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Tobias Dumschaft / Carmen Krämer / Raphaela Kell: Gemeinsame Fürsorge und Pflege in ländlichen Regionen – Lösungen jenseits von Markt und Staat

Die Grundlage unserer Arbeit in der RRA ist die nüchterne Analyse der Pflegesituation in Deutschland. Wir müssen klar vor Augen haben, wo wir stehen und von hier aus können wir begründete neue Wege beschreiten. Dieser Artikel hat das Ziel den Grundstein für weitere Handlungen zu legen und bereits erste Lösungswege zu skizzieren. Wir möchten mit den Menschen diskutieren und möchten mit den Menschen in Berührung kommen. Denn Kontakt und Verbundenheit sind Grundbedürfnisse des Menschen, egal ob jung oder alt, ob Stadt oder Land.

Die Pflegewirklichkeit in Deutschland

Im Jahr 2060 wird in Deutschland jeder vierte Mensch über 60 Jahre alt sein.[1] Die steigende Lebenserwartung einerseits und die niedrige Geburtenrate in Deutschland andererseits machen eine Versorgung von pflegebedürftigen Menschen zum gesamtgesellschaftlichen Dilemma. Die Konsequenzen der Veränderungen im Altersaufbau der deutschen Bevölkerung werden „als dramatisch“[2] beurteilt, denn die aktuelle Bevölkerungsstruktur weicht von einem pyramidenförmigen Altersaufbau ab. Die Generation der sog. Babyboomer (Jahrgänge 1950-1965) dominiert den Bevölkerungsaufbau. Sie werden in den nächsten 20-30 Jahren in den oberen Bereich der Alterspyramide wechseln.[3] Kurz gesprochen: In Zukunft wird es zu wenig jüngere Menschen zur Versorgung der vielen älteren Menschen geben.

Die pflegerische Versorgung von Menschen ist aber nicht nur ein Problem der weiten Zukunft, sondern hat sich bereits heute inmitten der deutschen Gesellschaft manifestiert:[4] Im Vergleich zum Jahr 1991 verdoppelte sich die Anzahl der Menschen mit über 85 Lebensjahren von 1,2 Millionen auf 2,4 Millionen Menschen im Jahr 2019.[5] Aus diesem Grund steigt auch die Prognose der Pflegebedürftigkeit, weil ein starker Zusammenhang zwischen Alter und Pflegefallrisiko vorhanden ist.[6] Gesundheitsminister Jens Spahn ist zuzustimmen, wenn er sagt: „Pflege ist die soziale Frage der 20er Jahre.“[7] Denn vor dem Hintergrund der amtlichen Statistik drängt sich die unvermeidliche Frage auf, wie die Menschen heute und in Zukunft das Zusammenleben einer alternden Gesellschaft zu gestalten vermögen.

Die starke Alterung der deutschen Bevölkerung geht nicht nur mit einem steigendem Pflegebedarf einher, sondern auch mit der sinkenden Verfügbarkeit von professionellem Pflegefachpersonal.[8] Ein Großteil des Pflegepersonals ist heute zwischen 50 und 60 Jahren alt[9], sodass in den nächsten 10-20 Jahren viele Pflegende in den Ruhestand gehen und nicht mehr als Arbeitskräfte zur Verfügung stehen können. Ebenso hat der Berufsstand der professionellen Pflege als solcher fundamentale Probleme: Es gibt einen ausgewiesenen Fachkräftemangel,[10] die Bezahlung ist unterdurchschnittlich,[11] und die Krankheitsanfälligkeit in der Pflege ist signifikant höher als in allen anderen Berufen.[12] Zwar wird der Pflegeberuf seit diesem Jahr durch eine generalistische Ausbildung reformiert, um den Pflegeberuf für jüngere Menschen attraktiver zu machen,[13] aber auch hier sind keine Voraussagen zu treffen, dass diese Initiative erfolgreich sein wird. Zusätzlich wirbt Bundesgesundheitsminister Jens Spahn weiter Fachkräfte aus Kosovo und Philippinen an.[14]

Vor dieser nüchternen Analyse der Pflegesituation in Deutschland, erhebt sich die Frage, ob es Anzeichen einer gesunden Entwicklung sind, wenn eine Gesellschaft in eine solche Schieflage gerät und darum bangen muss, seine Menschen im Alter unter würdevollen Bedingungen zu versorgen.

Versorgungsengpässe in ländlichen Regionen

Die oben geschilderte Sachlage bezieht sich auf die allgemeinen Versorgungsengpässe in der gesamten Bundesrepublik Deutschland. Regionale Besonderheiten spielten bisher keine Rolle. Doch gerade mit dem Fokus auf ländliche Regionen in Deutschland verschärft sich die Problematik weiter. Ob eine Versorgung von älteren Menschen in Zukunft gelingt, wird auf dem Land entschieden werden. Denn diese sehen sich vor einem stärkeren Anstieg des Pflegebedarfs gestellt als die städtischen Regionen.[15] Die Pflegesituation auf dem Land ist aus zwei Gründen von besonderer Bedeutung: Erstens steigt die Altersstruktur der Menschen in ländlichen Regionen überproportional im Vergleich zur Stadtbevölkerung und zweitens ist die medizinische und pflegerische Versorgung auf dem Land problematischer, da sich die Versorger meist in Stadtgebieten sammeln.[16]

Der größte Anteil der Menschen wird sowohl auf dem Land als auch in den Städten heute noch zuhause gepflegt;[17] die informelle familiäre Pflege ist somit immer noch der „größte Pflegedienst der Nation“[18]. Tendenziell zeigt sich allerdings die Ausrichtung auf die professionelle stationäre Pflege. Die Gründe dafür liegen in den hohen Anforderungen und Belastungen der pflegenden Angehörigen, in den sich verändernden Haushaltsstrukturen (weniger Dreigenerationenhaushalte, instabile Paarbeziehungen, Erwerbstätigkeit der Frauen) und in der sinkenden Pflegebereitschaft in Familien. Das familiäre Unterstützungsnetzwerk im Sinne des informellen Pflegepotentials kommt damit an seine Grenzen;[19] wenn das Angebot von Pflegehilfen weiter abnimmt, dann „kommt es im Bereich der ambulanten häuslichen Pflege zu einer Versorgungslücke.“[20] Die familiäre Pflege ist – besonders in ländlichen Gebieten – die tragende Säule in der Pflegeversorgung. Sie ist aber für die Zukunft keinesfalls sichergestellt, denn das Angebot informeller Pflege ist geringer als der zukünftige Bedarf.[21]

Grundlegende Fragestellung aus der Problematik der Pflegeversorgung

Die oben beschriebene Problemlage ist nicht unbekannt und bereits ausreichend beschrieben. Nur Lösungswege wurden bisher unzureichend identifiziert. Mit der Pflegereform 2021 möchte die Bundesregierung die Pflegesituation verbessern: Der Eigenanteil für die stationäre Pflege in Heimen soll gedeckelt werden, pflegende Angehörige sollen eine finanziell bessere Unterstützung erhalten und die Bezahlung im Pflegeberuf soll angehoben werden.[22] Auch der Markt reagiert auf die Herausforderungen. Eine große Hoffnung der Industrie liegt im Fortschritt der Technologie durch moderne Pflegetechnik und -roboter.[23]

Hier stellt sich die Frage, ob eine staatlich-finanzielle Hilfe und technologischer Wandel durch die Industrie die einzigen Lösungen sein können bzw. sein sollten. Zentralistische Ansätze neigen dazu die besonderen Gegebenheiten in den Kommunen und den Menschen als Individuum nicht ausreichend berücksichtigen zu können. Zweifelsfrei müssen beide Akteure, Markt und Staat, zur Lösung des Problems der Pflegeversorgung beitragen. Da sie das Problem aber bisher nicht vollständig lösen konnten und auch für die Zukunft zu viele Fragen offen sind, benötigt die Gesellschaft – gerade in ländlichen Regionen – alternative Wege.

Die Hypothese an dieser Stell ist, dass dezentrale Ansätze die individuellen und lokalen Bedürfnisse, neben Markt und Staat, unterstützend befriedigen und deshalb eine essenzielle Teillösung des Gesamtproblems darstellen. Vor dem Hintergrund der Versorgungsschwierigkeiten im ländlichen Raum, lautet die leitende soziale Frage für Praxis und Theorie deshalb: Wie können resiliente, nachhaltige und dezentrale Strukturen in der ländlichen Versorgung von pflegebedürftigen Menschen geschaffen werden, um die Versorgungsengpässe zu minimieren?

Dezentrale Lösung: Commons

Ein Lösungsansatz sind „Commons“. Die Politikwissenschaftlerin Elinor Ostrom hat für die Erforschung der Commons 2009 den Wirtschaftsnobelpreis erhalten.[24] In ihren Betrachtungen liegt der Fokus auf Gemeinressourcen (sog. CPRs: „common pool ressources“) und sie stellt die Frage, wie Menschen jenseits von Markt und Staat, mit gemeinsamen Naturressourcen ökologisch und sozial nachhaltig wirtschaften.[25] Die zugrundeliegende Idee der Commons transzendiert allerdings das Denken um die reine Organisation von Naturressourcen: “Commons sind lebendige soziale Strukturen, in denen Menschen ihre gemeinsamen Probleme in selbstorganisierter Art und Weise angehen.“[26] Die Elemente für Commons sind materielle Ressourcen, Menschen in Gemeinschaften und ein regulatorischer Rahmen.[27] Im Fokus dieser Form der Vergesellschaftung steht das Gemeinsame, eben das „was wir teilen, gemeinsam produzieren und gemeinsam regeln.“[28] Solidarische Landwirtschaft, Fab Labs, Open-Source-Software und Urban Gardening sind bekannte Beispiele für Commons. Natürlich sind die meisten Commonsstrukturen in Markt und Staat eingebettet, da sie nicht unabhängig von ihnen bestehen können. Commons bringen allerdings eine neue Dimension hinzu: Sie schaffen soziale Lösungen, die sowohl die Bedürfnisse des einzelnen Menschen als auch die Potentiale und Begrenztheit einer Gemeinschaft beachten. Auch soziale Gemeingüter wie die Gesundheits- und Pflegeversorgung können daher von Gemeinschaften selbst organisiert und erhalten werden.[29]

Unser Anliegen

Wir möchten in Kooperation mit den Menschen vor Ort erforschen, ob in ländlichen Regionen commonsartige Strukturen, d.h. sozial lebendige Netzwerke, vorhanden sind, und wenn ja, wie diese Muster implizit und explizit beschaffen sind. Neben der Markierung informeller sozialen Strukturen soll es andererseits auch darum gehen, neue Wege sichtbar zu machen und die Diskussion um eine „Gemeinsame Fürsorge und Pflege in ländlichen Regionen“ zu eröffnen, weil alternative Wege zur Lösung des Pflegeproblems zwingend notwendig sind.

Partizipation und Autonomie sind für diesen gemeinschaftlichen Prozess entscheidend. Jede Region hat ihre spezifische Beziehungs- und Bevölkerungsstruktur und muss im internen und überregionalen Austausch kreative und innovative Lösungen finden. Durch den Prozess der Selbstorganisation wird Selbstwirksamkeit erfahren und Selbstermächtigung erreicht. Politische, soziale und individuelle Teilhabe wird durch das gemeinsame Schaffen am Beispiel der Pflege zu einem inhärenten Teil des alltäglichen Lebens. Die Menschen vor Ort kennen ihre Bedürfnisse und Begrenztheiten und sind unter diesen Nebenbedingungen zur Gestaltung ihres Lebens fähig.

 

Literaturangaben

 

[1][1] Vgl. Destatis (2019), S. 25f.

[2] Krause, J. & Münnich, R. (2019). S. 78.

[3] Vgl. Destatis (2019), S. 19., Vgl. Destatis (2019), S. 26.

[4] Vgl. Destatis (2019), S. 11.

[5] Vgl. Destatis (2020a).

[6] Vgl. Krause, J. & Münnich, R. (2019), S. 85f.

[7] Bundesministerium für Gesundheit (2020).

[8] Vgl. Krause, J. & Münnich, R. (2019), S. 89; Vgl. Schwinger, A. et al. (2020), S.  11f.

[9] Vgl. Drupp, M. & Meyer, M. (2020), S. 29f.

[10] Vgl. Bonin, H. (2020), S. 62ff.

[11] Schmuckern, R. (2020), S. 57f.

[12] Drupp, M. u. Meyer, M. (2020), S. 45.

[13] Bundesministerium für Gesundheit (2020b).

[14] Bundesministerium für Gesundheit (2020c).

[15] Vgl. Krause, J. & Münnich, R. (2019), S. 77.

[16] Vgl. Krause, J. & Münnich, R. (2019), S. 95.

[17] Vgl. Destatis (2020b).

[18] Breinbauer, M. et al. (2019), S. 150.

[19] Vgl. ebd., S. 150f.

[20] Vgl. Breinbauer, M. et al. (2019), S. 152 f.

[21] Vgl. ebd., S. 172f.

[22] Vgl. Bundesministerium für Gesundheit (2020a).

[23] Vgl. Deutscher Ethikrat (2020).; Vgl. Bendel, O. (2018).

[24] Vgl. Ostrom, E. (1990).

[25] Vgl. Helfrich, S. & Bollier, D. (2019), S. 21.

[26] Helfrich, S. & Bollier, D. (2019), S. 20.

[27] Vgl. Helfrich, S. et al. (2009), S. 11.

[28] Helfrich, S. & Bollier, D. (2019), S. 22.

[29] Vgl. Helfrich, S. et al. (2009), S. 7.

Altern, Fürsorge, Ländlicher Raum, Pflege