Detlef Baers Gedanken über Fluch und Segen der KI und der digitalen Welt?
Freunde, Bekannte und Verwandte raten mir fortwährend, chat gpt auszuprobieren. Die Zeitersparnis wäre enorm, ebenso die Leistungsfähigkeit dieser neuen Technologie. Ich sage es hier direkt und deutlich: ich werde chatgpt (noch) nicht anwenden, auch nicht runterladen. Das in Klammern gesetzte Wort „noch“ zeugt von einer nicht nur bei mir vorhandenen Unsicherheit, wie ich mit der digitalen neuen Welt umzugehen gedenke.
Warum meine Bedenken? Aus zwei Gründen:
Erstens: ich schreibe gerne abends Gedichte, vor allem fasziniert mich die Entstehung solcher Werke. Du hast einen Gedanken, bringst ihn aufs Papier unter Berücksichtigung von Vers- und Reimform, was schon schwierig genug ist. Ist das Werk scheinbar fertig, überlegst du Verbesserungen, dann gehst du auf den möglichen Leser ein, kann er wirklich deine Intention verstehen? Manchmal sind einzelne Worte mißverständlich, unklar, verbesserungswürdig. Lese ich das jetzt fertige Gedicht Tage oder Wochen später wieder, so verändert sich der Blickwinkel, bessere Verse, Worte verändern das Gedicht wieder, und dabei reflektiere ich eigene Gedankengänge in zeitlichen Verläufen. – Dann kommt chatgpt: schreibe ein Gedicht über den Frühling: und in wenigen Sekunden liegt ein Meisterwerk vor dir. So erspare ich mir die Reise ins Innere Ich, das Resultat kann also technisch gelöst werden. Ich gewinne Zeit für „Bauer sucht Frau“!
Zweitens: mein Nachbar arbeitet bei einer Computerfirma. Vor einiger Zeit berichtete er mir vom Tod des Großvaters eines Kollegen. Dieser sollte am Grab eine Rede halten, aus Zeitmangel und vielleicht sonstigen Defiziten übergab er den Auftrag chatgpt, fütterte den PC mit den notwendigen Personalinfos, und las dann ziemlich unvorbereitet die Rede am Grab vor. Mein Nachbar und alle Freunde und Verwandte waren begeistert von der Rede, einigen liefen Tränen über das Gesicht. Soviel Kunstfertigkeit hätten Sie dem Vorleser nie zugetraut. Chatgpt fand genau die richtigen Worte, was der Kollege freilich nur in kleinem Bekanntenkreis gestand. Zwei Worte fehlen freilich bei der Nachbetrachtung: Empathie und Authentizität!
Genau darin sehe ich die Gefahren der digitalen Entwicklung. Wir erhalten einen technischen und vielleicht zeitlichen Mehrwert bei Aufgabe der Eigenständigkeit. Der Übergang zu erklärbaren Hilfen durch digitale Technologien und der bequemen Überlassung ist fließend.
Philipp Blom thematisiert in seinem neuesten, lesenswerten Buch „Hoffnung – über ein kluges Verhältnis zur Welt“ die Entwicklung von KI. Er sieht drei Herausforderungen für die Menschheit: Klimawandel, Verlust der Biodiversität und KI. Frühere mit Hoffnungen verbundene technologische Entwicklungen kehrten sich in das Gegenteil um. Eingehend auf das System der Konzentrationslager sowie auf den Atombombenabwurf auf Hiroschima und Nagasaki schreibt er: „ Diese fürchterlichen Todesorgien waren auf ganz unterschiedliche Weise grausam, hatten aber etwas gemeinsam: Sie waren die Erzeugnisse hoher menschlicher Zivilisationen, von Wissenschaft und effizienter Verwaltung, moderner Technologie und Vernunft, die sich gegen die Menschen gekehrt hatten und jetzt Leben vernichteten.“ Und einige Zeilen weiter schreibt er: „Bis dahin galt Barbarei immer als Mangel an Zivilisation. Jetzt musste man zu akzeptieren lernen, dass Zivilisation in Barbarei kippen konnte.“
Aber hilft nicht die digitale Entwicklung in Medizin, Forschung und Kommunikation? Ja, ich benutze auch digitale Technologie, als helping hand. Mehr darf sie nicht sein, schon gar nicht als Einswerdung von Mensch und KI, wie es der KI – Entwickler Ray Kurzweil in seinen Büchern prognostiziert und auch wünscht. Der Mensch entwickelt sich demnach zum Haustier der digitalen Welt, „brave new world“ is waiting for you.
Diese kritischen Reflexionen passieren bei aufgeklärteren Menschen, nicht bei schlichten Konsumenten, schon gar nicht bei den Entwicklern an den Schalthebeln der Digitalisierung. Und es geht schnell weiter: in der heutigen Ausgabe der Wissenschaftsbeilage der FAZ wird von der Entwicklung des Quantencomputers um das Team von Hartmut Neven von Google Quantum AI berichtet. Die Oberflächen – Code-Fehlerquote konnte signifikant gesenkt werden, überraschend findet eine Verbesserung mit erhöhter Q-Bit – Zahl statt. Dieser erzielte Fortschritt bedeutet einen großen Sprung bei der Entwicklung von Computern, die in wenigen Minuten Probleme lösen werden, die herkömmliche PCs nie lösen werden können. Noch gibt es viele Hürden, doch der Weg ist vorgezeichnet, und uns wird eine heile Welt mit lebensverlängernden Medikamenten, umweltfreundlichen Materialien und kurzen Entscheidungswegen in technischen Bereichen erzählt, die Kehrseite wird verschwiegen.
Was also tun? Eine wesentliche Bedeutung erlangt das eigenständige Urteilsvermögen entgegen einer Fremdsteuerung. Thematisch verknüpft sich diese Forderung bei der Auseinandersetzung mit der sozialen Medienwelt. In Australien (und wohl auch in Schweden) wird demnächst Jugendlichen bis 16 Jahre der Zugang zu bestimmten sozialen Medien per Gesetz verwehrt. Der 17 jährige Sohn Wayne Holdsworth wurde wegen intimen Fotos vor einem Jahr erpresst und nahm sich danach das Leben. „Wenn keiner Zugang zu dieser Plattform (Instagram) gehabt hätte, wäre er noch am Leben“, so sein Vater. Das Gesetz sieht vor, dass Kinder unter 16 Jahren in Zukunft keinen Zugang mehr zu Facebook, Instagram, Tiktok und Snapchot haben dürfen, es wird mit der seit 20 Jahren erprobten Online-Altersverifikation für Glücksspiele umgesetzt. Natürlich erheben sich auch Gegenstimmen, teils von Jugendlichen, vermehrt von den Konzernen. „Untersuchungen hier in Australien haben erschreckende Ergebnisse gebracht, zum Beispiel, dass schon fünf Jahre alte Jungen süchtig nach Gewaltpornographie sind und Mädchen im Alter von sieben Jahren an Magersucht leiden, weil sie online wegen ihrer Körperform schikaniert werden. „Es liegt im Interesse der Konzerne, die Kinder süchtig zu machen“, so Wayne Holdswort. Kontrollieren die Sozialen Medien die Menschen oder kontrollieren die Menschen die Sozialen Medien? Diese Frage stellt sich in Australien und den skandinavischen Ländern, vielleicht auch bald bei uns.
Was tun? Eine letzte Überlegung basiert auf einem Artikel aus der New York Times, der in einer Englisch – Talk – Runde in der VHS besprochen wurde. Der Artikel berichtete von einer Aussteigerin in New York, einem jungen Mädchen von 16 Jahren, die beschloß, auf ihr Handy gänzlich zu verzichten. Einige Freunde schlossen sich ihr an, doch die auf 10 Jugendliche angewachsene Gruppe konnte zunächst mit ihrer Freizeit gar nichts anfangen. Schließlich benutzen Jugendliche laut Statistik 71 Stunden pro Woche ihr smartphone, immerhin 4 Stunden für schulische Zwecke. Langsam entdeckte die Aussteigergruppe andere Annehmlichkeiten wie sportliche Aktivitäten, Tanzen, gesellige Zusammentreffen, Kochen und vieles mehr. Vielleicht schließe ich mich dieser Gruppe von der Ferne aus einmal an, zumindest für ein bis … Tage in der Woche. Wer mich dann sprechen will, kann mich beim Waldspaziergang begleiten.