Skip to main content
Quelle: www.pixabay.com

Katharina Milde: Klimapolitik zwischen Demokratie und Epistemisierung – Das Beispiel der Fridays for Future-Bewegung

Vorgelegt als Hausarbeit von Katharina Milde am Institut für Politische Wissenschaft der RWTH Aachen

1 Einleitung

Klimaaktivist:innen wird häufig unterstellt, eine epistemische Technokratie, eine Herrschaft wissenschaftlicher Eliten zu favorisieren, da demokratische Entscheidungsstrukturen zu träge seien, um dem Handlungsdruck in der Klimakrise gerecht zu werden und eine der Gefahrenlage angemessene Problembearbeitung zu ermöglichen (Honnacker 2020; Stehr/Machin 2019: 164ff). Dieser Vorwurf ist in den Kontext einer zunehmenden Verwissenschaftlichung der modernen Gesellschaft und Politik zu stellen, in deren Rahmen wissenschaftlich identifizierte Sachzwänge eine demokratisch-parlamentarische Entscheidungsfindung abzulösen scheinen. Dem zwiespältigen Verhältnis von Wissenschaft und Politik widmet sich auch der Wissenschaftssoziologe Alexander Bogner. In seinem zentralen Werk „Die Epistemisierung des Politischen“ (Bogner 2021) beschreibt er potenzielle Gefahren für die Demokratie in der Wissensgesellschaft, wenn Wertekonflikte von Fragen des richtigen Wissens überlagert werden. Bogner spricht von einem „Zwangscharakter wissenschaftlicher Tatsachen“ (ebd.: 103) und einer despotischen Wirkung der erklärten Wahrheit, welche die demokratische Mehrheitsfindung im parlamentarischen Widerstreit partikularer Interessen und Werte verhindere (ebd.: 107, 112).
Jüngst scheinen auch die Forderungen der klimaaktivistischen Fridays for Future (FFF)-Bewegung dem von Bogner beschriebenen Muster der Verwissenschaftlichung zu entsprechen. Greta Thunberg rief als Begründerin und Leitfigur der Bewegung die Weltpolitik wiederholt dazu auf, sich hinter dem klimawissenschaftlichen Konsens zu vereinen: „You don’t have to listen to us, but you have to listen to the united science. The scientists. And that is all we ask – unite behind the science.“ (Thunberg 2021a: 52) Studien attestierten ihr in der Folge eine Nähe zu Technokratie und Elitismus (s. z.B. Zulianello/Ceccobelli 2020). Vor diesem Hintergrund fragt die vorliegende Arbeit nach den demokratietheoretischen Implikationen der FFF-Bewegung: Kann ihren Forderungen im Sinne der Bogner’schen These von der Epistemisierung des Politischen eine technokratisch-epistemisierende und somit demokratiegefährdende Wirkung unterstellt werden?
Zur Beantwortung der Fragestellung wird im Folgenden (Kap. 2) mit der Bogner’schen These von der Epistemisierung des Politischen zunächst der theoretische Rahmen der Arbeit vorgestellt. Hierbei werden neben den potenziell demokratiegefährdenden Folgen wissenschaftlich identifizierter Sachzwänge auch das Spannungsfeld zwischen Werte- und Wissenskonflikten sowie der Hang zur Postfaktizität politischer Diskurse in der Wissensgesellschaft thematisiert (s. z.B. Bogner 2018; 2021; Bogner/Menz 2021). In Kapitel 3 erfolgt mit der Charakterisierung der FFF-Bewegung um Begründerin Greta Thunberg sowie einem Abriss ihrer zentralen Forderungen die Vorstellung des Untersuchungsgegenstands (s. z.B. Haunss/Sommer 2020; Thunberg 2021a; Wahlström et al. 2019a). Der Hauptteil der Arbeit erörtert schließlich, inwiefern den FFF-Forderungen hinsichtlich der von Bogner beschriebenen Epistemisierung des Politischen ein demokratiegefährdendes Potenzial unterstellt werden kann. Es werden verschiedene Argumente zum epistemischen Sachzwangcharakter der FFF-Forderungen (Kap. 4.1), zur Verschleierung klimapolitischer Interessen- und Wertekonflikte (Kap. 4.2) sowie zu Demokratiebekenntnissen und einer interessenpluralisierenden Wirkung der Protestbewegung (Kap. 4.3) diskutiert. Die Arbeit endet mit einem Fazit (Kap. 5), das die zentralen Befunde in den Forschungsstand einordnet und eine kritische Einschätzung der argumentativen Stärken und Grenzen der Arbeit vornimmt.

2 Zur Epistemisierung demokratischer Entscheidungsfindung nach Bogner

2.1 Die Wissensgesellschaft

Alexander Bogner, Wissenschaftssoziologe am österreichischen Institut für Technikfolgen-Abschätzung, beschreibt in den „Gesellschaftsdiagnosen“ (2018) die Entstehung der postindustriellen Wissensgesellschaf, in der das Wissen zur zentralen Ressource und Produktivkraft avanciert ist. In der spätmodernen Gesellschaft sind nahezu alle Gesellschaftsbereiche einer Verwissenschaftlichung unterworfen, in deren Rahmen Handlungen und Entscheidungen zunehmend an wissenschaftlicher Expertise orientiert werden. Dies geht mit einer Bedeutungszunahme der Wissenschaft und der wissenschaftlichen Elite einher, der eine neue gesellschaftliche Führungsrolle zukommt (ebd.: 173-178). Die Ursache der Verwissenschaftlichung sieht Bogner in zunehmend komplexen Problemlagen, mit denen sich die moderne Gesellschaft angesichts neuer Risiken und nicht-intendierter Nebenfolgen konfrontiert sieht. Um diese Gefahren erkennen und behandeln zu können, ist die moderne Demokratie auf wissenschaftliche Expertise angewiesen (Bogner 2021: 18; Bogner/Menz 2021: 122). In seinem Essay „Die Epistemisierung des Politischen“ (2021) nimmt Bogner über die diagnostische Beschreibung der Wissensgesellschaft hinaus einen kritischen Standpunkt ein, indem er die potenziellen Gefahren der Verwissenschaftlichung für die Demokratie fokussiert. Mit Blick auf die Fragestellung der vorliegenden Arbeit werden im Folgenden Bogners zentrale Argumente mit Bezug zur Klimapolitik nachgezeichnet.

2.2 Die demokratiegefährdende Macht des Wissens im Klimastreit

Im Zuge der von Bogner konstatierten Epistemisierung des Politischen entwickelt sich die wissenschaftliche Expertise zur primären Legitimationsgrundlage politischer Entscheidungen. Wer glaubhaft machen kann, über das bessere Wissen zu verfügen, hat in politischen Streitfragen gute Chancen zur Durchsetzung der eigenen Position, da allein die wissenschaftliche Expertise als Garant für eine fortschrittliche und rational richtige Politik gilt. Während politische Debatten in Form von langwierigen Kontroversen um wissenschaftliche Daten und ihre angemessene Interpretation ausgetragen werden, bleiben die den widerstreitenden Positionen zugrundeliegenden divergierenden Werte und Interessen implizit, da das gesicherte Wissen als überlegene Legitimationsressource dient. Im Falle eines breiten Wertekonsens, wie er häufig in akuten Krisensituationen besteht, beschränkt sich politisches Handeln somit auf einen verwaltungstechnischen Akt, in dem nicht der Zweck, sondern lediglich die Mittel des Handelns zur Disposition stehen und entlang wissenschaftlicher Expertise entschieden werden (Bogner 2021: 8, 18-22, 26; 2022: 2; Bogner/Menz 2021: 121f, 128). Die Reduktion politischer Streitfragen auf reine Wissenskonflikte wird jedoch spätestens dann problematisch, wenn ihnen – wie für soziale Konflikte üblich – rivalisierende Werte und Interessen zugrunde liegen. Wer an diesen Konflikten teilhaben will, sieht sich gezwungen, die eigene normative Position durch wissenschaftliche Expertise zu unterfüttern und als „Ausdruck eines objektiv besseren Wissens dazustellen“ (Bogner 2021: 108). Ist dies nicht möglich, stellt die Anzweiflung des etablierten Wissens und die Produktion ‚alternativer Fakten‘ einen beliebten Ausweg dar, um eine normativ unliebsame Politik innerhalb der epistemischen Thematisierungsweise zu verhindern oder hinauszuzögern. Bogner sieht im Verwissenschaftlichungsdruck somit eine zentrale Ursache für das aus demokratietheoretischer Sicht problematische Phänomen der Fake News, Postfaktizität und Pseudoexpertise (ebd.: 19, 95, 105, 114).
Die Epistemisierungstendenz wird auch im Ringen um eine angemessene Klimapolitik deutlich. Im Vordergrund des Klimastreits stehen Fragen der Zuverlässigkeit klimawissenschaftlicher Prognosen und Risikoeinschätzungen und somit Wahrheitsansprüche im Sinne einer wissenschaftlichen Wahr-/Falsch-Logik. Die Auseinandersetzung um das richtige Wissen verdeckt dabei die zugrundeliegenden rivalisierenden Werte und Interessen (ebd.: 24, 105, 118). Selbst wer den klimawissenschaftlichen Expertenkonsens bezüglich der global verheerenden Folgen der Klimakrise anerkennt, kann die Ausgestaltung und Priorisierung von Nachhaltigkeitszielen dennoch hinterfragen. Aus der wissenschaftlichen Expertise lässt sich keine bestimmte klimapolitische Maßnahme herleiten. Kurzfristiges Wirtschaftswachstum, individuelle Mobilität oder nachholende Entwicklung stellen rivalisierende Werte und Interessen dar, die ambitionierten Klimazielen entgegenstehen können (ebd.: 27, 44). Obwohl es hinsichtlich dieser Werte- und Interessenkonflikte um moralische Gebotenheit und distributive Verhältnismäßigkeit geht, beschränkt sich die politische Auseinandersetzung auf wissenschaftliche Zahlen und Fakten (Bogner/Menz 2021: 115, 117). In diesem Verwissenschaftlichungsdruck sieht Bogner auch im Klima¬streit die Ursache für Postfaktizität und Konsensleugnung. Die Abstraktion von der Werteebene führt dazu, dass Gegner:innen einer progressiven Klimapolitik alternative Gegenexpertise und Pseudowissen mobilisieren, um den wahrgenommenen politischen Handlungszwang, der aus dem klimawissenschaftlichen Expertenkonsens resultiert, innerhalb der epistemischen Thematisierungsweise entgegenzutreten (Bogner 2021: 19-28, 95, 105-108).
Bogner schreibt dem Wissen in modernen Gesellschaften eine Stabilisierungsfunktion zu. Es schafft einen überindividuellen Referenzrahmen, auf den sich alle Menschen unabhängig von sozialer oder kultureller Zugehörigkeit beziehen können. Demokratische Politik ist auf einen solchen Referenzrahmens angewiesen, da widersprüchliche Positionen nur auf Basis einer geteilten Kommunikationsgrundlage Eingang in einen produktiven Dissens finden können, an dessen Ende mehrheitsfähige Kompromisslösungen stehen. Wird dieser Referenzrahmen in Frage gestellt, entstehen inkommensurable Realitätskonstruktionen, die sich in wechselseitiger Indifferenz oder unversöhnlicher Feindschaft gegenüberstehen, und somit einer lebendigen Demokratie ihre Grundlage entziehen (Bogner 2021: 7f, 54f, 64, 83, 92, 117; Bogner/Menz 2021: 112f). Die Strukturierungsleistung des Wissens ist jedoch nicht mit einer Determinierung politischer Entscheidungen durch objektive Wahrheiten gleichzusetzen. Bogner geht vielmehr von einer pluralisierten Wissensproduktion aus; aufgrund abweichender Problemkonzeptionen gelangen verschiedene Wissenschaftsdisziplinen zu divergierenden Erkenntnissen und Empfehlungen. Die Gültigkeit des Wissens ist häufig umstritten oder uneindeutig, und neue wissenschaftliche Erkenntnisse gehen meist mit der Aufdeckung weiterer Wissenslücken einher. Bogner konstatiert, dass politische Streitfragen angesichts dieser epistemischen Pluralität sowie angesichts der grundsätzlich rivalisierenden Werte und Interessen im Rekurs auf die Wissenschaft informiert, jedoch nicht entschieden werden können (Bogner 2018: 187-190; 2021: 13; Bogner/Menz 2002: 390-198; 2021: 126ff).
In der Wissensgesellschaft löst ein weitreichender Expertenkonsens jedoch die Erwartungshaltung aus, die Politik müsse die von der Wissenschaft angeratenen Maßnahmen umsetzen. Der wahrgenommene Handlungszwang verstärkt sich, wenn das Konsenswissen mit einer begründungsfähigen Wertebasis verknüpft ist – wie im Falle der unzweifelhaft negativen Auswirkungen des Klimawandels auf die Weltbevölkerung. Bogner zufolge entfaltet sich hier ein despotischer Charakter der erklärten Wahrheit. Die Überlagerung von Wertekonflikten durch Fragen des richtigen Wissens lässt politisches Handeln angesichts des Expertenkonsens alternativlos erscheinen und gefährdet die demokratische Mehrheitsfindung im parlamentarischen Diskurs (Bogner 2021: 21, 24, 107; Bogner/Menz 2021: 125f). In Bogners Worten: „So zäh diese Wertekonflikte oft verlaufen: Wer mit Bezug auf ein eindeutig überlegenes Wissen nach Abkürzungen sucht, schafft die Politik und/oder die Demokratie ab.“ (Bogner 2021: 46) Wertekonflikte sind nicht auf Basis wissenschaftlicher Expertise entscheidbar. Zwar sollten wissenschaftliche Erkenntnisse die politische Entscheidungsfindung informieren, jedoch bleibt die Aushandlung normativer und distributiver Fragen eine genuin politische Aufgabe (Bogner/Menz 2021: 126ff). Um dem vermeintlichen Zwangscharakter wissenschaftlicher Tatsachen zu entkommen, fordert Bogner eine Repolitisierung sozialer Konflikte. Die Politik müsse ein breites Spektrum normativer Überzeugungen und individueller Betroffenheiten einbeziehen, um zu Entscheidungen zu gelangen, die als mehrheitsfähig und gemeinwohlorientiert gelten können (Bogner 2021: 108f).

2.3 Bogners Demokratieverständnis

Der dieser Argumentation zugrundeliegende Demokratiebegriff bleibt weitgehend implizit. Es wird jedoch ersichtlich, dass Bogner sich auf ein liberal-pluralistisches Demokratieverständnis im Sinne Hans Kelsens (1963) bezieht, das eng mit dem Grundwert der Freiheit verknüpft ist. Demokratische Entscheidungsfindung erfolgt in einem offenen Prozess und kann nicht auf ein vorgegebenes Ziel festgelegt sein. Bogner (2021: 37f, 43, 45) begreift die Demokratie daher als ein Projekt mit offenem Ausgang, das stets vom Verlust der liberalen Grundrechte durch den Mehrheitswillen bedroht ist. Darüber hinaus ordnet er der Aushandlung politischer Streitfragen im demokratischen Diskurs einen hohen Stellenwert zu. Die zentrale Aufgabe der Politik besteht darin, plurale und somit rivalisierende Interessen und Werte stets aufs Neue zu mehrheitsfähigen Kompromissen zu vereinen und einer inkrementellen Problemlösung zuzuführen. Das Parlament dient dabei als zentrale Arena der argumentativen Auseinandersetzung und konstruktiven Vermittlung divergierender Positionen. In der offenen politischen Debatte sieht Bogner die Chance zur Realisierung einer gemeinwohlorientierten Politik, die den partikularen Einzelmeinungen überlegen ist. Rivalisierende Werte und Interessen übernehmen somit die Funktion eines notwenigen und legitimen Korrektivs (Bogner 2021: 39, 52-59, 109; 2022: 3f; Bogner/Strauß 2022: 220ff).
Im Folgenden wird mit der klimaaktivistischen Fridays for Future-Bewegung der Untersuchungsgegenstand der vorliegenden Arbeit dargestellt und anschließend der Analyse entlang der Bogner’schen These von der Epistemisierung des Politischen zugeführt.

3 Fridays for Future – Hintergründe der Protestbewegung

Am 20. August 2018 hielt Greta Thunberg im Alter von 15 Jahren ihren ersten „Schulstreik für das Klima“ vor dem schwedischen Parlament. Die Aktion einer einzelnen Schülerin entwickelte sich schnell zu einer transnationalen Protestbewegung. Ein Jahr später, im September 2019, brachte Fridays for Future (FFF) beim dritten globalen Klimastreik weltweit 7,6 Millionen Menschen in 185 Ländern auf die Straßen, um für eine ambitionierte Klimapolitik zu demonstrieren (de Moor et al. 2019: 19; de Moor et al. 2020a: 4; Wahlström et al. 2019a: 5). Der Erfolg der FFF-Proteste wird in der Literatur als historische Wende des Klimaaktivismus beschrieben. Die hohe Anzahl beteiligter Kinder und Jugendlicher im überwiegend schulpflichtigen Alter, die Protestform des zivilen Ungehorsams in Form von freitäglichen Schulstreiks und Demonstrationen an zentralen städtischen Plätzen sowie die hohe Aufmerksamkeit in Medien und Politik machen den außergewöhnlichen Charakter der Bewegung aus (Sommer et al. 2020: 28; Wahlström et al. 2019b: 6f). Thunberg wurde als Begründerin und Leitfigur der Bewegung wiederholt in hochrangige nationale und internationale politische Gremien geladen und hielt medial viel beachtete Reden u.a. auf UN-Klimakonferenzen, im Weltwirtschaftsforum und im Europäischen Parlament (Neuber et al. 2020: 86; Thunberg 2021a; Wahlström et al. 2019b: 6).
Die FFF-Bewegung richtet ihre Forderungen zum Kampf gegen den Klimawandel primär an die nationale und internationale Politik, die durch öffentlichen Druck zur Realisierung ambitionierter Klimaschutzmaßnahmen in Übereinstimmung mit dem Pariser Klimaabkommen animiert werden soll. Im Zentrum steht die Reduktion der klimaschädlichen Treibhausgas¬emissionen. Dabei wird die Dringlichkeit des Handels betont, um angesichts des drohenden Klimakollapses den Fortbestand der menschlichen Zivilisation sicherzustellen (de Moor et al. 2021: 622; Neuber et al. 2020: 68; Sommer et al. 2020: 32, 36). Die Bewegung vertritt diesbezüglich die Interessen der jungen und künftigen Generationen, deren vom Klimawandel bedrohte Zukunft von den Erwachsenen zu sichern sei, zumal viele der Streikenden noch nicht wahlberechtigt sind (de Moor et al. 2020b: 26; Wahlström et al. 2019b: 11, 15). Thunberg hebt zudem die besondere Klimawandelbetroffenheit des Globalen Südens und der indigenen Völker hervor (Murphy 2021; Thunberg 2021a: 65-72), und auch die Protestierenden schreiben der globalen Klimagerechtigkeit einen hohen Stellenwert zu (Neuber et al. 2020: 67f, 81; Sommer et al. 2020: 32). Die prägnanteste FFF-Forderung findet sich jedoch in ihrem häufig rezitierten Slogan „Listen to the science“ wider. Die Mehrheit der Protestierenden ist der Überzeugung, dass die Politik der Klimawissenschaft folgenleisten müsse, im Zweifel auch ohne die mehrheitliche Zustimmung der Bevölkerung (de Moor et al. 2020b: 26f; Sommer et al. 2020: 36f; Wahlström et al. 2019b: 17). Der Bewegung wird eine dezidierte Wissenschaftsorientierung attestiert, da ihre Argumentation überwiegend auf klimawissenschaftlichen Erkenntnissen fuße (Hurrelmann/Albrecht 2020: 231f). Der Rekurs auf die Wissenschaft ist auch in Thunbergs Reden wiederholt zu finden: „We don’t have any other manifestos or demands – you unite behind the science, that is our demand.“ (Thunberg 2021a: 21f) Thunbergs Rhetorik wird vor diesem Hintergrund eine Nähe zum Szientismus vorgeworfen, da sie politische und wertebasierte Fragen auf die Wissenschaft abwälze und es ihr an einer klaren normativen Haltung fehle (Evensen 2019). Studien kritisieren ihre Forderungen zudem als technokratisch-elitär, da sie die wissenschaftliche Erkenntnis zu einer absoluten Wahrheit erhöben und eine Umgestaltung des demokratischen Prozesses implizierten, in deren Folge der politischen Entscheidungsfindung technokratische Einschränkungen auferlegt würden (Hanusch/Meisch 2022: 13; Zulianello/Ceccobelli 2020: 626, 630). Auch Bogner kritisiert den von Klimaaktivist:innen vorgebrachten Aufruf „Follow the science“ als unzulässige Verkürzung des demokratischen Prozesses (Bogner 2022: 2). Vor diesem Hintergrund fragt die vorliegende Arbeit in Orientierung an der Bogner’schen These von der Epistemisierung des Politischen nach den demokratietheoretischen Implikationen der FFF-Bewegung. Da Thunberg international in Medien und Politik sowie unter den Protestierenden als Leitfigur und zentrale Stimme der Bewegung wahrgenommen wird (de Moor et al. 2020b: 23; Sorce 2022: 19f, 25; Wahlström et al. 2019b: 14), stehen Thunbergs öffentlichen Reden, ergänzt durch Studien zur FFF-Bewegung, im Zentrum der nachfolgenden Analyse (s. insb. Thunberg 2021a).

4 Demokratietheoretische Implikationen der Fridays for Future-Bewegung

4.1 „Listen to the united science” – eine Forderung mit epistemisch-technokratischem Zwangscharakter?

Kaum eine der 23 analysierten Reden, die Thunberg zwischen September 2018 und Juni 2020 gehalten hat, kommt ohne den – oft mehrfachen – Verweis auf die als „united“, „rock-solid“ und „crystal clear“ bezeichnete Klimawissenschaft aus (s. z.B. Thunberg 2021a: 20, 52, 59). Klare Adressatin dieser Rhetorik ist die nationale und internationale Politik, die dazu aufgerufen wird, den wissenschaftlichen Konsens zur Grundlage der Entscheidungsfindung zu machen und parteipolitische Streitigkeiten beizulegen. „You must unite behind the science” (ebd.: 58), „make the best available science the heart of politics and democracy” (ebd.: 31) und „we must not allow this to continue to be a partisan political question” (ebd.: 57), heißt es in Thunbergs Reden. Im Zentrum ihrer Argumentation stehen die klimawissenschaftlichen Erkenntnisse des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC), deren Konsens¬charakter sie hervorhebt: „These projections are backed up by scientific facts, concluded by all nations through the IPCC. Nearly every single major national scientific body around the world unreservedly supports the work and findings of the IPCC.” (ebd.: 37)
Diese Rhetorik scheint auf den ersten Blick dem von Bogner (2021) beschriebenen Muster der Epistemisierung zu entsprechen. Die klimawissenschaftliche Konsensexpertise kommt dem Status einer objektiven Wahrheit nahe und scheint eine alternativlose und somit zwangsähnliche Wirkung auf die politische Entscheidungsfindung ausüben zu wollen. Insbesondere die Ablehnung des parteipolitischen Widerstreits partikularer Interessen und Werte zugunsten einer konsensuellen Umsetzung klimawissenschaftlicher Erkenntnisse kann als Angriff auf die liberal-pluralistische Demokratiekonzeption Bogners gesehen werden, die auf der Aushandlung pluraler Positionen – klassischerweise vermittelt über politische Parteien (Caramani 2017: 57) – im offenen Diskurs beruht. Die oben dargestellte demokratietheoretische Kritik an Thunbergs Rhetorik scheint somit zunächst berechtigt (s. insb. Evensen 2019; Hanusch/Meisch 2022; Zulianello/Ceccobelli 2020).
Der argumentative Rückgriff auf die Erkenntnisse des IPCC zeichnet jedoch ein differenzierteres Bild. Hinsichtlich einer vermeintlichen Zwangswirkung seiner Befunde ist zu berücksichtigen, dass das IPCC angehalten ist, eine präskriptive Bevormundung der Politik zu vermeiden. Um als politisch legitim wahrgenommen zu werden, entwirft das IPCC mit den verschiedenen Erwärmungsszenarien multiple klimapolitische Zielsetzungen und Handlungsoptionen. Es informiert über potenzielle Folgen und Risiken der Szenarien, überlässt ihre Bewertung und Auswahl jedoch der Politik. In demokratischen Gesellschaften können die wissenschaftlichen Erkenntnisse des IPCC somit als informierendes Angebot an den politischen Diskurs und die demokratische Willensbildung verstanden werden, in der gemäß einer genuin politischen Logik divergierende Interessen und Werte zum Tragen kommen können (Beck 2011: 249; IPCC 2010; Simonis 2018: 422-428). Thunberg lässt erkennen, dass sie diese Offenheit des politischen Prozesses anerkennt und dem klimawissenschaftlichen Expertenkonsens keine bestimmte politische Maßnahme zu entlehnen sucht. Dies verdeutlicht ihr weitläufiger Verzicht auf konkrete politische Handlungsempfehlungen: „We say that all those solutions needed are not known to anyone and therefore we must unite behind the science and find them together along the way.“ (Thunberg 2021a: 40) Auch deutet Thunbergs Argumentation an, dass sie den klimawissenschaftlichen Expertenkonsens nicht als eine objektive Wahrheit missversteht: „No matter how insufficient they [climate science] may be […] – they are still the most reliable roadmap we have to safeguard the future living conditions for human kind.” (ebd.: 83) Ihr vehementer Aufruf an die Politik, sich hinter dem klimawissenschaftlichen Konsens zu vereinen, kann vor diesem Hintergrund als Versuch gewertet werden, den polarisierten und zu Postfaktizität neigenden Klimastreit (s. z.B. Beck 2011: 244f; Brulle 2022) auf den Boden der geteilten Kommunikationsgrundlage des Wissens zurückzuführen. Diese macht Bogner (2021) zufolge eine produktive Problembearbeitung im demokratischen Diskurs erst möglich. Da sich die global auftretenden, interdependenten Risiken und Folgen des Klimawandels der unmittelbaren Wahrnehmung entziehen, ist die Politik zudem in besonderem Maße auf wissenschaftliche Erkenntnisse angewiesen (Beck 2011: 240). Auch Bogner stellt nicht in Frage, dass eine „vernünftige und verantwortungsbewusste Klimapolitik“ (2021: 27) auf wissenschaftliche Expertise angewiesen ist. Die klimawissenschaftliche Konsensexpertise erfüllt in diesem Sinne die Funktion eines überindividuellen Referenzrahmens, der als Grundlage eines produktiven demokratischen Diskurses dient und durch die Mobilisierung von alternativen Fakten und Pseudoexpertise in Frage gestellt wird. Der Rückbesinnung auf den Referenzrahmen des Wissens über Parteigrenzen hinweg kann mit Bogner somit ein demokratiestärkendes Motiv zugeschrieben werden. Die Information politischer Entscheidungen entlang des klimawissenschaftlichen Kenntnisstands ist dabei nicht mit einer deterministischen Zwangswirkung gleichzusetzen, da über die politische Umsetzung und Ausgestaltung von Klimaschutzmaßnahmen zunächst nichts gesagt ist (s. auch Stehr/Ruser 2018: 26).

4.2 Der Wissenskonflikt: Zur Verschleierung rivalisierender Werte im Klimastreit

Im Wissenskonflikt bleiben konkurrierende Werte und Interessen weitgehend implizit, da die wissenschaftliche Expertise als überlegene Legitimationsgrundlage und Garant einer rational richtigen Politik gilt. Dieses von Bogner (2021) beschriebene Muster der Epistemisierung ist in der Klimapolitik verbreitet (Beck 2011; Swyngedouw 2011) und findet sich auch in Thunbergs Argumentation. Thunberg nutzt in ihren Reden den Rekurs auf die Wissenschaft, um Legitimität zu generieren (Hanusch/Meisch 2022: 12) und ihre Forderungen nach einer ambitionierteren Klimapolitik zu begründen. Zwar leitet sie aus dem klimawissenschaftlichen Konsens keine konkreten Handlungsempfehlungen her, sie spricht sich jedoch für das politische 1,5°C-Ziel des Pariser Klimaabkommens aus und sieht zu dessen Erreichung einen akuten, wissenschaftlich begründeten Handlungsbedarf (Thunberg 2021a: 56ff): „We […] demanded that the people in power would listen to and act on the science.” (ebd.: 62) Gleichzeitig grenzt sie sich gezielt vom Anschein der Subjektivität ab: „These numbers are not my opinions. They aren’t anyone’s opinions or political views. This is the current best available science.” (ebd.: 56) Diese Argumentationsweise erweckt den Eindruck, der Grund für den postulierten klimapolitischen Handlungsbedarf sei in der wissenschaftlichen Konsensexpertise zu finden. Thunbergs Argumentation liegen jedoch implizite Werte- und Interessensorientierungen zugrunde; neben Aspekten der intergenerationellen Gerechtigkeit bezieht sie sich auf den Wert des menschlichen Lebens und der natürlichen Umwelt (ebd.: 10f, 54-59, 61, 66): „For the sake of your children, for the sake of your grandchildren. For the sake of life and this beautiful living planet. I ask you to stand on the right side of history.” (ebd.: 10f) Darüber hinaus ist auch der Aspekt der globalen Klimagerechtigkeit in ihren Reden präsent:
„That means that richer countries need to do their fair share and get down to zero emissions much faster, so that people in poorer countries can heighten their standard of living, by building some of the infrastructure that we have already built. Such as roads, hospitals, schools, clean drinking water and electricity.” (ebd.: 56)
Diese normativen und distributiven Aspekte sind es, die den von Thunberg identifizierten klimapolitischen Handlungsbedarf letztlich begründen. Die Klimawissenschaft zeigt die potenziellen Risiken und Folgen des Klimawandels im Falle verschiedener Erhitzungsszenarien auf; wie diese zu bewerten sind und inwiefern ein politischer Handlungsbedarf wahrgenommen wird, entscheidet sich auf Grundlage von werte- und interessenbasierten Orientierungen (Bogner 2021; s. auch Evensen 2019; Stehr/Machin 2019: 144ff). Thunbergs Rhetorik lässt diesbezüglich mit den Aspekten der globalen und intergenerationellen Gerechtigkeit eine Nähe zu etablierten Konzepten der Klimagerechtigkeit erkennen, die im Klimastreit zunehmend relevant werden (Caney 2018; Emilsson et al. 2020: 3; Tremmel 2011). Da der politische Handlungsbedarf in Thunbergs Rhetorik jedoch primär mit klimawissenschaftlichen Erkenntnissen begründet wird und werte- und interessenbasierte Argumente in den Hintergrund rücken, verkürzt Thunberg den Klimastreit in einer für die Wissensgesellschaft typischen Weise auf wissenschaftliche Daten und Fakten – anstelle eines wissenschaftlich informierten Wertekonflikts verharrt der Klimastreit in der wissenschaftlich dominierten Logik des Wissenskonflikts (Bogner/Menz 2021). Die Betonung des klimawissenschaftlichen Expertenkonsens erzeugt dabei den Anschein eines wissenschaftlich begründeten Handlungszwangs und reproduziert den Anreiz einer polarisierten und zu Postfaktizität neigenden Streitkultur, da Bogner (2021) zufolge die Gegner:innen einer ambitionierten Klimapolitik in der Logik des Wissenskonflikts dazu tendieren, ihre rivalisierenden Werte und Interessen unter dem Deckmantel (pseudo-)wissenschaftlicher Argumente zu artikulieren. Somit ist es weniger die Forderung „Listen to the united science“, die den demokratietheoretisch problematischen Anschein des Zwangscharakters wissenschaftlicher Tatsachen begründet, sondern vielmehr die weitgehend implizite Verwendung der Werteebene sowie die primäre Begründung des politischen Handlungsbedarfs mit konsenswissenschaftlichen Daten und Fakten. Thunbergs Rhetorik ist jedoch in den Kontext eines bereits zuvor stark epistemisierten Klimadiskurses zu stellen (Beck 2011; Svensson/Wahlström 2021: 3). Dafür spricht, dass die protestierenden Kinder und Jugendlichen für ihre vermeintlich fehlende (wissenschaftliche) Sachkenntnis kritisiert wurden (Marquardt 2020: 10, 12). Thunbergs Wissenschaftsfokussierung kann somit auf den in der Wissensgesellschaft allgegenwärtigen Verwissenschaftlichungsdruck zurückgeführt werden.

4.3 Bekenntnisse zu Demokratie und Interessenpluralisierung

Im Klimastreit wird neben der klimawissenschaftliche Konsensexpertise auch der argumentative Rekurs auf die Erkenntnisse anderer wissenschaftlicher Disziplinen genutzt, um Einfluss auf die politische Entscheidungsfindung zu nehmen und den Anschein politischer Alternativlosigkeit zu erzeugen. Insbesondere wirtschaftswissenschaftliche Erkenntnisse entfalten eine politisch handlungsanleitende Wirkung, indem klimapolitische Entscheidungen auf Basis wirtschaftswissenschaftlicher Daten getroffen sowie an ökonomischen Werten von Effizienz und kurzfristigem Wirtschaftswachstum orientiert werden (Honnacker 2020: 147; Meckling/Allan 2020; Töller et al. 2021: 288). Mit Bogner (2021) ist anzunehmen, dass auch ökonomische Expertise im politischen Diskurs instrumentalisiert wird, um implizite Interessen und Werte zu verschleiern. So haben Vertreter:innen der fossilen Industrie gezielt (pseudo-)wissenschaftliche ökonomische Studien produziert und eingesetzt, um ihre partikularen Profitinteressen zu legitimieren (Brulle 2022). Die politische Einflussnahme ökonomischer Verursacherinteressen zur Verhinderung ambitionierter Klimaschutzmaßnahmen ist zudem besser etabliert als die klimawissenschaftlich orientierte zivilgesellschaftliche Einflussnahme zu ihrer Unterstützung (Gullberg 2008). Dies ist gemäß der Logik des kollektiven Handelns (Olson 1965) darauf zurückzuführen, dass die klimaschutzverhindernden ökonomischen Interessen einer begrenzten Anzahl Nutznießer:innen leichter zu organisieren und artikulieren sind, als die klimaschutzbefürwortenden Interessen einer großen, global zerstreuten Anzahl Nutznießer:innen (Töller et al. 2021: 285). Hinzu kommt, dass die Interessen künftiger Generationen im politischen Prozess nicht repräsentiert sind (Caney 2019: 9; Honnacker 2020: 148). Indem Thunberg die Werte und Interessen dieser unterrepräsentierten Gruppen im Rekurs auf die Klimawissenschaft vertritt, trägt sie zu einer Pluralisierung des politischen Diskurses bei (s. auch Wong 2016: 146). Bogner (2021) begreift den offenen Widerstreit pluraler Positionen als nötiges Korrektiv zur Erzielung gemeinwohlorientierter Kompromisslösungen im demokratischen Prozess. FFF kann somit über die (implizite) Artikulation marginalisierter Werte und Interessen ein demokratiestärkendes Potenzial zugeschrieben werden.
Darüber hinaus bekennt sich Thunberg explizit zur Regierungsform der Demokratie. Sie ruft in ihren Reden zur Wahlbeteiligung und politischen Partizipation auf, um die Politik durch öffentlichen Druck zur Verantwortung zu ziehen (Thunberg 2021a: 31, 72, 77, 88), und begreift die Demokratie als Voraussetzung, den von ihr eingeforderten Wandel hin zu einer ambitionierten Klimapolitik gesellschaftlich realisieren zu können:
“I am telling you there is hope. […] People are ready for change. And that is the hope because we have democracy. […] In fact, every great change throughout history has come from the people. We do not have to wait. We can start the change right now. We, the people.” (ebd.: 77)
Auch die Protestierenden betrachten die Demokratie trotz ihrer Schwächen als beste Regierungsform. Die hohe Zustimmung zur politischen Umsetzung klimawissenschaftlicher Erkenntnisse – im Zweifel auch ohne die mehrheitliche Zustimmung der Bevölkerung – wird dabei weniger auf anti-demokratische Haltungen zurückgeführt, sondern als Zeichen der Verzweiflung gewertet (de Moor et al. 2020b: 27; Sommer et al. 2020: 36; Wahlström et al. 2019b: 17). Die Protestierenden zeichnen sich durch ein hohes Demokratievertrauen aus und begreifen Wahlen und Proteste als wirkungsvolle demokratische Beteiligungsformen mit effektivem Einfluss auf die Politik. Unter den wahlberechtigten Protestierenden ist dementsprechend eine hohe Wahlbeteiligung zu verzeichnen (Neuber et al. 2020: 76, 82; Sommer et al. 2020: 47-54). Wahlen und politische Partizipation gelten in der politischen Theorie als elementare Grundlage einer lebendigen pluralistischen Demokratie (Caramani 2017: 55f; Kaase 2010; Stehr/Ruser 2018: 25), wie sie auch Bogner (2021) seiner Argumentation zugrunde legt. Durch die Prägung einer neuen Generation politisch aktiver Bürger:innen stärkt die FFF-Bewegung diese demokratische Grundlage. Politisches Engagement im Jugendalter erhöht die Wahrscheinlichkeit, im späteren Leben politisch aktiv zu bleiben und motiviert auch ältere Generationen zu politischer Partizipation (Fisher 2019). Somit kann der von Thunberg begründeten FFF-Bewegung auch in dieser Hinsicht ein Potenzial zur Stärkung der pluralistischen Demokratie zugeschrieben werden.

5 Fazit

In der vorangegangenen Analyse konnte entlang der Bogner’schen These von der Epistemisierung des Politischen ein mehrseitiges Bild von den demokratietheoretischen Implikationen der wissenschaftsfokussierten FFF-Forderungen gezeichnet werden, was den Mehrwert des Ansatzes im Vergleich mit anderen Ausführungen zur Epistemisierung der Klimapolitik verdeutlicht (s. z.B. Beck 2011; Invernizzi Accetti 2021; Swyngedouw 2011). Zwar tragen die primäre Begründung des politischen Handlungsbedarfs mit dem klimawissenschaftlichen Konsens und die überwiegend implizite Verwendung der Werteebene zu einer Verhaftung in der Logik des Wissenskonflikts bei und erzeugen den demokratietheoretisch problematischen Anschein eines wissenschaftlich begründeten Handlungszwangs, was die Epistemisierungsthese Bogners zunächst bestätigt. In Übereinstimmung damit kommt Marquardt (2020) zu dem Schluss, dass die starke Wissenschaftsfokussierung des deutschen FFF-Ablegers die techno-zentrische und apolitische Diskursführung zum Klimawandel fortsetze. Auch ist mit Bogner zu argumentieren, dass die Verhaftung in der Logik des Wissenskonflikts den Anreiz zu Postfaktizität und Konsensleugnung seitens der Gegner:innen einer ambitionierten Klimapolitik reproduziert. Die gegenseitige Verstärkung epistemisch-technokratischer und postfaktisch-populistischer Tendenzen ist ein in der politischen Theorie häufig beschriebenes Phänomen (Invernizzi Accetti 2021: 56-62; Moore et al. 2020: 730f). Mit Blick auf den vermeintlichen Zwangscharakter wissenschaftlicher Tatsachen verdeutlicht Thunbergs Argumentation jedoch, dass sie dem Expertenkonsens keine bestimmte politische Maßnahme zu entlehnen sucht, und erkennt somit die Offenheit des politischen Entscheidungsprozesses prinzipiell an. In diesem Sinne kann der Rückbesinnung auf den überindividuellen Referenzrahmen des politisch informierenden, nicht jedoch determinierenden Wissens mit Bogner eine demokratiefördernde Wirkung zugeschrieben werden. Darüber hinaus stärkt die Bewegung mit der Pluralisierung des Diskurses sowie der politischen Partizipation der Jugend die Grundlagen einer lebendigen pluralistischen Demokratie. Die Beantwortung der Frage nach den demokratietheoretischen Implikationen der FFF-Bewegung bedarf somit der Ausdifferenzierung multipler Wirkweisen. Einschränkend ist zu berücksichtigen, dass der Fokus auf die Reden Thunbergs die Aussagekraft der Befunde für die gesamte FFF-Bewegung verringern könnte. Auch mussten einzelne Konzepte Bogners unberücksichtigt bleiben, darunter die Differenzierung zwischen akuten und chronischen Krisen, die somit Ansatzpunkte für Folgestudien bieten.
Hinsichtlich des theoretischen Rahmens ist kritisch anzumerken, dass Bogners Argumentation Gefahr läuft, die bewusste Instrumentalisierung von Fake News und Pseudoexpertise durch opponierende (Verursacher-)Interessen mit der zwangsähnlichen Logik des Wissenskonflikts ungewollt zu rechtfertigen. Sein Ansatz lässt zudem einen expliziten Demokratiebegriff vermissen, der zu einer fundierten Auseinandersetzung mit den demokratietheoretischen Implikationen der Epistemisierung des Politischen jedoch unerlässlich wäre. Auch spielen Lösungswege, die eine demokratiekonforme Einbindung von wissenschaftlicher Expertise in den politischen Prozess ermöglichen könnten, nur eine untergeordnete Rolle (Bogner 2022: 4f; s. z.B. Caney 2019: 10-15; Holst/Molander 2019: 556f; Honnacker 2020: 147-150). Jedoch legt Bogners Argumentation den Schluss nahe, dass zur produktiven Bearbeitung der Klimakrise ein Übergang vom Wissens- in den Wertekonflikt wünschenswert wäre, der eine offene Debatte über die normative Gebotenheit und distributive Ausgewogenheit klimapolitischer Maßnahmen wagt. Dass Thunberg (2021b, 2021c) in ihren jüngsten Reden normativen und distributiven Argumenten einen höheren Stellenwert einräumt, indem sie von unbezahlbaren Werten spricht, die dem Erhalt des ‚Business as usual‘ geopfert werden, und den Aspekt der Klimagerechtigkeit angesichts global ungleicher Vulnerabilität und historischer Verantwortlichkeit betont, lässt eine erfolgreiche Wende hin zu einem normativ differenzierteren Klimadiskurs möglich erscheinen.

Literaturverzeichnis

Beck, Silke (2011): Zwischen Entpolitisierung von Politik und Politisierung von Wissenschaft: Die wissenschaftliche Stellvertreterdebatte um Klimapolitik. In: Schüttemeyer, Suzanne S. (Hrsg.): Politik im Klimawandel. Keine Macht für gerechte Lösungen? Baden-Baden, Nomos, S. 239-258.

Bogner, Alexander (2018): Gesellschaftsdiagnosen. Ein Überblick. 3. überarbeitete Aufl. Weinheim, Beltz Juventa.

Bogner, Alexander (2021): Die Epistemisierung des Politischen. Wie die Macht des Wissens die Demokratie gefährdet. 3. Aufl. Ditzingen, Reclam.

Bogner, Alexander (2022): What Expertise Does Politics Need in Times of Crisis? Notes on the Current Situation in Austria. In: OZP – Austrian Journal of Political Science. Vol. 51, No. 1, S. 1-6.

Bogner, Alexander; Menz, Wolfgang (2002): Wissenschaftliche Politikberatung? Der Dissens der Experten und die Autorität der Politik. In: Leviathan. Vol. 30, No. 3,
S. 384-399.

Bogner, Alexander; Menz, Wolfgang (2021): Wissen und Werte im Widerstreit. Zum Verhältnis von Expertise und Politik in der Corona-Krise. In: Leviathan. Vol. 49, No. 1, S. 111-132.

Bogner, Alexander; Strauß, Stefan (2022): Vom demokratischen Ethos zum digitalen Pathos? Politischer Diskurs in der digitalen Transformation. In: Bogner, Alexander; Decker, Michael; Nentwich, Michael; Scherz, Constanze (Hrsg.): Digitalisierung und die Zukunft der Demokratie. Baden-Baden, Nomos, S. 219-232.

Brulle, Robert J. (2022): Advocating inaction: a historical analysis of the Global Climate Coalition. In: Environmental Politics. URL: https://doi.org/10.1080/096440-16.2022.2058815. Eingesehen am: 08.08.2022.

Caney, Simon (2018): Climate Change. In: Olsaretti, Serena (Hrsg.): The Oxford Handbook of Distributive Justice. Oxford, Oxford University Press, S. 664-688.

Caney, Simon (2019): Democratic Reform, Intergenerational Justice and the Challenges of the Long-Term. Centre for the Understanding of Sustainable Prosperity. URL: https://cusp.ac.uk/wp-content/uploads/11-Simon-Caney-online.pdf. Eingesehen am: 27.07.2022.

Caramani, Daniele (2017): Will vs. Reason: The Populist and Technocratic Forms of Political Representation and Their Critique to Party Government. In: American Political Science Review. Vol. 111, No. 1, S. 54-67.

Emilsson, Kajsa; Johansson, Håkan; Wennerhag, Magnus (2020): Frame Disputes or Frame Consensus? “Environment” or “Welfare” First Amongst Climate Strike Protesters. In: Sustainability. Vol. 12, No. 3(882), S. 1-20.

Evensen, Darrick (2019): The rhetorical limitations of the #FridaysForFuture movement. In: Nature Climate Change. Vol. 9, No. 6, S. 428-430.

Fisher, Dana R. (2019): The broader importance of #FridaysForFuture. In: Nature Climate Change. Vol. 9, No. 6, S. 430-431.

Gullberg, Anne T. (2008): Rational lobbying and EU climate policy. In: International Environmental Agreements: Politics, Law and Economics. Vol. 8, No. 2, S. 161-178.

Hanusch, Frederic; Meisch, Simon (2022): The temporal cleavage: the case of populist retrotopia vs. climate emergency. In: Environmental Politics. URL: https://doi.org/10.10¬80/09644016.2022.2044691. Eingesehen am: 08.08.2022.

Haunss, Sebastian; Sommer, Moritz (2020): Fridays for Future – die Jugend gegen den Klimawandel. Konturen der weltweiten Protestbewegung. Bielefeld, transcript.

Holst, Cathrine; Molander, Anders (2019): Epistemic democracy and the role of experts. In: Contemporary Political Theory. Vol. 18, No. 4, S. 541-561.

Honnacker, Ana (2020): Environmentalism and Democracy. Pragmatist Perspectives on a Precarious Relation. In: European Journal of Pragmatism and American Philosophy. Vol. XII, No. 2, S. 137-158.

Hurrelmann, Klaus; Albrecht, Erik (2020): Fridays for Future als Sinnbild ihrer Generation. In: Haunss, Sebastian; Sommer, Moritz (Hrsg.): Fridays for Future – die Jugend gegen den Klimawandel. Konturen der weltweiten Protestbewegung. Bielefeld, transcript, S. 227-236.

Invernizzi Accetti, Carlo (2021): Repoliticizing Environmentalism: Beyond Technocracy and Populism. In: Critical Review. A Journal of Politics and Society. Vol. 33, No. 1,
S. 47-73.

IPCC – Intergovernmental Panel on Climate Change (2010): Statement on IPCC principals and procedures. URL: https://www.ipcc.ch/site/assets/uploads/2018/04/ipcc-statement-principles-procedures-02-2010.pdf. Eingesehen am: 09.08.2022.

Kaase, Max (2010): Democracy and Political Action. In: International Political Science Review. Vol. 31, No. 5, S. 539-551.

Kelsen, Hans (1963): Vom Wesen und Wert der Demokratie. 2. umgearbeitete Aufl. von 1929. Aalen, Scientia-Verlag.

Marquardt, Jens (2020): Fridays for Future’s Disruptive Potential: An Inconvenient Youth Between Moderate and Radical Ideas. In: Frontiers in Communication, Vol. 5., No. 48. URL: https://doi.org/10.3389/fcomm.2020.00048. Eingesehen am: 08.08.2020.

Meckling, Jonas; Allan, Bentley B. (2020): The evolution of ideas in global climate policy. In: Nature Climate Change. Vol. 10, No. 5, S. 434-438.

Moor, Joost de; Uba, Katrin; Wahlström, Mattias; Wennerhag, Magnus; Emilsson, Kajsa; Johansson, Håkan (2019): Country reports. Sweden. In: Wahlström, Mattias; Kocyba, Piotr; Vyndt, Michiel De; Moor, Joost de (Hrsg.): Protest for a future: Composition, mobilization and motives of the participants in Fridays for Future climate protests on 15 March, 2019 in 13 European cities. URL: https://eprints.keele.ac.uk/6-571/7/20190709_Protest%20for%20a%20future_GCS%20Descriptive%20Report.pdf. Eingesehen am: 22.05.2022. S. 19-31.

Moor, Joost de; Uba, Katrin; Wahlström, Mattias; Wennerhag, Magnus; Vydt, Michiel De (2020a): Protest for a future II. Composition, mobilization and motives of the participants in Fridays For Future climate protests on 20-27 September, 2019, in 19 cities around the world. URL: https://www.diva-portal.org/smash/get/diva2:1397070/FULLTEXT01.pdf. Eingesehen am: 05.07.2022.

Moor, Joost de; Uba, Katrin; Wahlström, Mattias; Wennerhag, Magnus; Vydt, Michiel De; Almeida, Paul; Gharrity Gardner, Beth; Kocyba, Piotr; Neuber, Michael; Gubernat, Ruxandra; Kolczynska, Marta; Rammelt, Henry P.; Davies, Stephen (2020b): Introduction: Fridays For Future – an expanding climate movement. In: Moor, Joost de; Uba, Katrin; Wahlström, Mattias; Wennerhag, Magnus; Vydt, Michiel De (Hrsg.): Protest for a future II. Composition, mobilization and motives of the participants in Fridays For Future climate protests on 20-27 September, 2019, in 19 cities around the world. URL: https://www.diva-portal.org/smash/get/diva2:1397070/FULLTEXT01.pdf. Eingesehen am: 05.07.2022. S. 6-33.

Moor, Joost de; Vydt, Michiel De; Uba, Katrin; Wahlström, Mattias (2021): New kids on the block: taking stock of the recent cycle of climate activism. In: Social Movement Studies. Vol. 20, No. 5, S. 619-625.

Moore, Alfred; Invernizzi Accetti, Carlo; Markovits, Elizabeth; Pamuk, Zeynep; Rosenfeld, Sophia (2020): Beyond populism and technocracy: The challenges and limits of democratic epistemology. In: Contemporary Political Theory. Vol. 19, No. 4, S. 730-752.

Murphy, Patrick D. (2021): Speaking for the youth, speaking for the planet: Greta Thunberg and the representational politics of eco-celebrity. In: Popular Communication. Vol. 19, No. 3, S. 193-206.

Neuber, Michael; Kocyba, Piotr; Gharrity Gardner, Beth (2020): The same, only different. Die Firdays for Future-Demonstrierenden im europäischen Vergleich. In: Sebastian Haunss; Sommer, Moritz (Hrsg.): Fridays for Future – die Jugend gegen den Klimawandel. Konturen der weltweiten Protestbewegung. Bielefeld, transcript, S. 67-93.

Olson, Mancur (1965): The logic of collective action. Public goods and the theory of groups. Cambridge, Harvard Univ. Press.

Simonis, Georg (2018): Klimaprognose und politische Macht. Annäherung an ein komplexes Verhältnis. In: PERIPHERIE. Vol. 38, No. 152, S. 416-449.

Sommer, Moritz; Haunss, Sebastian; Gharrity Gardner, Beth; Neuber, Michel; Rucht, Dieter (2020): Wer demonstriert da? Ergebnisse von Befragungen bei Großprotesten von Fridays for Future in Deutschland im März und November 2019. In: Haunss, Sebastian; Sommer, Moritz (Hrsg.): Fridays for Future – Die Jugend gegen den Klimawandel. Konturen der weltweiten Protestbewegung. Bielefeld, transcript, S. 15-66.

Sorce, Giuliana (2022): The “Greta Effect”: Networked Mobilization and Leader Identification Among Fridays for Future Protesters. In: Media and Communication. Vol. 10, No. 2, S. 18-28.
Stehr, Nico; Machin, Amanda (2019): Gesellschaft und Klima. Entwicklungen, Umbrüche, Herausforderungen. Weilerswist, Velbrück.

Stehr, Nico; Ruser, Alexander (2018): Climate Change, governance and knowledge. In: Scavenius, Theresa; Rayer, Steve (Hrsg.): Institutional capacity for climate change. A New Approach to Climate Politics. London, Routledge, S. 15-30.

Svensson, Anders; Wahlström, Mattias (2021): Climate change or what? Prognostic framing by Fridays for Future protesters. In: Social Movement Studies. URL: https://doi.org/10.1080/14742837.2021.1988913. Eingesehen am: 08.08.2022.

Swyngedouw, Erik (2011): Climate Change as Post-Political and Post-Democratic Populism. In: Schüttemeyer, Suzanne S. (Hrsg.): Politik im Klimawandel. Keine Macht für gerechte Lösungen? Baden-Baden, Nomos, S. 65-80.

Thunberg, Greta (2021a): No one is too small to make a difference. London, Penguin Books.

Thunberg, Greta (2021b): Greta Thunberg’s Full Keynote Speech at Youth4Climate Pre-COP26. Doha Debates. https://www.youtube.com/watch?v=n2TJMpiG5XQ. Eingesehen am: 05.08.2022.

Thunberg, Greta (2021c): Greta Thunberg full speech from Glasgow COP26 or “Global North Greenwash Festival”. FridaysForFuture. https://www.youtube.com/watch?-v=uBL7td5sozk. Eingesehen am: 05.08.2022.

Töller, Annette E.; Blum, Sonja; Böcher, Michael; Loer, Kathrin (2021): The lesson learned from COVID-19 and the climate crisis is not to let experts decide on policies: a response to Robert C. Schmidt. In: Journal of Environmental Studies and Sciences. Vol. 12, No. 2, S. 284-290.

Tremmel, Jörg (2011): Klimawandel und Gerechtigkeit. In: Schüttemeyer, Suzanne S. (Hrsg.): Politik im Klimawandel. Keine Macht für gerechte Lösungen? Baden-Baden, Nomos, S. 127-158.
Wahlström, Mattias; Kocyba, Piotr; Vyndt, Michiel De; Moor, Joost de (2019a): Protest for a future: Composition, mobilization and motives of the participants in Fridays for Future climate protests on 15 March, 2019 in 13 European cities. URL: https://eprints.keele.ac.uk/6571/7/20190709_Protest%20for%20a%20future_GCS%20Des¬criptive%20Report.pdf. Eingesehen am: 22.05.2022.

Wahlström, Mattias; Sommer, Moritz; Kocyba, Piotr; Vydt, Michiel De; Moor, Joost de; Davies, Stephen (2019b): Fridays For Future: a new generation of climate activism. Introduction to country reports. In: Wahlström, Mattias; Kocyba, Piotr; Vyndt, Michiel De; Moor, Joost de (Hrsg): Protest for a future: Composition, mobilization and motives of the participants in Fridays for Future climate protests on 15 March, 2019 in 13 European cities. URL: https://eprints.keele.ac.uk/6571/7/20190709_Protest%20for%20a%-20future_GCS%20Descriptive%20Report.pdf. Eingesehen am: 22.05.2022. S. 6-18.

Wong, James K. (2016): A Dilemma of Green Democracy. In: Political Studies. Vol. 64, No. 1S, S. 136-155.
Zulianello, Mattia; Ceccobelli, Diego (2020): Don’t Call it Climate Populism: On Greta Thunberg’s Technocratic Ecocentrism. In: The Political Quarterly. Vol. 91, No. 3,
S. 623-631.

Fridays for Future, Klimapolitik