Was bedeutet plurale Ökonomik?
Was bedeutet „plurale Ökonomik“? – Beginnen wir zur Klärung dieser Frage mit einer Anekdote, einer wichtigen, wie ich finde, weil sie die ganze Tragweite dieser neuen Denkrichtung aufzeigt: am 5.Februar 2020 sagte Joe Kaeser, Vorstandvorsitzender der Siemens AG, auf der Hauptversdammlung der Siemens AG unter anderem folgende zwei Sätze:„Unternehmen können heute nicht mehr so tun, als wäre der erwirtschaftete Gewinn der einzige Geschäftszweck. Diese Zeit ist vorbei.“ Ich weiß nicht, ob er sich der Tragweite dieser Aussage bewußt gewesen ist, denn im Grunde stellt sie die Prämissen der bisherigen Volkswirtschaftslehre in Frage. Wie kam Joe Kaeser zu dieser Aussage und was bedeutet sie in Konsequenz?
Die Siemens AG steht unter heftiger Kritik von Umweltverbänden, weil sie die Zugsignalanlage für ein umstrittenes Kohlebergwerk der Adani Group in Australien liefert. Der Konzern musste im Januar eine Entscheidung treffen, ob er den Auftrag der verhältnismäßig kleinen Summe von 18 Millionen Euro storniert oder nicht. Eine Stornierung hätte einen Vertrauensverlust für alle Folgeaufträge bedeutet, eine Vertragserfüllung eine Konfrontation mit Umweltverbänden und vor allem aktiven Jugendlichen. Die Adani Group mit Hauptsitz in Indien will in Australien eines der größten Kohlebergwerke der Welt aufbauen, das aus fünf Untertageminen und sechs Tagebaustätten bis zu 60 Millionen Tonnen Kohle pro Jahr fördern soll. Das Projekt wird von Umweltschützern seit Jahren bekämpft. Kaeser bot der Aktivistin Neubauer einen Job im Aufsichtsrat von Siemens an, den diese dankend ablehnte, da sie dann den Interessen der Siemens AG und nicht Umweltinteressen verpflichtet gewesen wäre. Die Geschichte passierte im Januar 2020, also wenige Tage vor der Hauptversammlung. Kaeser musste also auf den Konflikt zwischen den Umweltschutz und Gewinnmaximierung eingehen. Er tat es – siehe Zitat – indem er den Konflikt benennt und Lösungsansätze in das zukünftige Managementaufgabenfeld projiziert. Er selber dürfte dafür keinen Beitrag leisten können, denn seine Demissionierung ist nur noch eine Frage der Zeit. Aber der Stein gerät ins Rollen – geworfen von schulverweigernden Kindern! Welches ökonomische Lehrbuch lehrte uns diesen Zusammenhang?
Nehmen wir Kaeser ernst und spielen die Konsequenz seiner Aussage einmal durch. Die erste Frage, die sich stellt, ist die nach den weiteren Geschäftszwecken. Sicher denkt er angesichts der Sachlage des Konflikts an den Begriff der Nachhaltigkeit. Hierzu stelle ich weitere Fragen:
- Berücksichtigt Nachhaltigkeit nur die eigenen Produktionsbedingungen?
- Berücksichtigt Nachhaltigkeit auch die Beachtung von Produktions- , Transport-und Handelsketten?
- Beachtet Nachhaltigkeit auch Produktionsbedingungen vor Ort?
- Wie kann ein Gewinn erwirtschaftet werden, wenn mit der Beachtung von Nachhaltigkeitskriterien Kosten steigen?
- Welche Bedeutung und welchen Einfluß hat die Volkswirtschaft auf Politik und Gesetzgebung?
- Wie überzeuge ich den skeptischen Verbraucher?
- Usw.
Diese eher betriebs- und volkswirtschaftlichen Fragen können erweitert werden mit einer Hinwendung auf die gesellschaftliche Ebene:
- Worauf basiert der gesellschaftliche Druck auf solche Paradigmawechsel?
- Wie verändern sich gesellschaftliche Normen, wie gelingt der Sprung von Randgruppenbewußtsein zum kollektiven Bewußtsein?
- Was bedeutet Lebensqualität? Sind Wachstumsmodelle mit Lebensqualitätsmerkmalen vereinbar?
- Wie beeinflussen gesellschaftliche Phänomene nichtmonetär Unternehmensentscheidungen?
- Welche soziologischen und historischen Erfahrungen helfen zum Verständnis gesellschaftlichern Wandels?
- Usw
Jetzt sind wir bei der pluralen Ökonomik angelangt! Denn die Ökonomie wird nicht durch mathematische Modellrechnungen erklärt – solche können durchaus veranschaulichen, aber keine kausalen Zusammenhänge konstruieren! Ökonomie ist eine Verhaltenswissenschaft, und Verhalten wird vielfältig beeinflußt. Also muss Ökonomie plural angelegt sein, andere Wissenschaftszweige heranziehen, neue Fragestellungen beachten, sogar eine Zielsetzung und einen Wertekatalog erstellen und hinterfragen, also ständig normiert zur Disposition stellen. Nicht der Tausch, der Gewinn, die Produktivität oder der Handel stehen im Mittelpunkt, sondern schlicht und einfach der Mensch! Nirgendwo steht dieser Widerspruch zwischen klassischen ökonomischen Denkweisen und zivilgesellschaftlich erforderlichen Werten so stark wie bei den Konfliktfelder Umwelt und Wohnen.
Zitieren möchte ich aus der Einleitung aus der website des Netzwerkes plurale Ökonomik:
„Ein Blick in die tägliche Presse zeigt: Ob Hunger, Umweltzerstörung, Klimawandel, Finanzmarktkrise, soziale Ungleichheit oder Arbeitslosigkeit – die (ökonomischen) Probleme unserer Zeit sind vielfältig und komplex. Die Antworten der akademischen VWL, privaten Forschungsinstituten und der Presse sind hingegen meist eindimensional. Ein wichtiger Grund hierfür ist, dass die dahinter liegenden theoretischen Konzepte meist ein und derselben Denkschule entspringen, weshalb ihre Modelle einseitig und ihre Perspektive eingeschränkt bleiben. Genau hier liegt das Problem:
Junge NachwuchsökonomInnen bekommen in Ihrer Ausbildung meist nur dieses eine Denkmuster – die neoklassische Modellökonomik – vermittelt, und auch danach sind DoktorandenInnen, Postdocs und ProfessorenInnen der VWL einem hohen Konformitätsdruck ausgesetzt. Die Lösung realer gesellschaftlicher Probleme rückt dabei im Schein mathematischer Objektivität und eines überhöhten Dogmatismus in den Hintergrund.
Dies ist nicht nur das interne Problem einer akademischen Disziplin, sondern wirkt sich über Expertisen und wirtschaftspolitische Empfehlungen von ÖkonomInnen an die Politik auf die ganze Gesellschaft aus, betrifft also alle Menschen.
Unser Ziel ist es, der Vielfalt ökonomischer Theorien Raum zu geben, die Lösung realer Probleme in den Vordergrund zu stellen sowie Selbstkritik, Reflexion und Offenheit in der VWL zu fördern. Dabei gehen wir bewusst über einen VWL-internen Diskurs hinaus und richten unsrer Anliegen gezielt an Zivilgesellschaft, Politik und mediale Öffentlichkeit.“[1]
Reinhard Schumacher argumentiert, dass wirtschaftliche Phänomene immer in einen historischen Kontext eingebettet seien.[2] Dem trägt die von uns anberaumte Seminarreihe „historische Ökonomik“ Rechnung. Einer zeitlichen Chronologie weitgehend entsprechend werden prägnante, die Menschheitsgeschichte prägende Verlaufsstrukturen aufgezeigt und analytisch erklärt, um dann die wirtschaftspolitischen und wirtschaftstheoretischen Folgen darzulegen. Die Zusammenhänge historischer Verläufe und wirtschaftlicher Implikationen verlaufen nicht unmittelbar kausal, doch in Langzeitprägung. Ein Beispiel: Der Zeitraum der sog. Kleinen Eiszeit zwischen 1500 – 1700 n.Chr. war geprägt von Kriegen, Hexenverfolgungen und Mißernten. Gestärkte Nationen wie England und die Niederlande formierten sich, weil sie aufklärerische Gedankengänge und nationalstaatliche Organisationsformen entwickelten. Max Webers „protestantische Ethik des Kapitalismus“ erklärt das Gewinnstreben kapitalistischen Erfolgsdenkens mit der Erlösungsprophezeiung der calvinistischen Prädestinationslehre. Erste ausformulierte Wirtschaftstheorien finden wir bei den Physiokraten und im Merkantilismus, folgerichtig als ökonomische Verlagerung und Rechtfertigung historisch gewachsener Nationalstaatlichkeit. Jede Historie gebietet spezifische ökonomische Implikationen, aber aus jedem Verlauf können wir lernen und unser Analyserepertoire ergänzen. „Ökonomische Ideen und Theorien spiegeln häufig geschichtliche Entwicklungen wider“[3], d.h. sie entspringen einem historischen Kontext, sind also situierte Ideen. Dieses in den historischen Zusammenhang eingebettete Verständnis vermittelt eine Orientierung für wissenschaftliche Entwicklungen und Kontroversen.
Welche historischen Erfahrungen führten zur Normierung der Menschenrechte? Einhalten wie Mißbrauch erhalten somit einen Wertemaßstab. Gibt es einen Wohlfahrtsmaßstab menschlicher Werte der Volkswirtschaftslehre? Beschränkt sich der Begriff Wohlfahrtsökonomie auf effektives Produzieren, auf Verkauf, Angebot und Nachfrage ohne Hinterfragung von Qualität und Nutzen?
Plurale Ökonomik erobert akademische Hörsäle. Im Internet finden wir mehrere Universitäten mit zumindest partiellen Studiengängen dieser Richtung. Die Uni Siegen – national die diesbezüglich mit dem weitgehendsten Lehrstuhlangebot – bietet unter anderem folgende Lehrveranstaltungen an, um einen Überblick über das Themenraster zu dokumentieren:
- Wirtschafts- und Unternehmensethik
- Gemeinwohlorientiertes Wirtschaften
- International Environment and Energy Law
- Grundzüge der Postwachstumsgesellschaft
- Introduction to the Philosophy of Economics
- Kultur – Institutionen – Entwicklung – Wirtschaft
- Geschichte des ökonomischen Denkens
- Ökonomie – und Wirtschaftspublizistik
- Fallstudienseminar
- Demokratisches Unternehmen
- Usw
Die Stadt Aachen, die RWTH Aachen als eine der führenden technologischen Forschungseinrichtung in Indistrie 4.0 bietet eine hervorragende Voraussetzung, zukunftsträchtige Innovationen auf gesellschaftliche Relevanz und damit ökonomische Folgewirkungen hin zu untersuchen. Die Blockchain-Technologie findet bereits Anwendung im Anmeldeverfahren der Universität, wie modellhaft ist diese Technologie für Finanzwesen und Verwaltungsstrukturen? Welche gesellschaftlichen Folgen ergeben sich aus Forschungsergebnissen der KI, der Wasserstofftechnologie, der Anwendung von Gleichstrom, G5-Vernetzung usw. Welche Auswirkungen ergeben sich für die Arbeitswelt? Welche für Bildunggänge, Freizeit- und Konsumverhalten, welche für Verkehr, Wohnen, Eigentumsverhältnisse, Grundeinkommen usw.
Wenn die Historie etwas lehrt, dann die Gewissheit, dass wir uns in einer Epoche großer Veränderungen befinden,mit Herausforderungen, deren Wege zu Glück oder Unglück von den Menschen bestimmbar sind.
[1] https://www.plurale-oekonomik.de/das-netzwerk/ziele-und-aktivitaeten/
[2] Siehe: Perspektiven einer pluralen Ökonomik, David J.Petersen (Hg) u.a., Springer Verlag Wiesbaden 2019
[3] Reinhard Schumacher, Ökonomische Ideengeschichte Eine Verbündete der Pluralen Ökonomik? in : Perspektiven…S.193