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Buchbesprechung – Rüdiger Maas, Generation lebensunfähig, München 2021

   Rüdiger Maas studierte in Deutschland und Japan Psychologie. Neben unternehmerischen Tätigkeiten gründete er zusammen mit seinem Bruder 2017 das private Institut für Generationenforschung. Die vom Institut erhobenen Forschungsergebnisse fließen zwar immer wieder in das Buch ein, doch bedient sich der Autor eher eines populärwissenschaftlichen Stils, der breitere Leserkreise erreicht.

   Anhand von zwei Familiengeschichten stellt er den Gegensatz zwischen analoger und digitaler Welt dar. Der Siegeszug der digitalen Medien führt zu gravierenden Veränderungen in der Erziehung und auch des Selbstwertgefühls der heranwachsenden Generation. Johannes und Martina – aufgeschlossene und moderne Eltern – werden schon vor der Geburt ihrer Tochter Emma durch Facebook und Instagram über Erziehungsstile und Ratschlägen über die Schwangerschaft sowie Kaufentscheidungen für Baby – Utensilien informiert. Nach der Geburt des Kindes entsteht schrittweise ein digitales Abbild von Emma, denn sämtliche Informationen über ihre Entwicklung speziell durch Bilder und Videos werden ins Netz gestellt. Der Psychologe Maas verwendet in diesem Zusammenhang den Begriff „sharenting“ und verweist auf Gefahren, die mit der Dokumentation des Kindes verbunden sein können. Maas geht die vielen Entwicklungsschritte der ersten Lebensjahre Emmas nach, von der Geburt über Kita und Schulanfang. Einen großen Einflußfaktor für die Erziehung bildet neben der Beschleunigung der gesellschaftlichen Entwicklung mit dem Siegeszug des Internets auch die Veränderung von Erziehungsstilen. Die Generation Y, also die zwischen 1980 und 1995 Geborenen wie Johannes und Martina erziehen die Generation Alpha, die ab 2010 geboren wurde. Die Abkehr von negativ erfahrenen autoritären Erziehungsstilen und die Übernahme legerer Erziehung führt zu einer Überbehütung der eigenen Kinder. Die Folgen dieses Zusammenspiels sind fatal: „Keine Generation von jungen Menschen lässt bisher so viele Störungsbilder erkennen wie die heutige. Störungsbilder wie ADHS, ADS, Magersucht, Bulimie oder Borderline treten immer öfter auf.[1] Maas rät zu einem autoritativen Erziehungsstil, einem Mittelweg zwischen demokratischer und autoritärer Erziehung. [2] Am Beispiel Emmas wird das zunehmende Aufgehen in einer digitalen Welt aufgezeigt. Statt einer sozialen und personalen Identität, entwickelt aus unmittelbarem Lebensbezug, entsteht eine digitale Identität.

   Als Leser, Vater von zwei Kindern und Pädagoge stellte sich bei der Lektüre auch die Frage, ob die bislang aufgeführten Gefahrenmomente nicht zu dem üblichen Klischee des „früher war alles besser“ gehört. Technische Entwicklungen passieren und gehören mit ihren gesellschaftlichen Konsequenzen zum historischen Prozeß. Dass die digitale Welt auch Erleichterungen ermöglicht, wird vom Autor zwar nicht bestritten, doch niemals konkretisiert.

   Meine Leser – Skepsis änderte sich mit dem zweiten Familienbeispiel. Finn und Julian wachsen als pubertäre Jungens in einer Dorfgemeinschaft auf. Maas beschreibt sehr ausführlich, welchen Gefahren vor allem labile Jugendliche ausgesetzt sind. Die Anonymität im Cyberspace führt zu einem Konturverlust der Identität, während in der realen Welt körperlich anwesende Menschen unverwechselbar sind.[3] Social communities können zu Cyberstalking und Gewaltverherrlichung animieren und es stellt sich die Frage: wo liegt die digitale Schwelle? Gibt es überhaupt eine Schwelle? Die Beispiele von gefährlichen Einflußnahmen auf die Persönlichkeitsentwicklung Jugendlicher werden überzeugend und drastisch dargestellt. Untersuchungen ergaben, dass vor allem labile und sich selbst überlassene Jugendliche vielfältig auftretenden digitalen Verführungen unterliegen. Hierbei spielt die digitale Erfahrungs-Diskrepanz der Generationen eine bedeutende Rolle: „Die Generationen stecken in einem Dilemma. Die Älteren wissen, dass ihr Immer-weiter-so längst ausgedient hat. Und die Jungen wissen, dass die Erfahrungen der Älteren für sie nicht mehr relevant sind.“[4]

   Wie lassen sich analoge und digitale Welt sinnvoll zusammenführen? Der erste Schritt besteht wie stets im Wissen von Chancen und Gefahren der digitalen Welt. Dazu bietet dieses Buch nicht nur für werdende Eltern wie Johannes und Martina sehr viel. Die pädagogische Umsetzung obliegt natürlich den Eltern und Erzieherinnen und Erziehern. Aus eigener Erfahrung lohnen Naturverbundenheit und gemeinsame Aktivitäten mit den Kindern, um eine sinnvolle Balance zwischen analoger und digitaler Welt zu ermöglichen.

 

von Detlef Baer

 

[1] ebenda S.84

[2] ebenda S.63

[3] ebenda S.177

[4] ebenda S. 198

Generation Lebensunfähig, Rüdiger Maas