRW mehr Partizipation berücksichtigt wird (vgl. CDU NRW/Bündnis 90 Die Grünen o.J.: 90f.). Konkret lässt sich eine Öffnung zu mehr Partizipation seitens politischer Entscheidungsträger:innen auch daran erkennen, dass Wolfgang Schäuble sich für den bereits erwähnten Bürger:innenrat „Deutschlands Rolle in der Welt“ als Schirmherr bereitstellte (vgl. Deutscher Bundestag 2021). Schäuble ist hierbei der Meinung, der Bürger:innenrat könne „das Vertrauen in die Politik stärken und der repräsentativen Demokratie neue Impulse geben.“ (ebd.) Weitere potentielle Gründe der politischen Akteur:innen, sich den neuen Formen zu öffnen, werden in den nächsten Kapiteln weiter erläutert. Festzuhalten bleibt hier aber, dass sich die Politik den neuen Formen zu öffnen scheint.

Auch auf Bürger:innenseite stellt die Studie der Bertelsmann-Stiftung ein ähnlich positives Bild politischer Partizipation dar. Bürger:innen wollen aktiv mitentscheiden und sehen die repräsentativen Elemente wie Wahlen als nicht mehr ausreichend an (vgl. Vehrkamp/Tillmann 2014: 10). Interessanterweise scheinen die bisher etablierten Formen demnach noch immer nicht den demokratischen Ansprüchen der Bevölkerung gerecht zu werden. Insbesondere direktdemokratische Elemente werden von der Bevölkerung gefordert und als besonders relevant angesehen. Hier ist die Nachfrage sogar größer als das Angebot und es besteht nach Bürger:innensicht „Nachholbedarf“ (Vehrkamp/Tillmann 2014: 20). (Vgl. ebd.) Allerdings ist in diesem Fall eine nicht unwesentliche Diskrepanz in der Wahrnehmung von Bürger:innen und politischen Entscheidungsträger:innen zu erkennen. So sind eben die politischen Akteur:innen noch eher skeptisch gegenüber direktdemokratischen Entscheidungen eingestellt:

„Geht es um die direkte Machtverteilung und Entscheidungsbefugnis im politischen System, hängen die politischen Eliten noch deutlich stärker an der repräsentativen Demokratie. Hier sind die Bürger bereits einen Schritt weiter und bevorzugen auch in der Machtfrage der demokratischen Entscheidungsfindung partizipative Strukturen gegenüber rein repräsentativen.“ (Vehrkamp/Tillmann 2014: 16)

Auch Wolfgang Schäuble sagt mit Bezug auf das Mittel des Bürger:innenrats, dass dieser keine letztliche Entscheidungsmacht innehat: „Die konkreten Entscheidungen können Bürger:innenräte den gewählten Abgeordneten nicht abnehmen.“ (Deutscher Bundestag 2021) Einig sind sich Bürger:innen und politische Akteur:innen in der Ausgestaltung der Demokratie mit Elementen über die Wahl hinaus folglich noch nicht.

Eine Gefährdung der repräsentativen Demokratie durch die Wünsche nach mehr Beteiligung auf Bürger:innenseite, sei es durch deliberative oder direktdemokratische Elemente, ist außerdem nicht zu erkennen. Wahlen als Ausdruck klassischer repräsentativer Elemente sind immer noch sehr angesehen. Neue Formen sind demnach eher als Ergänzung zum repräsentativen System anzusehen. (Vgl. Vehrkamp/Tillmann 2014: 10ff.) Warum diese Ergänzung mit Blick auf aktuelle Herausforderungen sinnvoll erscheint, soll das nächste Kapitel ausblickartig beschreiben.

Zunächst muss mit Blick auf die neue Partizipationslandschaft aber noch Folgendes festgehalten werden: Trotz dieser Öffnung zu mehr und neuen Formen der Partizipation auf beiden Seiten ist anzumerken, dass Protest als Partizipationsform nicht abgelöst wurde. Dass die „partizipatorische Revolution“ der 70er-Jahre eine „Normalisierung von Protest“ (Roth 2011: 109) mit sich brachte, ist demnach heute noch zu erkennen. Angefangen bei Protesten gegen das Großprojekt „Stuttgart 21“ bis hin zu der heutigen Protestinitiative „Fridays for Future“, Proteste sind immer noch eine ernstzunehmende Möglichkeit, Anliegen an die Politik weiterzuleiten. Dies muss hier eindeutig herausgestellt werden, da sonst die Vermutung naheliegen würde, dass eine konstruktive Partizipationslandschaft politischen Protest obsolet macht. Eventuell ist dies eine Entwicklung, die sich abbilden würde, wenn mehr der seitens der Bevölkerung geforderten direktdemokratischen Elemente von den politischen Akteur:innen etabliert werden würden. Dies retrospektiv zu betrachten, muss Aufgabe der zukünftigen Partizipationsforschung sein und kann hier deshalb nicht weiter betrachtet werden.

5.2 Partizipation als Antwort auf Herausforderungen?

Heutige Demokratien müssen sich einer Vielzahl an Herausforderungen stellen. Neben der Bewältigung von globalen Krisen wie der Klimakrise, Krieg oder sozialer Ungleichheit existieren auch innenpolitische Herausforderungen, die Demokratien zu lösen haben. Insbesondere repräsentative Demokratien stehen einer häufig beschriebenen „Krise der Repräsentation“ (Anter 2019: 241) gegenüber, die sich maßgeblich durch die zuvor erwähnte Repräsentationslücke ergibt. Colin Crouch geht sogar noch einen Schritt weiter und stellt die These der „Postdemokratie“ (Crouch 2008: 10) auf. Diese besagt, dass in aktuellen Demokratien zwar praktisch Wahlen abgehalten werden, die in den Wahlkämpfen geführten Diskussionen aber so von PR-Expert:innen beeinflusst werden, dass Bürger:innen nur noch „passiv“ (Crouch 2008: 10) auf diese gesetzten „Signale“ (ebd.) reagieren, ohne tatsächlichen Einfluss auszuüben. Politik werde demnach eher von Lobbyisten und Eliten im Sinne der Wirtschaft gestaltet. (Vgl. Crouch 2008: 10) Einhergehend mit diesen Krisen wird häufig zudem eine „Politikverdrossenheit“ (Glaab 2016: 4) seitens der Bürger:innen diagnostiziert. Diese äußere sich maßgeblich in der erkennbaren Abkehr repräsentativer Organe wie Parteien, „Protest des sogenannten ‚Wutbürgers‘“ (ebd.) und einer sinkenden Wahlbeteiligung (vgl. Steinbrecher 2009: 88). Zwar kann eine politische Apathie potentiell auch als Ausdruck einer politischen Zufriedenheit mit dem „Ist-Zustand“ angesehen werden (vgl. Steinbrecher 2009: 33), allerdings ist neben der generell niedrigen Wahlbeteiligung ebenfalls ein Zuwachs populistischer Parteien zu erkennen: „In der Bundesrepublik ist der Aufstieg der Alternative für Deutschland (AfD) die deutlich sichtbarste Reaktion auf die Repräsentationslücke.“ (Anter 2019: 244) In Kombination mit der sinkenden Wahlbeteiligung wird diese Tendenz unter dem generellen Begriff der „Politikverdrossenheit“ subsummiert und als Krisensymptom angesehen (vgl. Glaab 2016: 4).

Eine generelle „Demokratieverdrossenheit“, wie sie teilweise postuliert oder mit dem Begriff der „Politikverdrossenheit“ gleichgesetzt wird (vgl. Steinbrecher 2009: 88), kann angesichts der Tatsache, dass sich die Mehrheit der Bevölkerung gemäß der Studie der Bertelsmann-Stiftung immer noch für das System der Demokratie ausspricht (vgl. Vehrkamp/Tillmann 2014: 30), für Deutschland nicht festgestellt werden. Dennoch ist eine Unzufriedenheit mit der realen Umsetzung des Systems hierdurch nicht ausgeschlossen. Der Wille nach mehr direktdemokratischen Elementen seitens der Bürger:innen kann hierfür als potentieller Ausdruck dessen gelten (vgl. Gabriel 2013: 603). Gleichermaßen kann die in diesem Kontext bereits erwähnte Schieflage zwischen Angebot und Nachfrage, insbesondere von direktdemokratischen Elementen der Bürger:innenbeteiligung, als potentieller Grund für eben diese Unzufriedenheit angesehen werden: „Die Entstehung ‚demokratischer Defizite‘ wäre in diesem Fall eine direkte Folge des Ungleichgewichts zwischen den gestiegenen Forderungen (demands) nach mehr Demokratie einerseits und dem wahrgenommenen Unterangebot (supply) an Demokratie andererseits.“ (Pogrebinschi 2014: 128) Man könnte nach Catherine Colliot-Thélène in diesem Fall eher von einem „Unbehagen“ (Colliot-Thélène 2018: 27) an der Demokratie, beziehungsweise an „Formen ihrer Institutionalisierung“ (ebd.) sprechen, als von einer generellen Krise (vgl. ebd.). Bürger:innen, die sich für das „Ordnungsmodell“ (Gabriel 2013: 601) der Demokratie aussprechen, aber mit ihrer Umsetzung und „ihrem tatsächlichen Erscheinungsbild“ (ebd.) unzufrieden sind, werden unter dem Begriff der „kritischen Demokraten“ (ebd.; Klingemann/Hofferbert 1989 zit. nach Lange 2014: 226) subsummiert. Sind diese kritischen Demokraten theoretisch auch bereit, ihre Kritik zu äußern, sei dies nach Brigitte Geißel aber keinesfalls als negativ anzusehen – im Gegenteil: „Kritikbereitschaft ist also die politische Kultur, die congruent ist für die Weiterentwicklung von Demokratien [Herv. i. O.].“ (Geißel 2011: 164) Dies ist in diesem Kontext auch auf die Teilnehmenden der Studentenbewegung anzuwenden. Wie bereits gezeigt wurde, setzten sich diese durch unkonventionelle Formen der Partizipation für eine Demokratisierung und eine Ausweitung der Mitspracherechte ein und waren demzufolge keinesfalls Protestierende gegen das demokratische System, sondern gegen ihre Ausführung. Hiermit passen sie in die Bezeichnung der kritischen Demokraten. (Vgl. Lange 2014: 226) Für die Entwicklung der Demokratie war der Input, der durch die Proteste zustande kam, in der Tat als positiv zu bewerten.

Genaue Zusammenhänge zwischen Demokratieaffinität und Kritikbereitschaft oder Verdrossenheit und Demokratieunzufriedenheit können hier nicht weiter behandelt werden. Dennoch sollte festgehalten werden, dass die Tendenzen der Abkehr von Institutionen der Politik oder der Zuwendung zu populistischen Parteien als potentielle und unerwünschte Konsequenz einer Repräsentationslücke angesehen werden können. Infolgedessen kann es insbesondere im Rahmen der sinkenden Wahlbeteiligung zu einer Gefährdung der Legitimation politischer Entscheidungen kommen (vgl. Colliot-Thélène 2018: 28). Benjamin Barber stellt als Reaktion mit seinem Konzept der „starken Demokratie“ (Barber 1994: 146) ein Modell vor, welches maßgeblich „durch eine Politik der Bürgerbeteiligung definiert“ (ebd.) ist. Zwischengeschaltete Interessensvertreter:innen existieren hier nicht – die Bürger:innen regieren sich selbst (vgl. ebd.). Mehr Partizipation gilt hierbei folglich als Lösungsansatz für die skizzierten Herausforderungen.

Innendemokratische Probleme wie eben die Gefahr einer Repräsentationslücke werden zudem durch Globalisierungseffekte potentiell verstärkt. So ist festzustellen, dass Interdependenzen und grenzübergreifende Probleme eine zunehmende Komplexität für politische Entscheidungen mit sich bringen. Diese Tatsache erschwert die Nachvollziehbarkeit politischer Entscheidungen. Repräsentation der Bevölkerung durch die gewählten Entscheidungsträger:innen wird hierdurch maßgeblich erschwert (vgl. Lietzmann 2016: 47). Um dies zu verhindern, könnte auch in diesem Kontext nicht elektorale politische Partizipation förderlich sein, um die Gefahr einer wahrgenommenen Repräsentationslücke zu mildern. Der Bürger:innenrat „Deutschlands Rolle in der Welt“ scheint hier mit seinem grenzübergreifenden Themenschwerpunkt als Beispiel angebracht. In diesem Kontext wird aber gleichermaßen deutlich, dass Partizipation zwar erforderlich, aber auch erschwert wird, wenn Entscheidungen ebenenübergreifend getroffen werden. Somit existiert eine „Inkongruenz von Entscheidungsbetroffenheit und Entscheidungsbeteiligung, die sich vor allem am Auseinanderfallen von territorialen Mitbestimmungsrechten und funktionaler Betroffenheit festmacht.“ (Walk 2007: 39) Insbesondere die Bewältigung globaler Herausforderungen erfordert aber, dass Menschen die hierfür getroffenen Entscheidungen auch akzeptieren und mittragen, also legitimieren. Wenn durch eine potentielle Repräsentationslücke eine Legitimationslücke entsteht, ist dies nicht mehr gegeben. Die Lokale Agenda 21 beispielsweise sieht deshalb durchgehend partizipative Elemente seitens sämtlicher zivilgesellschaftlicher Akteur:innen zugunsten einer nachhaltigen Entwicklung vor (vgl. Oelsner 2022: 99f.).

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Demokratien im globalen und innerdemokratischen Kontext mit Herausforderungen konfrontiert sind, die zu potentiellen Repräsentationslücken führen können. Partizipation über Wahlen hinaus wird als Lösungsmechanismus herangezogen, um diese Herausforderungen insbesondere mit Blick auf die Legitimation politischer Entscheidungen zu bewältigen. Diese wird im folgenden Kapitel weiter betrachtet.

6.     Legitimation neuer Formen politischer Partizipation

Wie zuvor gezeigt wurde, kann politische Partizipation als Mittel zur Legitimitätssteigerung politischer Entscheidungen herangezogen werden, wenn das System Herausforderungen aufgrund von Repräsentationslücken und Politikverdrossenheit gegenübersteht. Die Legitimation kann generell in Input-, Throughput- und Output-Legitimation unterschieden werden. In diesem Kapitel sollen diese Legitimationsdimensionen auf den Beteiligungsprozess übertragen werden, um zu zeigen, worauf zu achten ist, damit Partizipation die Legitimation von Entscheidungen auch tatsächlich positiv beeinflussen kann.

6.1 Input-Legitimation – Wer beteiligt sich?

Der Begriff der Input-Legitimation bezieht sich für Demokratien nach der Definition von Fritz Scharpf auf die „Herrschaft durch das Volk“ (Scharpf 1999: 16). Getroffene Entscheidungen sind demnach als Ausdruck dieser zu verstehen und als legitim anzusehen, „wenn und weil sie den ‚Willen des Volkes‘ widerspiegeln“ (ebd.). In diesem Kontext wird deutlich, dass direkt von der Bevölkerung getroffene Entscheidungen legitimer anzusehen sind als Entscheidungen von Repräsentant:innen, da in dieser zwischengeschalteten Entscheidungsmacht die erläuterte Gefahr einer Repräsentationslücke und demnach auch einer Legitimationslücke besteht. Sascha Kneip und Wolfgang Merkel ziehen deshalb folgenden Schluss: „Legitimationstheoretisch sind direkte Entscheidungen des Staatsvolks jenen indirekten der gewählten Volksvertreter überlegen.“ (Kneip/Merkel 2017: 21)

Hierfür ist allerdings notwendig, dass die gesamte Bevölkerung als Abbild einer pluralistischen Gesellschaft auch tatsächlich in diesen Entscheidungsprozess einbezogen wird, damit die getroffenen Entscheidungen keine Partikularinteressen abbilden (vgl. Schäfer/Schoen 2013: 98). Betrachtet man diesen Aspekt der Input-Legitimation, bezogen auf neue Partizipationsformen, ist allerdings festzustellen, dass dieser in der Realität größtenteils nicht eingehalten wird. So sind es maßgeblich Mitglieder der besser gebildeten Mittelschicht, die sich an Partizipationsverfahren beteiligen. Diese Tendenz einer gruppenbezogenen Partizipationsaffinität fängt bei der Wahl an, ist aber in freiwilligen neuen Partizipationsverfahren noch stärker ausgeprägt. (Vgl. Glaab 2016: 19; Schäfer/Schoen 2013: 95)

Das Partizipationsgefälle zugunsten bessergebildeter und besserverdienender Bürger:innen kann durch sogenannte „partizipationsrelevante Ressource[n]“ (Steinbrecher 2009: 59) begründet werden. Diese besitzen die partizipationsaffinen Bevölkerungsgruppen demnach eher (vgl. ebd.). Die Ressourcen sind einteilbar in intellektuelle und materielle Ressourcen, wobei der Besitz dieser miteinander korreliert (vgl. ebd.). Zu den intellektuellen Ressourcen gehört beispielsweise Bildung (vgl. ebd.). Bildung stellt durch Wissen über Möglichkeiten der Partizipation und ebenso auch Wissen über konkrete Sachverhalte einen maßgeblichen Einflussfaktor auf politische Beteiligung dar. Mit einem höheren Bildungsgrad geht zudem ein gesteigertes politisches Interesse einher, welches ebenfalls eher dazu bewegt, sich politisch auch tatsächlich zu engagieren (vgl. Böhnke 2011: 25). Der Besitz intellektueller Ressourcen bildet zudem einen gewissen Selbsterhaltungsmechanismus ab, den das Partizipationsgefälle zugunsten „elitärer“ Bevölkerungsschichten mit sich bringt. So werden beispielsweise durch die Teilnahme an Partizipationsprozessen häufig auch „Kompetenzen und Werte, die wichtig für die Interessenartikulation und -vertretung sind“ (Keil 2012: 179) gestärkt, so dass ein Kreislauf entsteht (vgl. ebd.). Des Weiteren sehen sich Menschen aus „höheren“ sozialen Schichten eher als einflussreich und politisch kompetent an und empfinden demnach eine höhere „political efficacy“ also Selbstwirksamkeit (vgl. Steinbrecher 2009: 58). Auch hier wird der Selbsterhaltungsmechanismus präsent: Wenn Bürger:innen „niedrigerer“ sozialer Schichten sich aufgrund eines Mangels an Selbstwirksamkeit seltener an Partizipationsprozessen beteiligen, können sie auch im Umkehrschluss keine gesteigerte Selbstwirksamkeit empfinden.

Letztlich ist es eine individuelle Entscheidung, sich politisch aktiv zu beteiligen. In voller Gänze können die Motivationen hier folglich nicht aufgeführt werden. Dennoch bleibt festzuhalten, dass die zuvor ausgeführten Gründe maßgeblich dafür verantwortlich sind, dass sozial privilegiertere Gruppen häufiger Beteiligungsmöglichkeiten wahrnehmen. Wenn politische Partizipation demnach eine potentielle Legitimationslücke politischer Entscheidungen schließen soll, muss sie inklusiv ablaufen, damit sie nicht selbst ein Repräsentations- und Legitimationsproblem zugunsten elitärer Partikularinteressen aufweist. Abschließend anzumerken ist hier noch, dass diese Legitimationsproblematik insbesondere dann auftreten kann, wenn auch tatsächlich Entscheidungen durch Partizipation getroffen werden. Rein deliberative Formate bringen keine konkrete Entscheidungsmacht mit sich und sind deshalb potentiell weniger für diese Problematik relevant. Allerdings werden auch hier Stimmungsbilder und Ideen eingeholt, die einen möglichen Einfluss auf tatsächliche Entscheidungen ausüben können. Aufgrund dessen ist ein Partizipationsgefälle in allen Fällen zu vermeiden. Wie genau dies erfolgen soll, kann in dieser Arbeit nicht mehr geklärt werden; eine Möglichkeit bietet allerdings die bereits erwähnte Zufallsauswahl für partizipative Angebote, wie sie beispielsweise in Bürger:innenräten umgesetzt wird. Ein potentielles Partizipationsgefälle soll aufgrund der möglichen Vermeidung dessen hierbei auch nicht als tatsächlicher Grund gegen mehr Beteiligung eingewandt werden, zumal bereits Wahlen dieses Gefälle aufweisen. Vielmehr sollte dieses Kapitel zeigen, warum es zu optimistisch wäre, Partizipation uneingeschränkt als „Allheilmittel“ (Schäfer/Schoen 2013: 115) anzusehen.

6.2 Throughput-Legitimation – Wie transparent ist der Prozess?

Die Dimension der Throughput-Legitimation bezieht sich auf die Transparenz politischer Entscheidungsprozesse. Bürger:innenbeteiligung wird hierbei als Instrument zur Steigerung dieser angesehen. (Vgl. Glaab 2016: 6) Bezogen auf das konkrete Beteiligungsverfahren muss beachtet werden, dass Beteiligte ausreichend Informationen zur Verfügung gestellt bekommen, auf deren Basis Entscheidungen getroffen werden können. Hierdurch werden gleichermaßen Beteiligungschancen erhöht (vgl. ebd.; Pautsch/Zimmermann 2020: 398). Zudem ist relevant, dass „Ziel und Zweck“ (Glaab 2016: 19) der Partizipationsprozesse transparent und frühzeitig mit den Beteiligten kommuniziert werden, so dass ein „realistisches Erwartungsmanagement [Herv. i. O.]“ (ebd.: 18) hergestellt wird und Enttäuschungen vermieden werden können (vgl. ebd.: 18f.).

6.3 Output-Legitimation – Welches Ergebnis wird beschlossen?

Unter Output-Legitimation wird nach Scharpf verstanden, dass Entscheidungen „für das Volk“ (Scharpf 1999: 16) getroffen werden und durch ihr Entsprechen des Gemeinwohls legitimiert werden (vgl. Scharpf 1999: 16 ). Hier kann in der Schlussfolgerung angenommen werden, dass politische Partizipation zu eben dieser Gemeinwohlsteigerung beitragen kann, da das Volk direkt seine Interessen artikulieren und bestenfalls umsetzen kann, wie es auch die deliberative Demokratietheorie annimmt. Dies kann allerdings, wie zuvor bereits gezeigt wurde, auch nur für inklusive Beteiligungsprozesse gelten, die kein Gefälle zugunsten spezifischer Personengruppen aufweisen. Prinzipiell kann durch Partizipation eine generelle Steigerung der Qualität der Entscheidungen angenommen werden, welche insbesondere durch den Austausch zwischen den Partizipationsteilnehmenden zustande kommen kann. Es können folglich neue Erkenntnisse gewonnen und Ideen generiert werden, wenn vielfältige Perspektiven auch aus der Zivilbevölkerung einbezogen werden. (Vgl. Neunecker 2016: 202) Dieser Ansicht sind auch Bürger:innen und politische Entscheidungsträger:innen, wie die bereits erwähnte Studie der Bertelsmannstiftung zeigt: „Eine vielfältige Demokratie ist damit immer auch eine ideenreichere als eine rein repräsentativ organisierte Demokratie.“ (Vehrkamp/Tillmann 2014: 28) Des Weiteren sind sich Bevölkerung und politische Akteur:innen einig, dass insbesondere das Risiko für Fehlplanungen durch Bürger:innenbeteiligung minimiert werden kann, was ebenso zu einer Qualitätssteigerung durch Beteiligung führt (vgl. Vehrkamp/Tillmann 2014: 43). Ein weiter Aspekt, der zu einer langfristigen Qualitätssteigerung durch die politische Partizipation von Bürger:innen führt, wird von Patrizia Nanz und Claus Leggewie als „soziales Lernen“ (Nanz/Leggewie 2016: 31) bezeichnet. So sei durch ein konstruktives Miteinander verschiedenster Akteur:innen auf Dauer auch gewährleistet, dass sich Horizonte erweitern und somit „Beteiligungsprozesse als Keimzellen gemeinsamen Lernens fungieren.“ (Nanz/Leggewie 2016: 31)

Mit Rückbezug auf die Input-Legitimation kann hier zudem angemerkt werden, dass Ergebnisse, die von der Bürger:innenschaft durch als fair empfundene Beteiligungsprozesse getroffen wurden, tendenziell auch dann von den Teilnehmenden akzeptiert werden, wenn diese nicht der eigenen Meinung entsprechen (vgl. Weber/Nierth 2016 : 328). Diesen Effekt trauen sowohl Zivilbevölkerung als auch politische Akteur:innen insbesondere deliberativen Verfahren zu (vgl. Vehrkamp/Tillmann 2014: 38f.). Partizipation kann also die Akzeptanz der getroffenen Entscheidungen steigern und ist aufgrund dessen auch insbesondere in Bauvorhaben ein relevanter Bestandteil. Hierbei wird frühzeitige Beteiligung hauptsächlich als Mittel gegen Proteste in späten Phasen des Bauvorhabens angesehen, um schlimmstenfalls Klagen gegen eben diese und somit Verfahrensverzögerungen zu vermeiden. (Vgl. BMVI 2014: 10;19) Das Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur (BMVI) formuliert es wie folgt: „Daher ist wichtig, insbesondere die rechtlich betroffenen Bürger frühzeitig einzubeziehen, um spätere Klageverfahren möglichst zu minimieren.“ (BMVI 2014: 19) „Schon aus ökonomischen Effizienzüberlegungen“ (Vehrkamp/Tillmann 2014: 42) ist Einbeziehung der Bürger:innenschaft demnach sinnvoll – zumal bereits gezeigt wurde, dass die hier getroffenen Entscheidungen auch tatsächlich qualitativ hochwertiger sein können und ebenfalls Fehlplanungen vermeiden können. Diese positiven Konsequenzen der Partizipation auf die Ouput-Ebene von Legitimation sind allerdings auch hier daran geknüpft, dass die Beteiligungsprozesse auch tatsächlich einen Einfluss auf getroffene Entscheidungen ausüben. Wenn bereits im Vorhinein feststeht, dass die Bürger:innen keinen Einfluss auf die Entscheidungsfindung haben, sind diese positiven Folgen eher nicht anzunehmen. Vielmehr besteht hier sogar die Gefahr, dass eine Verdrossenheit entsteht (vgl. Lange 2014: 228). Partizipationsprozesse sollten folglich nicht als reine „Alibiveranstaltung[en]“ (Glaab 2016: 18) fungieren. Manuela Glaab fasst es passend zusammen: „[H]ier läuft die ‚Politik des Zuhörens‘ Gefahr, als Bühne zur Selbstdarstellung bzw. Inszenierung von Bürgernähe desavouiert zu werden.“ (Glaab 2016: 18)

Wird aber beachtet, dass Partizipationsprozesse inklusiv gestaltet sind und die im konstruktiven Austausch miteinander geschaffenen Ideen auch tatsächlich seitens der politischen Entscheidungsträger:innen Beachtung finden, kann Partizipation als potentieller Ansatz für die Lösung realpolitischer Probleme genutzt werden.

7.     Fazit

Die vorliegende Arbeit hatte das Ziel, die Veränderungen der Partizipationslandschaft ausgehend von den Protestbewegungen der 60er-Jahre in der Bundesrepublik Deutschland aufzugeigen. Hierfür wurde zunächst eine Einführung in die Typologisierung von politischer Partizipation gegeben. Anschließend wurden anhand der Studentenbewegung, beziehungsweise der APO und der NSB die Protestbewegungen skizziert. Es konnte herausgearbeitet werden, dass die Studentenbewegung eine „Demokratisierung der Demokratie“ einforderte und eine existierende Repräsentationslücke anprangerte. Die Gründung der Großen Koalition zwischen CDU/CSU und SPD war aufgrund einer wahrgenommenen Oppositionslosigkeit für sie als Gefahr für die Demokratie anzusehen, so dass die APO sich die Aufgabe der Opposition zusprach. Für ihre Forderungen stand die Studentenbewegung maßgeblich mit Hilfe unkonventioneller Beteiligungsformen, wie eben Protesten, ein und prägte damit die Partizipationslandschaft der 60er-Jahre. Ausgehend von diesen Entwicklungen kamen seit den 70er-Jahren die NSB auf, welche an die Verwendung unkonventioneller Partizipationsformen anknüpfen konnten und trotz ihrer vielfältigen Themen noch immer das übergeordnete Ziel einer weitreichenderen Mitsprache verfolgten. Welche Partizipationslandschaft diesen Forderungen als Ausgangspunkt diente, konnte in Kapitel 3.3 gezeigt werden. Somit war eine Mitsprache außerhalb von Wahlbeteiligung oder Parteimitarbeit innerhalb des „Zweiparteiensystems“ kaum möglich. Das Gebot der Repräsentation war somit vorherrschend und brachte eben die Gefahr der Repräsentationslücke mit sich, die von den Bewegungen postuliert wurde. In Kapitel 3.4 wurde dann herausgearbeitet, inwiefern diese Protestbewegungen unmittelbare Veränderungen der Partizipationslandschaft hervorriefen. Den Anfang machte hierbei die erste sozialliberale Koalition zwischen SPD und FDP, die sich als potentieller Ausdruck der Aufbruchstimmung deuten lässt und mit den Worten Willy Brandts „Wir wollen mehr Demokratie wagen“ eingeleitet wurde. Umgesetzt wurde dies konkret durch die Absenkung des aktiven Wahlalters auf 18 Jahre und die weitestgehende Einführung direktdemokratischer Elemente wie Bürger:innenentscheide auf Kommunalebene. Neben den direkten Reaktionen auf die Bewegungsstimmung seit den 60er-Jahren können zudem zwei weitere Entwicklungen festgehalten werden, die die heutige Partizipationslandschaft maßgeblich prägten. Zunächst gründete sich durch die Institutionalisierung verschiedenster Teilbereiche der NSB die Partei „Die Grünen“, welche sich selbst als politische Alternative zu den etablierten Parteien ansah und direktdemokratischere Elemente forderte. Durch ihre Existenz veränderte die Partei das Parteiensystem Deutschlands hin zu mehr Vielfalt. Neben der Institutionalisierung durch die Partei die Grünen gewannen NGOs an Bedeutung und boten einen organisierten Rahmen für die Koordination verschiedenster Themenbereiche der NSB. Aufgrund der Vielzahl an Neuerungen in der eigentlich repräsentativ geprägten Partizipationslandschaft wird die Zeit der 60er-, 70er- und 80er-Jahre häufig als Zeit der „partizipatorischen Revolution“ zusammengefasst.

In der Demokratietheorie entwickelte sich, wie Kapitel 4 betrachtete, das Verständnis einer deliberativen Demokratietheorie als Alternative zur rein repräsentativ organisierten demokratischen Ordnung. Hierbei wird insbesondere der Fokus auf einen für Jede:n offenen Diskurs gelegt, der nach intensivem Abwägen aller möglichen Argumente zu einem abschließenden Ergebnis kommt. Dass dieser Prozess aufgrund seiner Voraussetzungen kritisiert wird, konnte ebenfalls gezeigt werden. Somit sei das Menschenbild, welches der Deliberation zugrunde liegt, zu optimistisch angesetzt und praktisch kaum anwendbar. Dennoch etablierten sich praktische Formen der Umsetzung, wie beispielsweise Bürger:innenräte, wie Kapitel 4.2 zeigte. Ausgehend von diesen Entwicklungen wurde in Kapitel 5.1 erörtert, dass Bürger:innen und politische Akteur:innen diese befürworten, insbesondere für Bürger:innen aber noch Verbesserungspotential besteht, was die Partizipationslandschaft betrifft. Insbesondere direktdemokratische Verfahren seien so immer noch nicht ausreichend vorhanden. Auf Seite der politischen Akteur:innen besteht hierbei allerdings eine gewisse Skepsis, so dass eher repräsentative Formate präferiert werden. Beide Seiten scheinen sich hier noch nicht einig zu sein, wie weit Partizipation tatsächlich gehen sollte. Auch wurde gezeigt, dass Proteste durch die neuen Formen keinesfalls abgelöst wurden. Mit Bezug auf die Frage, ob neuere Formen eine gesteigerte Konstruktivität mit sich bringen, lässt sich sagen, dass die neu etablierten deliberativen Beteiligungsmöglichkeiten durch ihren dialogischen Charakter definitiv das Ziel eines konstruktiven Austauschs zwischen Akteur:innen aus Zivilgesellschaft und der politischen Sphäre verfolgen. Da diese erst mit der Zeit entwickelt wurden, ist also definitiv eine Tendenz zu mehr Konstruktivität zu erkennen. Dies bedeutet aber keinesfalls, dass alle Formen im Zeichen der Konstruktivität stehen. So existieren auch Proteste, die sich tendenziell eher gegen bestimmte Vorhaben richten, als konstruktiv eine neue gemeinsame Lösung zu suchen. Proteste müssen hierbei aber differenziert werden; ein Aufzeigen von Missständen ist somit nicht gleich als destruktiv anzusehen. In dieser Hinsicht waren beispielsweise die Protestbewegungen der 60er-Jahre gewissermaßen ein Aufruf zu mehr Konstruktivität und mehr Mitsprache. Begründet durch die skizzierte Repräsentationslücke kam es hierbei zu Protest. Dass eine Repräsentationslücke auch zu Verdrossenheit führen kann, wurde in Kapitel 5.2 aufgezeigt. Partizipation kann demnach auch als Mittel zur Bekämpfung dieser angesehen werden. Insbesondere ist dies der Fall, wenn durch die Repräsentationslücke auch eine Legitimationslücke politischer Entscheidungen aufklafft. Was beachtet werden muss, damit politische Partizipation tatsächlich legitimitätsstiftende Wirkungen mit sich bringt, wurde in Kapitel 6 beleuchtet. So muss Partizipation beispielsweise auf der Input-Ebene inklusiv sein und darf kein Partizipationsgefälle zugunsten elitärer Bevölkerungsgruppen aufweisen. Ebenso muss Partizipation auf der Throughput-Ebene transparent gestaltet sein. Hierbei muss artikuliert werden, inwiefern tatsächlich auch Entscheidungen der Teilnehmenden umgesetzt werden, um für ein realistisches Erwartungsmanagement zu sorgen. Dass Partizipationsprozesse demnach keine Show-Veranstaltungen werden sollen, ist mit Blick auf die Output-Legitimation relevant. So können durch Einbezug verschiedener Akteur:innen potentiell qualitativ hochwertigere Entscheidungen getroffen werden und somit auch Fehlplanungen und Klagen in konkreten Planungen vermieden werden.

Alles in Allem scheinen sich die Vorzüge politischer Partizipation durchzusetzen. Bürger:innen wollen partizipieren und das System kann dies kaum noch ignorieren. Auch wenn schon viel seit der „partizipatorischen Revolution“ erreicht wurde, das Potential ist noch lange nicht ausgeschöpft.

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[1] Es besteht in der Literatur eine gewisse Uneinigkeit darüber, in welchem Verhältnis die Studierenden und die APO genau standen. Möltgen-Sicking schreibt so beispielsweise, dass sich die Studierenden selbst als Opposition  verstanden und somit die APO bildeten, während andere Autor:innen beide Begriffe eher abgrenzen. Diese Arbeit wird bei dem synonymen Verständnis bleiben, da kleinteilige Differenzen der Anhängerschaft hier aufgrund der groben Skizzierung des Kontextes nicht weiter behandelt werden sollen.

[2] Auch hier muss angemerkt werden, dass definitorische Uneinigkeiten in der Literatur vorliegen und die Studentenbewegungen zum Teil sowohl als „Bindeglied“ (Geißel/Thillmann 2006: 160) zwischen eben alten und neuen Bewegungen, als auch Teil der NSB bezeichnet werden (vgl. ebd.). Aufgrund der thematischen Vielfalt der NSB und der folgenden thematischen Abgrenzung zu der Studentenbewegung, gemäß den Ausführungen von Karl-Werner Brand, wird diese Arbeit die NSB als eigenständige Bewegungen darstellen.

 

Die vollständige Arbeit als Download: Bachelorarbeit Raufuß Partizipation im Wandel 

Deliberative Demokratie, Politische Partizipation