Gedankenspiel: Aachen, hier ist besetzt.
N. Voth: Stud. RWTH-Aachen
Wilde Graffitis mit politischen Parolen, selbstgezimmerte Fenster. Mit einem Knopfdruck auf die Hausklingel, der nichts als Stille offenbart. Mit diesen Attributen kann man das einzige besetzte Haus in Aachen beschreiben. Es mag unbewohnt erscheinen, doch das laute Bellen, welches aus der zweiten Etage dröhnt, widerspricht dem Anschein. Was hat es damit auf sich, mit diesem geheimnisvollen Haus?
Zugang bekommen nur Freunde… Oder Reporter, die stundenlang klopfen, rufen und friedliche Absichten bekunden. Kein Wunder. Denn betreten geschieht hier auf eigene Gefahr und dort leben sowieso. Die Wände bröckeln auseinander, im Erdgeschoss dringt der Geruch von Baustelle und Schimmel in die Nase, Stücke der maroden Decke und der einst stilvollen Hausfassade liegen auf dem Boden verteilt. Was dieses Haus noch zusammenhält sind die vier Besetzer, oder auch: die vier Säulen des Hauses.
Umso überraschender wirkt im Vergleich das Zimmer von einer Besetzerin, die Anna B. genannt werden möchte. Ihr Zimmer ist geziert von hypnotisierenden Bildern, die mit Graffiti besprüht und fluoreszierendem Garn umwebt sind. Sie ist Künstlerin. An der rechten Zimmerwand steht ein Yamaha Clavinova Klavier. Links befindet sich eine hufeisenförmige, marineblaue Couch auf der Anna gerade sitzt und isst. Annas großer, brauner Hund Wolfo, ein Rhodesian Ridgeback, fiept sie herzzerreißend an, um ihr Mitleid zu erregen, damit sie ihren Gyrosteller mit ihm teilt.
„Nein Wolfo! Futter erstmal deinen Napf auf.“ Wimmelt Anna ihn ungerührt ab.
An einem der heißesten Juli Tage 2017 gießt Anna B. auf der Dachterrasse Minze, Tomaten, Nelken und vielerlei Gewächs. Sie trägt eine knallbunte und wild gemusterte Pumphose, die bequem und frei bis zu ihren Waden runterhängt. Nach stundenlangem Putzen, Müll entsorgen und Umdekorieren tropft der Schweiß von Ihrem Kinn auf den Boden. Ein kurzer Moment der Ruhe. Dann hört sie, wie hinter ihr jemand ihren Namen ruft. Die weibliche Stimme wird immer deutlicher, bis auf einmal das zur Stimme passende Gesicht über dem Geländer der Brüstung auftaucht: „Anna, sagmal bist du taub? Ich rufe dich an und rufe dich laut – Keine Antwort! Wir wollten doch zusammen kochen!“
„Ach, aloha liebste Hannah! Auf LSD vergeht die Zeit einfach zu schnell… Und du kommst malwieder über den Haupteingang?“
„Ist dein Trip ansteckend oder sieht’s hier wirklich so gut aus?“
„Gefällt’s dir echt? Der weise Riesenindianer meint du lügst.“
„Ich bin echt zu hungrig für dieses Gespräch, komm wir gehen kochen!“
„Na gut. Aber Häuptling graues Zebra isst mit!“
Das besetzte Haus wird als Kurort bei Drogenabhängigkeit genutzt.
Anna erzählt nüchtern, dass ein Drogenrausch ihr gut täte, solange er die Ausnahme bleibt. Was LSD angeht, das würden viele große Künstler zur Steigerung ihrer Inspiration nehmen. Sie nennt Jim Morrison, Ken Kesey und die Beach Boys.
„Welche Drogen dürfen hier konsumiert werden und welche nicht?“
„Heroin, Kokain, Meth und Crack gehen gar nicht!
Gras, Tabak, LSD, Alkohol, XTC und Pilze sind okay.“
„Was wenn jemand hier leben möchte, aber von den „schlimmen Drogen“ abhängig ist?“
„Kalter Entzug. Musste ich auch schon durch. Ist die Hölle, aber alle helfen mit.“
In Aachen gibt es nicht nur ein besetztes Haus, sondern auch eine besetzte öffentliche Fläche.
Acht junge Männer reißen mit vereinten Kräften einen Bauzaun aus der Erde. Kurz darauf baut der Ingenieur der Gruppe aus Palettenholz ein Hochbeet, setzt sich hin und werkelt mit Hammer, Schanieren, Schrauben, Nägeln und noch mehr Palettenholz eine Sitzbank zusammen. Die anderen lockern vorsichtig die Erde mit Schaufeln und Harken auf, um Grünsaat zu verteilen.
So wurde die Grünfläche am Martin Luther Haus besetzt, der Anfang des Gemeinschaftsgartens. In diesem Haus fassten sie einstimmig den Entschluss, Staatseigentum zu besetzen.
20:30 Uhr, Frühling 2013. Tobias W. schleicht sich heimlich hinter einen Lidl, um zu containern. Leise klettert er über den Holzzaun, wie er es schon viele male getan hat. Doch als er diesmal auf dem Boden landet, sieht er dort drei dunkel gekleidete Männer, die ihn verblüfft mustern. Ruckartig klettert er zurück über den Zaun, wobei seine langen, rabenschwarzen Haare zwischen zwei Zaunpfeilern stecken bleiben. Sein Gesicht nimmt eine rötliche Färbung an, als die Männer im Hinterhof leise zu lachen beginnen. „Beruhige dich, Dude! Wir wollen auch nur Essen.“ So lernten sich vier der acht Gründer des Gemeinschaftsgartens „Hirschgrün“ kennen.
Anfang August 2017, Morgenröte taucht die zahllosen Wasserperlen auf dem hirschgrünen Gewächs in einen feurigen Schimmer. Clara, Effi und Tobias ernten stolz fünf Kilo Kartoffeln, die sie im Frühjahr gesät haben. Drei Kilo nehmen sich die drei Naturfreunde selber mit, ein Kilo packen sie in den Food-Sharing Schrank. Dieser ist randvoll mit Brot und Kartoffeln, aber auch Erdbeeren, Obst und Gemüse sind dabei. Solche Foodsharing-Schränke sind mehrfach in Aachen verteilt. Tag für Tag erfreuen sich Menschen, die nur wenige Lebensmittel zur Verfügung haben, am Überfluss der anderen. Clara erzählt ganz aufgelöst: „In Deutschland werden täglich unzählige Tonnen an Essen weggeworfen, während Menschen hungern. Dabei ist es doch so leicht zu teilen!“
Zwei Monate befanden sich die Hobby Stadtgärtner im Streit mit der Stadt, um die Grünfläche nutzen zu können, ohne Ergebnis. Daher legten sie einfach los.
Vier Jahre und vielerlei Klagen der Stadt später blüht und lebt Mensch mit Pflanze friedlich zusammen. Die acht Freunde schlossen einen Pachtvertrag mit der Stadt Aachen, beziehen umsonst Storm von den Stadtwerken Aachen und arbeiten nun an weiteren Projekten wie z.B. einer Gemeinschaftswerkstatt.
Die meisten Besetzungen finden den Weg an die Öffentlichkeit, weil sie die Aufmerksamkeit auf die einerseits steigenden Mieten lenken wollen, die mit der steigenden Bevölkerungsdichte im Okzident einhergehen, andererseits stehen deutschlandweit über 2 Millionen Wohnräume leer. Im Gegensatz dazu gibt es laut Bundesregierung 335.000 Obdachlose, wobei die Zahl seit 2010 um 35 % gestiegen ist. Politisches Ziel vieler Besetzer ist die Abschaffung staatlicher Sanktionen gegen Bewohner leerstehender Behausungen, manche fordern sogar freien Wohnraum für alle. Die Stadt Aachen hat diesen Missstand längst erkannt und verhängt dem Eigentümer bei Zweckentfremdung von Wohneigentum oder längerem Leerstand bis zu 50.000€ Strafe.
Rechtlich gesehen ist es verboten in dem ungefähr 100 Jahre alten Haus zu leben, geschweige denn es zu vermieten. Dennoch ist es seit 2010 durchgehend bewohnt worden. Der erste Besetzer war ein heroinabhängiger Hutdesigner, der sich kurzerhand, als er auf der Suche nach einer Bleibe war, heimlich im Haus einquartierte. Seitdem folgen stetig neue Mitbewohner. Ein Haus zu besetzen erfüllt den Strafbestand des Hausfriedensbruchs (§123 StGB). Erforderlich für eine Verurteilung ist die Anzeige des Eigentümers, diese bleibt in dem Falle aus. Der wahre Eigentümer dulde die Besetzung nicht nur, er sei sogar froh, dass Menschen dort Zuflucht finden, die das Haus aus eigener Kraft sanieren. Die selbsternannten Hauseroberer hätten bisher keinerlei Probleme mit der Stadt gehabt. Der Grund dafür sei schlicht, dass die Stadt nichts von dem besetzten Haus wisse. Ein Dialog mit der Stadt Aachen wird von den vier Bewohnern daher auch gemieden.
Ein Leben ohne Miete, Strom oder Gas zahlen zu müssen. Wie ist das geregelt? Freundlich grüßt der türkische Imbissbesitzer nebenan. Von seinem Laden führt ein dickes schwarzes Kabel an der Wand entlang zum besetzten Haus. Dort beziehen Anna und ihre Freunde Strom. Im Austausch sind sie Stammgäste.
„Warmes Wasser gibt’s nur in meiner Etage. Keine Ahnung wie und warum, ich glaub der Vermieter zahlt das.“ Ohne Zusammenhalt, Nachbarschaftshilfe und dem Vertrauen darauf, dass über dieses geheime Projekt Stillschweigen bewahrt wird, funktioniere nichts.
Damit jeder Warmwasser hat, Strom, genug Nahrung und einen warmen Schlafplatz, müssen sich die Besetzer absprechen, improvisieren, containern und teilen, teilen, teilen.
Durch Containern finden Lebensmittel, welche von Supermärkten als übriggeblieben oder auf Grund des Mindesthaltbarkeitsdatums für den Müll aussortiert werden, noch einen Konsumenten. Menschen die derart an Nahrung gelangen machen sich wegen schweren Diebstahls strafbar. In Aachen wurde im April 2016 das Bündnis „Containern ist kein Verbrechen“, um eine generelle Entkriminalisierung und ein Verbot für die Vernichtung brauchbarer Lebensmittel zu erreichen. „Für den Transport der genießbaren Lebensmittel, die in einem Jahr in Deutschland vernichtet werden, wären 275.000 Sattelschlepper notwendig“, sagt Mitbegründerin Kiki Herten. Hintereinander gestellt entspreche das einer Strecke von Düsseldorf bis Lissabon – hin und zurück. In Zahlen ausgedrückt seien das elf Millionen Tonnen Lebensmittel mit einem Geldwert von etwa 25 Millionen Euro (AZ vom 20. April 2016).
„Uns fiel auf, dass wir [durch das Containern] nur die Symptome der Verschwendung bekämpfen und nicht die Ursachen. Ursächlich ist doch, dass wir in den Städten nicht mal wissen wie man Kartoffeln pflanzt. Wir haben völlig den Bezug zum Produkt und zur Nahrung verloren, weil wir alles unbegrenzt und überall kaufen können. Gegen Geld. Wozu Tomaten aus Spanien, wenn wir hier genug fruchtbaren, ungenutzten Boden haben?“ Tobias Wizozy, Gartengründer.
Mittlerweile ist das Projekt ein voller Erfolg. Im Garten tummeln sich groß, klein, jung & alt um zusammen zu pflanzen und zu ernten. Dazu kam die Anschaffung und Pflege eines Bienenstocks, der Bau der Food-Sharing Station und vielerlei Gartengeräte die von begeisterten Mitbürgern gespendet wurden. Von Aachenern, für Aachener.
Es stellt sich nur die Frage: Wenn Nahrung und Geräte im Gemeinschaftsgarten völlig ungeschützt sind, wird nicht gestohlen oder vandaliert?
Die Antwort gibt Hoffnung. Seit der Gründung im Sommer 2013 sind Diebstahls- und Gewaltvergehen im subpolitischen Garten an einem Peace-Zeichen abzählbar. Die Aachener sind stolz auf ihren Gemeinschaftsgarten, dementsprechend behandeln sie ihn auch gebührend.
Weniger erfolgreich war das Konzept der sogenannten „Gift-Box“. „Gift“ stammt aus dem Englischen und bedeutet „Geschenk“. Es handelt sich um eine umgebaute Vorratskammer in die jeder hinein geben kann, was er nichtmehr benötigt und jeder das nehmen kann, was er braucht. An sich eine gute Idee, allerdings ist die Gift-Box oft Unterschlupft für Obdachlose geworden, wurde als Müllablade genutzt, nahm den beißenden Geruch von Urin an und wurde daher nach mehrmaligen Versuchen vorerst aufgegeben. „Die Menschen sind wohl noch nicht so weit“ äußert sich Oliver Pesch, der Erfinder der Gift-Box, nachdenklich.
Auf der Fensterbank des besetzten Hauses steht eine kleine Box, gefüllt mit einer Kameratasche, verschiedenen Tupperdosen und einem Springseil mit der bunten Aufschrift „Zu verschenken“. „Die Box steht immer hier, mal tu ich was rein, mal nehm ich was raus. Meistens sind die Sachen genauso schnell verschwunden, wie sie aufgetaucht sind.“ Sagt ein Passant, bevor er freudestrahlend mit einer neuen Kameratasche in den Händen weiterzieht. Die Besetzertruppe freut sich über vielerlei Geschenke, und gibt weg was sie nicht braucht. Im Kleinen funktioniert die Idee der Gift-Box offensichtlich schon.
Eine ältere Dame mit hölzernem Gehstock mustert ein antikes, strahlend schwarzes Graffiti über dem Hauseingang der Besetzer-WG, welches von einem meisterhaften Kalligraphen ihres Alters stammen könnte: „Alles Schöne im Leben hat einen Haken: Es ist illegal, unmoralisch, oder macht dick“.
Sie lacht herzhaft auf, und geht ihres Weges.