Das bedingungslose Grundeinkommen – Eine Bestandsaufnahme
Die betagte Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens rückte spätestens seit der Volksabstimmung in der Schweiz zunehmend in die öffentliche Debatte. Die Befürworter prophezeien paradiesische Zustände, die Gegner sehen den Untergang der Arbeitsgesellschaft heraufziehen, die politische Linke ist uneins. Und dann gibt es da noch das Silicon Valley.
Das bedingungslose Grundeinkommen passt in keine Schublade
Es gibt kaum ein sozioökonomisches Konzept, das nach Maßgabe der etablierten Kategorisierungen (neoliberal / sozialistisch (sozialdemokratisch), konservativ / progressiv, systemerhal-tend / -umwälzend, usw.) so schwierig verortbar ist wie das bedingungslose Grundeinkommen. Dies zeigt sich nicht nur daran, dass Wissenschaftler, Politiker, Unternehmer und Journalisten unterschiedlichster Couleur das Konzept befürworten bzw. ablehnen, sondern auch daran, dass innerhalb soziokultureller und politischer Gruppierungen völlige Uneinigkeit über die Erwünschtheit der Einführung einer bedingungslosen Grundsicherung herrscht. Es sprechen ebenso schwer wiegende Argumente für wie gegen ein bedingungsloses Grundeinkommen. Wir versuchen uns an dieser Stelle einmal an einer Bestandsaufnahme.
Die Schufterei wäre zu Ende
Laut Götz Werner, prominenter Befürworter eines bedingungslosen Grundeinkommens, wurde das ökonomische Wachstum in den Industrieländern seit den achtziger Jahren immer stärker zu beschäftigungsfreiem Wachstum. Die Wirtschaft wuchs kommod, dennoch entstanden keine neuen Arbeitsplätze, da das Wachstum weitgehend auf Effizienzfortschritten gründete. Was trotz weniger Arbeit stets wuchs, war der materielle Wohlstand der Gesellschaft, weil immer mehr Güter mit immer weniger menschlicher Arbeitskraft produziert werden konnten. Die historische Verbindung von industrieller Erwerbsarbeit und gesellschaftlichem Wohlstand ist nach Götz Werner heute ein Stück weit aufgelöst. Wachsender Wohlstand mit weniger Arbeit, das ist eigentlich der Idealzustand. Der große Ökonom John Maynard Keynes veröffentlichte 1930 den Aufsatz »Wirtschaftliche Möglichkeiten für unsere Enkelkinder«, in dem er sich die Welt 100 Jahre später vorstellte: Aufgrund des technischen Fortschritts, der steigenden Produktivität und des wachsenden Vermögens werden die Menschen im Jahre 2030 von den „drückenden wirtschaftlichen Sorgen erlöst sein“, ihre größte Sorge wird sein, „wie die Freizeit auszufüllen ist“. „Drei-Stunden-Schichten oder eine Fünfzehn-Stunden-Woche“ sind im Jahre 2030 aufgrund des hohen Produktivitätsgrades völlig ausreichend, um die Lebensbedürfnisse zu befriedigen. Keynes hielt dies für einen erfreulichen Zustand. Die Schuf-terei wäre zu Ende, die Fabriken würden sich leeren, manche Menschen würden gar nicht mehr arbeiten, andere nur noch ein paar Stunden pro Woche.
Nach Einschätzung zahlreicher Grundeinkommensbefürworter haben wir den von Keynes prophezeiten Produktivitätsgrad heute annähernd erreicht. Würden wir alle technischen Mög-lichkeiten ausschöpfen und bedarfsgerecht produzieren, würde demnach eine 15-Stunden-Woche in der industriellen Produktion ausreichen. Der Theologe, Nationalökonom und Sozi-alphilosoph Oswald von Nell-Breuning ging bereits im Jahre 1985 davon aus, dass zur De-ckung des gesamten Bedarfs an produzierten Konsumgütern ein Arbeitstag pro Woche und Person ausreiche. Eine Ein-Tage-Woche ist allerdings nur tragbar, wenn die Menschen trotz weniger Arbeit ihren Lebensunterhalt auf menschenwürdige Art und Weise bestreiten können. Ein bedingungsloses Grundeinkommen könnte die Utopie von Keynes Wirklichkeit werden lassen, der Verdienst aus der Erwerbsarbeit käme zur Grundsicherung hinzu. Dass Einkom-men nur aus Erwerbsarbeit stammen könne, bezeichnet Götz Werner als Irrglaube. Unsere Wirtschaft habe heute einen Entwicklungsgrad erreicht, der die Trennung von Arbeit und Einkommen möglich mache. Heiner Flassbeck widerspricht dieser These hingegen vehement (vgl. hier), was den kontroversen Charakter der Debatte deutlich macht.
Das Geld ist vorhanden
Das Finanzierungsproblem stellt sich laut Oswald von Nell-Breuning nicht, da wir nicht vom Geld, sondern von Gütern und Dienstleistungen leben. Es stelle sich daher lediglich die Frage, ob eine Gesellschaft in der Lage ist, in ausreichender Menge Güter und Dienstleistungen zu produzieren, von denen die Menschen leben können. Seine Argumentation ist die folgende: Alles, was sich güterwirtschaftlich erstellen lässt, ist automatisch finanziert. Das Geld ist vor-handen, wenn die Güter vorhanden sind, weil Geld nichts anderes ist, als die Abbildung der produzierten Waren. Das Geld hat seinen Wert nur durch Güter und Dienstleistungen, für die es steht. Man muss die Finanzierbarkeit deshalb ausschließlich von der Güterwirtschaft her denken. Der Reichtum der Gesellschaft hängt von ihrer Produktivität ab, nicht vom Geld. Wem diese Argumentation zu abstrakt ist, kann in diversen Studien nachlesen, dass die Fi-nanzierbarkeit des bedingungslosen Grundeinkommens als belegt gilt (bspw. hier und hier).
Niemand geht mehr Arbeiten?
Ein beliebtes Argument von Grundeinkommens-Kritikern lautet: Nach der Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens geht niemand mehr arbeiten, weil der Mensch von Natur aus faul ist. Diesen Einwand hat die psychologische Forschung schon vor einem halben Jahrhundert entkräftet. Der marxistisch geprägte Psychologe Erich Fromm schrieb im Jahre 1966:
„Der Befürworter des garantierten Jahreseinkommens muß dem Einwand begegnen, daß der Mensch faul sei und nicht arbeiten wolle, wenn das Prinzip »arbeiten oder verhungern« abgeschafft würde. Tatsächlich aber stimmt das nicht. Wie ein überwältigendes Beweismaterial ergibt, hat der Mensch eine angeborene Neigung, sich zu betätigen, und Faulheit ist ein pathologisches Symptom. In einem System der »Zwangsarbeit«, in dem der Attraktivität der Arbeit kaum Beachtung geschenkt wird, sucht der Mensch ihr wenigstens auf kurze Zeit zu entrinnen. Würde das gesamte Gesellschaftssystem so geändert, daß die Verpflichtung zur Arbeit nicht mehr mit Zwang und Drohung verbunden wäre, würde es nur noch eine Minderheit von kranken Menschen vorziehen, nichts zu tun.“
Der materielle Anreiz sei keineswegs die zentrale Motivation zu arbeiten und sich anzustrengen, so Fromm weiter. Die bedeutendsten Motive der Menschen, einer Erwerbsarbeit nachzugehen, seien soziale Anerkennung, Freude an der Arbeit selbst und der Dienst an der Gesellschaft. Ein weiteres Argument dafür, dass der Mensch nicht aus materiellem Anreiz arbeitet, ergibt sich laut Fromm aus der Tatsache, dass der Mensch unter den Folgen von Untätigkeit leidet und gerade nicht von Natur aus faul ist. Sicher würden viele Leute gerne für einige Monate nicht arbeiten. Die allermeisten würden aber nach einiger Zeit dringend darum bitten, arbeiten zu dürfen. Eine Fülle von Daten aus der psychologischen Forschung liefern Belege hierfür. Die allermeisten Menschen wollen sich sinnvoll beschäftigen und in die Gemeinschaft einbringen. Wäre dies nicht der Fall, gäbe es weder ehrenamtliche noch sonst irgendeine Form freiwilliger, unentgeltlicher Tätigkeit für die Gemeinschaft. Wikipedia würde nicht existieren, wenn Menschen von Natur aus faul wären.
Das saysche Theorem, das der neoklassischen Volkswirtschaftslehre zu Grunde liegt, besagt, dass unfreiwillige Arbeitslosigkeit systemisch nicht möglich ist. Glaubt man dies, muss man freilich davon ausgehen, dass Millionen Menschen faul sind und nicht arbeiten wollen. Allein: Das saysche Theorem ist ebenso wie die Geschichte von der unsichtbaren Hand des Marktes metaphysischer Unsinn. Und selbst wenn einige Menschen es vorziehen würden, gar nicht mehr zu arbeiten, wäre dies nicht weiter schlimm, da wir es uns in Anbetracht unseres Produktivitätsgrades als Gesellschaft problemlos leisten können.
Unangenehme Arbeiten müssen besser entlohnt werden
Es gibt Arbeiten, die kaum jemand verrichten möchte, die für das Funktionieren der Gesellschaft jedoch unabdingbar sind (Müllentsorgung, Abwasserbehandlung, Sanitärreinigung). Diese unangenehmen aber notwendigen Arbeiten müssen nach Ansicht der Befürworter im Falle eines Grundeinkommens besser entlohnt werden als heute, weil sich sonst niemand mehr findet, der sie leistet. Das Grundeinkommen führt demnach nicht nur zu einer neuen Verteilung von Arbeit, sondern auch von Einkommen. Die Gesellschaft würde mit einer Grundsicherung schnell feststellen, auf welche Tätigkeiten sie angewiesen ist und müsste diese so hoch vergüten, dass sich weiterhin genügend Menschen dazu bereit erklären, diese zu verrichten. Wenn einige Wochen lang unser Müll nicht mehr abgeholt werden würde, würden wir uns sicherlich bald dazu bereit erklären, Menschen anständig für die Entsorgung unseres Abfalls zu entlohnen. Kranken- und Altenpfleger, Reinigungspersonal und Müllabfuhr müssten nach dieser Argumentation allesamt besser bezahlt werden. Dieses Geld würde an anderer Stelle fehlen und zwar bei den Tätigkeiten, die eine Gesellschaft nicht unbedingt benötigt, die heute jedoch mit hohen Vergütungen verbunden sind.
Ein satirisches Gedankenspiel des Kabarettisten Volker Pispers verdeutlicht diesen Zusammenhang: Stellen Sie sich vor, morgen fallen alle Investmentbanker, Unternehmensberater und Aktienanalysten tot um. Oder morgen fallen alle Krankenschwestern, Polizisten, Feuerwehrleute und Altenpfleger tot um. Und dann überlegen Sie kurz, was Sie persönlich vermissen würden.
Nicht nur, dass Tätigkeiten, die gesellschaftlich notwendig sind, heute schlecht bezahlt werden, werden viele wichtige und sinnhafte Tätigkeiten laut Götz Werner überhaupt nicht bezahlt. Neben der Hausarbeit seien dies Erziehung, Pflege, soziales Engagement, Kulturarbeit, Jugendarbeit usw. In all diesen Bereichen werden Beiträge zum Funktionieren und Gedeihen unserer Gesellschaft geleistet. Unbezahlte Sorgedienstleistungen für Kinder, Kranke, Alte, Behinderte und Erwerbslose bilden die Grundlage einer humanen Gesellschaft, werden jedoch häufig nicht als Arbeit anerkannt, weil sie nicht mit Einkommen verbunden sind. Da diese Tätigkeiten nicht bezahlt werden, gibt es immer weniger Menschen, die sich ihnen widmen können. Durch ein Grundeinkommen in Verbindung mit einer Reduzierung der Erwerbsarbeitszeit stünde der Gesellschaft nach Ansicht der Grundeinkommensbefürworter mehr Zeit für diese Tätigkeiten zur Verfügung. Es gebe eine ganze Reihe informeller Tätigkeiten, die durch ein bedingungsloses Grundeinkommen wieder ein höheres Gewicht bekommen könnten: Hilfsdienste, Sozialarbeit, Kontaktpflege mit einsamen Menschen, Unterstützung von Behinderten, Ausländerintegration, Bildungs- und Erziehungsarbeit, Jugendarbeit, Kulturarbeit, Instandhaltung öffentlicher Einrichtungen, Umweltschutz und Renaturierung. Vieles eben, was eine Gesellschaft wertvoll und lebenswert macht.
Das bedingungslose Grundeinkommen würde die Unternehmenskultur verändern
Da das bedingungslose Grundeinkommen die Verhandlungsposition von Arbeitsnehmern stärken würde, sähen sich die Unternehmen dazu gezwungen, attraktive und als sinnvoll empfundene Arbeitsplätze zu schaffen. Niemand müsste mehr für Unternehmen arbeiten, deren Produkte oder Produktionsweisen negative Auswirkungen auf die Gesellschaft haben. Niemand müsste mehr für Unternehmen arbeiten, in denen unmenschliche Arbeitsbedingungen herrschen, die gegen Umweltschutzschutzauflagen verstoßen, die Gesetze brechen, die gesundheitsschädliche Produkte herstellen oder sich in irgendeiner Weise unethisch verhalten. Kein Angestellter sähe sich gezwungen, auf Bedingungen einzugehen, die er als entwürdi-gend oder widerwärtig empfindet. Unternehmen müssten sich mit der Sinnhaftigkeit und den gesellschaftlichen Auswirkungen ihrer Produkte beschäftigen. Sie müssten die Arbeitsbedin-gungen verbessern und sich ihrer gesellschaftlichen Verantwortung bewusst werden.
Die immaterielle Arbeit sollte entlohnt werden
In den neunziger Jahren entstand in Italien eine neomarxistische Denkrichtung, die heute als Postoperaismus bezeichnet wird. Den Kern dieser Theorie bildet das Konzept der immateriellen Arbeit. Stark simplifiziert besagt diese Theorie, dass die materielle Produktion immer unwichtiger wird und die immaterielle Arbeit immer mehr an Bedeutung gewinnt. Unter immaterieller Arbeit wird die Produktion von Dienstleistungen, Kommunikation, kulturellen Produkten und Wissen verstanden. Diese immaterielle Arbeit, zu der auch die Herstellung zwischenmenschlicher Kontakte und Interaktionen gehört, hat zunehmend Eingang in den Produktionsprozess gefunden und wird in ihm verwertet. Natürlich gibt es weiterhin den industriellen Produktionsprozess, in dem materielle Arbeitskraft ausgebeutet wird, um Profit zu schaffen. Karl Marx ging davon aus, dass der Wert jeder Ware bestimmt ist durch das Quantum der in ihrem Gebrauchswert materialisierten Arbeit. Macht ein Unternehmer Profit, kann dies nach der Arbeitswerttheorie nur bedeuten, dass die in der Ware enthaltene Arbeit einen höheren Wert hatte, als der Unternehmer an den Arbeiter ausbezahlt hat, weshalb Marx von der Exploitation der Arbeitskraft durch das Kapital spricht.
Daneben tritt heute aber eine zweite Form der Kapitalverwertung, die zunehmend der Kontrolle des Kapitals entzogen ist: die Verwertung der immateriellen Arbeit. Michael Hardt und Antonio Negri, zwei bekannte Vertreter des Postoperaismus, nehmen den Immobilienmarkt als Beispiel: Der Wert einer Wohnung oder eines Hauses hat nur noch teilweise etwas mit der in der Immobilie vergegenständlichten Arbeit oder ihrer stofflichen Beschaffenheit zu tun. Mindestens genauso wichtig für die Bestimmung des Immobilienwertes (dies gilt sowohl für den Gebrauchs- als auch für den Tauschwert) ist das Wohnumfeld, die Nachbarschaft, die Umgebung, die sozial und kulturell erzeugten Bedingungen im Wohnbezirk, das Flair, die Kultur usw. Die Erzeugung dieses Werts findet zwar außerhalb des Kapitals und seiner Kontrolle statt, dennoch wird diese immaterielle Arbeit, die von den Menschen unentgeltlich und ohne ihr Wissen erbracht wird, durch das Kapital verwertet.
Wenn Unternehmen Bewegungsprofile erstellen und Daten, die wir tagtäglich (unentgeltlich) produzieren, über uns sammeln, mit denen sie Geld verdienen, wird unsere immaterielle Arbeit ebenfalls verwertet. Wir produzieren durch bloßes Dasein täglich Werte, an denen Unter-nehmen Geld verdienen, für die wir aber nicht entlohnt werden. Deshalb fordert der italieni-sche Ökonom Carlo Vercellone die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens als gesellschaftlichen Lohn, der der Entlohnung dieser immer kollektiver werdenden Dimension einer Wert schaffenden Tätigkeit entsprechen würde, die sich über die Gesamtheit der gesell-schaftlichen Zeit erstreckt und einer gigantischen Menge von nicht anerkannter und nicht ent-lohnter Arbeit Raum gibt.
Ein neues Konzept für veränderte Rahmenbedingungen
Es ist unübersehbar, dass die europäische Linke derzeit keine Vision zu bieten hat, die unter den gegenwärtigen Verhältnissen für die Bürger attraktiv erscheint. Die radikale Linke, so kürzlich der Soziologe Richard Seymour in einem Interview, habe das Terrain der Sozialdemokratie übernommen, das diese verlassen hat. Niemand hat mehr einen Plan im Sinne einer Systemüberwindung, weil das strategische Koordinatensystem des Sozialismus zusammenge-brochen ist und durch nichts ersetzt wurde. Insbesondere der neomarxistische Postoperaismus kann zeigen, dass alte Konzepte und Denkweisen (wie bspw. die klassische Arbeitswerttheo-rie) unter den veränderten ökonomischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen nicht mehr greifen und linke Politik umdenken muss. Wir müssen über Ökonomie neu nachdenken, wenn wir der neoliberalen Idee etwas entgegensetzen wollen. Dies soll keineswegs heißen, dass das bedingungslose Grundeinkommen ein linkes Konzept ist, sondern dass es neue Denkkorridore hinsichtlich einer gerechten Ökonomie eröffnen kann.
Die lauteste Kritik am Grundeinkommen kommt von links
Hinsichtlich der Grundeinkommensskepsis der politischen Linken kann man zwischen einer realpolitischen und einer strukturellen Kritik unterscheiden. Erstere lautet: Es ist ungerecht, dass auch Millionäre das bedingungslose Grundeinkommen erhalten, die es eigentlich gar nicht benötigen. Gerechter ist eine bedarfsgerechte Grundsicherung, weil es die Unterstützung des Staates auf die Hilfsbedürftigen konzentriert. Gegen diese Kritik ist nicht viel einzuwenden. Was dabei jedoch außer Acht gelassen wird, ist, dass der gesellschaftlichen Stigmatisierung („Sozialschmarotzer“) und Gängelung von Sozialhilfeempfängern durch ein bedingungsloses Grundeinkommen die Grundlage entzogen wird, weil es eben jeder erhält, egal ob Millionär oder Bedürftiger. Wer einmal Arbeitslosengeld II oder Sozialgeld beantragen musste, weiß, wie entwürdigend dieses Prozedere sein kann und welch ein enormer Gewinn an Würde und Freiheit der Wegfall des „Bittstellen-Müssens“ durch ein Grundeinkommen bedeuten würde.
In den meisten theoretischen Konzepten ersetzt das bedingungslose Grundeinkommen den gesamten Sozialstaat. Alle staatlichen Transferleistungen wie Arbeitslosengeld, Sozialhilfe, BAföG, Kindergeld, Wohngeld usw. fallen weg und werden durch das Grundeinkommen ersetzt. So lange das Grundeinkommen tatsächlich an Stelle des bedarfsorientierten Sozialstaates tritt, in einer Höhe, die über den heutigen Transferleistungen liegt, die Menschen also ein würdiges Auskommen haben, das sie am sozialen Leben teilhaben lässt, ist das unbedenklich. Die berechtigte Sorge der realpolitischen Linken ist jedoch, dass nach Abschaffung des Sozialstaates und Einführung eines Grundeinkommens nicht ausgeschlossen werden kann, dass eine neue Regierung das Grundeinkommen abschafft und es keinerlei soziale Absicherung mehr gibt. Ist der Sozialstaat in Form von Arbeitsagenturen, Ämter für Soziales und Wohnen, BAföG-Ämtern, etc. erst einmal abgeschafft, lässt sich dies nicht einfach zurückdrehen.
Die hier als strukturell bezeichnete Kritik von links, die meist marxistisch gefärbt ist, rekurriert darauf, dass ein Grundeinkommen weder die Kapitalverwertung, die Exploitation der Arbeit sowie die bestehenden Macht- und Eigentumsverhältnisse überwindet, noch das auf Konkurrenz, Gewinnmaximierung und Wachstum basierende Wirtschaftssystem.
„[U]nd wie die freie und solidarische Gesellschaft gehen soll, muß dann auch nicht mehr geklärt werden. […] So ist das Grundeinkommen längst kein bedingungsloses, ist seine Bedingung doch, daß alle Abhängigkeiten und Ungleichheiten das bleiben, was sie sind, und jene Revolution als erledigt betrachtet wird, die einen Ausgleich zwischen arm und reich, selbst einen etwas weniger simulierten, überflüssig macht.“ (Stefan Gärtner in Titanic / Juli 2016)
Neoliberale Verhältnisse werden zementiert
Das bedingungslose Grundeinkommen verhindert nach dieser Lesart echte Umverteilung, wirkt systemstabilisierend und zementiert die vorherrschenden Verhältnisse von Kapitalakkumulation, Ausbeutung und sozialer Ungerechtigkeit. Diese Argumentation gibt eine Antwort auf die eingangs erwähnte Frage, warum das Grundeinkommen seit jeher auch ein Element wirtschaftsliberaler Theorie war. Ungeachtet der Diskussion, inwieweit die von Milton Friedman vorgeschlagene »negative Einkommenssteuer« genau der Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens entspricht oder nicht (vgl. bspw. hier), entspricht das Konzept der neoliberalen Vorstellung von Bürokratieabbau, Deregulierung und einem schlanken Staat. Es ist deshalb nicht weiter verwunderlich, dass beispielsweise das als neoliberal geltende Hamburgische WeltWirtschaftsInstitut als vehementer Befürworter eines bedingungslosen Grundeinkommens in Erscheinung tritt (vgl. bspw. hier).
Geht es nach der Vorstellung einiger wirtschaftsliberaler Befürworter des Grundeinkommens entfallen nicht nur die staatlichen Transferleistungen zur Sicherung des Existenzminimums, sondern auch die Einkommens-, Umsatz-, Gewerbe- und Körperschaftsteuer. Als Ersatz soll eine Konsumsteuer eingeführt werden, aus der das Grundeinkommen sowie der Staatshaushalt finanziert werden. Alle auf Arbeitseinkommen erhobenen Steuern werden auf den Konsum umgelegt, es gäbe nur noch eine einzige Abgabe an die Gemeinschaft. Da der gesamte Staatshaushalt dann aus der verbleibenden Konsumsteuer beglichen werden müsste, müsste diese so stark angehoben werden, dass alle Ausfälle ausgeglichen werden. Um ein ausreichend hohes Grundeinkommen plus sonstige Staatsausgaben zu finanzieren, wäre – je nach Berechnung – ein durchschnittlicher Konsumsteuersatz zwischen 50 und 150 Prozent erforderlich. Die Befürworter des Konsumsteuern-Modells argumentieren, dass durch die wegfallenden Unternehmenssteuern die Herstellungskosten und damit die Preise der Güter drastisch sinken würden. Auf die gesunkenen Preise käme die höhere Konsumsteuer. Damit blieben die Preise für den Verbraucher im Schnitt auf einem ähnlichen Niveau wie zuvor und ein Grundeinkommen für alle sei in die Bedingungslosigkeit transferiert. Aus Sicht linker Kritiker ist ein System ohne Unternehmenssteuern freilich ein Paradies für jeden Neoliberalen und – um ein aus dem marxistischen Jargon stammendes sprachliches Element zu bemühen – für jeden Kapitalisten.
Die Rolle des Silicon Valley
Die FAZ berichtet im Juni dieses Jahres, dass sich mit Marc Andreessen (Aufsichtsratsmit-glied bei Facebook und Twitter-Investor) sowie dem Kapitalgeber Tim Draper zwei der berühmtesten Vertreter der Tech-Elite für ein bedingungsloses Grundeinkommen ausgesprochen haben. Die Beratungsfirma »Y Combinator«, die sich vor allem um Start-ups kümmert, will gespeist von Wagniskapital in einem auf zehn Jahre ausgelegten Modellversuch sechstausend Kenianer mit einem bedingungslosen Grundeinkommen versorgen. In den letzten Monaten häufen sich die Zeitungsberichte, die süffisant davon berichten, dass »liberale Spitzenmanager aus dem Silicon Valley« für ein bedingungsloses Grundeinkommen eintreten (meist wird der Ausdruck »propagieren« verwendet). Die Autoren dieser Artikel vermitteln den Eindruck, sie hätten mit der These, dass dies »aus gutem Grund«, »überraschend deutlich«, »wenig uneigennützig« »nicht ohne Hintergedanken«, »nicht zufällig«, »fürs schlechte Gewissen« usw. geschehe, große investigative Arbeit geleistet.
Dabei ist der Zusammenhang ebenso offensichtlich wie trivial: Geschäftsmodelle, die menschliche Arbeitskraft strukturell überflüssig machen, führen dazu, dass die antagonistischen Distributionsverhältnisse, „welche die Konsumption der großen Masse der Gesellschaft auf ein nur innerhalb mehr oder minder enger Grenzen veränderliches Minimum reduzier[en]“ (Karl Marx) noch antagonistischer werden. Vereinfacht ausgedrückt: Mit zunehmender Erwerbslosigkeit sinkt die Kaufkraft der Bevölkerung, um all die Produkte, die mit immer weniger menschlicher Arbeitskraft hergestellt werden, erwerben zu können. Die absolute Konsumptionskraft einer auf antagonistischen Distributionsverhältnissen basierenden Gesellschaft liegt nach Marx stets unter der absoluten Produktionskraft, was durch die digitale Revolution, selbstfahrende Autos, intelligente Roboter, etc. forciert wird. Verschiedene Studien kommen zu dem Ergebnis, dass bis 2030 die Hälfte aller Arbeitsplätze durch die Automatisierung wegfallen könnte.
„Außerdem scheint es immer mehr jungen IT-Unternehmern des Silicon Valleys unumgänglich, Menschen mit einem Grundeinkommen auszustatten, damit sie all jene Produkte, die im Silicon Valley entwickelt werden, um Arbeitsplätze abzuwickeln, trotz Arbeits- und damit Einkommensverlust weiterhin kaufen können.“ (Daniel Häni und Philip Kovce, Die Zeit / 31.10.2015)
Einige Autoren vermuten gar, dass die »Tech-Konzerne« Aufstände und Unruhen befürchten, wenn immer mehr Menschen durch die Automatisierung ihre Jobs verlieren oder in prekären Beschäftigungsverhältnissen landen (vgl. bspw. hier). Je nach Perspektive, könnte man ein Aufbegehren der Erwerbslosen gegen die globale Einkommens- und Vermögensverteilung als durchaus wünschenswert empfinden, zu erwarten ist ein Aufstand der Mittellosen indes nicht. Die Tech-Konzerne fürchten sich nicht vor Unruhen, sondern um ihren Profit. Irgendwer muss die »ungeheure Warenansammlung« (Karl Marx), die der Kapitalismus in Zeiten der digitalen Revolution noch effizienter hervorbringt, ja kaufen. Durch ein bedingungsloses Grundeinkommen wird eine noch weiter fortschreitende Überproduktion vermieden, die durch Produktivitätssteigerungen in Verbindung mit der Einsparung industrieller Arbeitsplätze bedingt ist. Natürlich ist es die Intention der liberalen Spitzenmanager, mit Hilfe eines Grundeinkommens die Profit versprechenden Geschäftsmodelle langfristig am Leben zu er-halten. Diese Intention alleine diskreditiert das Konzept an sich jedoch nicht.
Die Alternative der linken Kritiker
Während für die strukturell argumentierende Linke die Alternative zu einem Grundeinkommen nur in einem grundlegenden Systemwandel, Emanzipation, veränderten Eigentums- und Machtverhältnissen bestehen kann, ist die realpolitische (sozialdemokratische) Alternative bekannt: Stärkung von Arbeitnehmerrechten, Mitbestimmung und Gewerkschaften, eine stärkere staatliche Regulierung wirtschaftlichen Handelns, die Verstaatlichung der Schlüsselindustrien, eine Anhebung der Unternehmenssteuern, die Wiedereinführung der Vermögenssteuer, hohe Kapitalertrags- und Erbschaftssteuern, eine deutliche Steigerung der staatlichen Transferleistungen, staatliche Investitionen in Gesundheit und Bildung kurz: der rheinische Kapitalismus bzw. die soziale Marktwirtschaft.
Abschließende Bemerkungen zum bedingungslosen Grundeinkommen
Die Debatte um die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens ist ideologisch aufgeladen, Zuspruch wie Ablehnung speisen sich aus Ökonomievorstellungen und Menschenbildern ebenso wie aus Hoffnungen und Ängsten, weniger aus nüchterner Reflexion und Abwägung. Ich habe in der vorliegenden Bestandaufnahme versucht, die zentralen Argumente für und wider eine bedingungslose Grundsicherung zusammenzutragen und beide Seiten adäquat darzustellen. Bemerkenswert ist, dass die schwerwiegendste Kritik darauf zielt, dass ein bedingungsloses Grundeinkommen nichts an den gegenwärtigen Macht- und Eigentumsverhältnissen ändert, sondern lediglich eine Fortführung der »neoliberalen Wahnidee« (Jean Ziegler) ist und also alles bleibt wie es ist. Es ist zutreffend: Privateigentum an Produktionsmitteln, Kapitalverwertung, Exploitation und Geldherrschaft bleiben unangetastet. Wenn jedoch der Soziologe Richard Seymour Recht hat und in der europäischen Union weit und breit keine linke systemumwälzende Kraft in Sicht ist, könnte ein bedingungsloses Grundeinkommen die notwendige Sicherheit, Ruhe und Zeit verschaffen, um über die erforderlichen Schritte hin zu einer solidarischen Gesellschaft und einer lebensdienlichen Wirtschaft unter veränderten Rahmenbedingungen (immaterielle Arbeit, digitale Revolution, u.a.) nachzudenken.
Die politische Linke konnte in den letzten Jahren weder aus der Finanz- noch aus der Währungskrise Vorteil für sich schlagen, weil sie keine progressive und glaubwürdige Vision für das 21. Jahrhundert hat. Selbstverständlich muss die aus der marxistischen Theorie folgende Wertkritik Ausgangspunkt und Basis jedweder Vision einer gerechten, solidarischen Gesell-schaft sein. Die Theorie muss aber weitergedacht, angepasst, verändert werden, weil sie unter veränderten ökonomischen und gesellschaftlichen Bedingungen andernfalls ins Leere läuft. Der neomarxistische Postoperaismus trägt dieser Forderung Rechnung und eröffnet mit einer zeitgemäßen Begründung für eine bedingungslose Grundsicherung neue Denkräume. Idealerweise ist ein Grundeinkommen Teil einer Alternative zur kapitalistischen Marktwirtschaft, nicht deren Verlängerung. Idealerweise fördert es Austauschbeziehungen jenseits des Marktes, die dezentral, selbstbestimmt und in solidarischer Weise funktionieren. Idealerweise sollte es Menschen unabhängiger von der Erwerbsarbeit machen und soziale Beziehungen stärken.
Eine Alternative zum Neoliberalismus stellt ein Grundeinkommen dar, wenn es insofern emanzipatorisch wirkt, als es die Möglichkeit eröffnet, ein selbstbestimmtes, angstfreies Leben innerhalb einer solidarischen Gemeinschaft zu führen. An die Stelle der neoliberal degenerierten Gesellschaft tritt „eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die freie Entwicklung aller ist“ (Karl Marx / Friedrich Engels). Es ist wichtig, das emanzipatorische Potenzial sowie den Beitrag eines bedingungslosen Grundeinkommens zu einer solidarischen Ökonomie zu reflektieren und darüber nachzudenken, wie es ausgestaltet sein muss, damit es nicht zu einem Geschäftsmodell zur Fortführung des Neoliberalismus wird. Einen Anfang macht der italienische Ökonom Carlo Vercellone, der die Schaffung eines bedingungslosen Grundeinkommens fordert, das nicht als Ersatz für den Sozialstaat definiert ist, sondern als gesellschaftlicher Lohn der kollektiv erbrachten Arbeit. Lewis Mumford, einer der ersten Wachstumskritiker, regte in seinem 1967 erschienenen Werk »Der Mythos der Maschine« eine bedingungslose Grundsicherung an, die er als »elementaren Kommunismus« bezeichnete. Die Wortwahl veranschaulicht, dass das Konzept durchaus mit der Wertkritik und der Vorstellung einer gerechten, solidarischen Gesellschaft vereinbar ist.
Aus jahrelanger Erfahrung im Unterrichten großer Gruppen von BWL-Studierenden an zwei deutschen Hochschulen weiß ich, dass zuverlässig etwa ein Drittel der Studierenden aufzeigt, wenn ich frage, wer etwas anderes als Betriebswirtschaftslehre studiert hätte, wenn es ein bedingungsloses Grundeinkommen gegeben hätte. Jede(r) dritte BWL-Student(in) studiert nur deshalb Betriebswirtschaftslehre, weil er / sie hofft, nach dem Studium einen sicheren Arbeitsplatz zu bekommen, von dem er / sie seinen / ihren Lebensunterhalt bestreiten kann, nicht etwa weil es seinen / ihren Fähigkeiten und Interessen entspräche. Auf die Frage, was die Aufzeigenden im Falle eines Grundeinkommens studiert hätten, kommen Antworten wie: Philosophie, Anthropologie, Geschichte, Archäologie, Kulturwissenschaften, Tanz, Musik, Kunstwissenschaften, Kunstgeschichte, Germanistik, Literaturwissenschaften, Soziale Arbeit usf. Einige äußern, dass sie überhaupt nicht studiert, sondern eine Ausbildung als Kranken- oder Altenpfleger/in, Erzieher/in oder Sozialarbeiter/in gemacht hätten. Dieser Befund ist keine Lappalie. Es ist ein ernstzunehmendes gesellschaftliches Problem, wenn ein signifikanter Teil der Bevölkerung nicht seinen Talenten, Fähigkeiten, Leidenschaften, Wünschen, kurz: seiner Berufung folgt, sondern aus Existenzangst Betriebswirtschaftslehre studiert.
Nicht nur, dass es die Betroffenen selbst nicht glücklich macht, wenn sie etwas studieren, das sie unter Bedingungen existenzieller Absicherung niemals studiert hätten, liegen dadurch menschliche und gesellschaftliche Potentiale und Talente brach, die niemals entwickelt und genutzt werden. Anstatt gesellschaftliche Verhältnisse zu schaffen, die es den Menschen ermöglichen, ihrer Berufung nachzugehen, bringen wir Horden von lausigen Betriebswirten hervor. Lausig sind sie nicht, weil sie nicht intelligent oder talentiert wären, sondern weil sie etwas tun, das sie nicht wirklich wollen und das sie nicht wirklich interessiert. „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!“, lautet eine viel zitierte Sentenz von Karl Marx. Ein bedingungsloses Grundeinkommen könnte – in der richtigen Ausgestaltung und zumindest für eine Übergangsphase – eine Basis für die Verwirklichung dieser Forderung schaffen. Und wer würde sich das nicht wünschen: ein Drittel weniger Betriebswirte.