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Detlef Baer: Buchbesprechung und Diskussion zu: Kohei Saito „Systemsturz“ – Der Sieg der Natur über den Kapitalismus

Die Aussagen des Autors in Kurzform
Saito plädiert für einen Systemsturz im Sinne neuer Erkenntnisse der Marxschen Theorie, die Marx nach der Veröffentlichung des Kapitals in diversen Schriften und Briefen zum Ausdruck gebracht haben soll. Saito sieht die Chance, notwendige Maßnahmen gegen den Klimawandel zu ermöglichen nur in einem Wandel zu einem System ohne Wachstum. Nach seinen Untersuchungen hat Marx in den letzten Jahren nach der Veröffentlichung des Kapitals einen gravierenden Paradigma-Wechsel vollzogen und sich zu einem Degrowth-Kommunismus bekannt, der in der Wissenschaft, aber auch im traditionellen Marxismus nicht erkannt bzw. gewürdigt wird. Marx setzte sich in den letzten Lebensjahren mit der Stoffwechseltheorie von Liebig auseinander. Dieser inspirierte ihn zu der Erkenntnis- so Saito – dass der Mensch in ständiger Wechselwirkung mit der Natur sei, in der Produktion, Konsumtion und Entsorgung. Sein produktives Geschichtsbild des historischen Materialismus sieht der Autor somit von Marx selber revidiert. Demnach bewege sich die Geschichte in der Entwicklung der Produktivkräfte in verschiedenen Gesellschaftsetappen hin zum Sozialismus / Kommunismus durch Weiterentwicklung und schließlich Aufhebung der Widersprüche zwischen Produktivkraftentwicklung und Verteilung. Diese Entwicklung sei jedoch kontraproduktiv, da die Natur beraubend. So können sogenannte „commons“ – also relativ einfache landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften- als Vorbild für eine kommunistische Gesellschaftsformation dienen. Nach Louis Althusser handelt es sich um einen epistemologischen Bruch, indem das Prinzip der Nachhaltigkeit und stationären Wirtschaft übernommen wurde. Marx theoretischer Werdegang wird auf Seite 146 tabellarisch sehr übersichtlich dargestellt:

Saito negiert in ausführlichen Ausführungen jegliche, noch so gut gemeinte Wachstumsideologie. Nur eine Abkehr von Wachstum könne die Gefahren des Klimawandels abwenden, und nach Saito befindet er sich damit im Gedankengang des späten Marx. Der Autor benennt – sich auf Marx berufend- fünf Säulen des Degrowth –Kommunismus:

1. Wandel zur Gebrauchswertwirtschaft, also zu einer Wirtschaft, die das herstellt, was wirklich benötigt wird.
2. Verkürzung der Arbeitszeit
3. Aufhebung uniformer Arbeit, also der Wiederherstellung der Kreativität der Arbeit
4. Demokratisierung des Produktionsprozesses
5. Fokus auf systemrelevante Arbeit

Marx unterschied zwischen dem Reich der Notwendigkeit und dem Reich der Freiheit. Zu ersterem gehört die Produktion, die das Überleben garantiert, zum zweiten gehören Tätigkeiten, die erforderlich sind zum menschenwürdigen Leben, also Kunst, Kultur, Freundschaft usw. Der Kapitalismus führt zu Knappheit statt Überfluß, denn im Preis der Knappheit steckt Gewinn mit der Zielsetzung der Schaffung neuer knapper Güter. In der Rückbesinnung auf die wahren benötigten Güter führt die Überwindung des Kapitalismus zu einer Neuausrichtung der Demokratie, die wachstumshemmend eine Dekarbonisierung der Gesellschaft ermöglicht.
Wie soll dies konkret geschehen? Anders als bislang, wo die Industrienationen mit ihrer imperialen Lebensweise die südliche Peripherie ausbeuteten. Der Autor benennt verschiedene Beispiele, wobei sein Buch sehr stark die landwirtschaftlichen Organisationsformen von commons und MIR hervorhebt. Weitere Vorbilder sind genossenschaftliche Organisationsformen, Berücksichtigung von Lokalität ( Energie, Nahrung), sharing economy, Dezentralisierung, arbeitsintensive Industrie (Pflege, Bildung) .
Im Folgenden werde ich meine kritischen Anmerkungen darlegen und dann auf positive Aspekte des Buches eingehen. Positiv , das sei an dieser Stelle bereits vermerkt, ist die Inspiration sich mit einer Wirtschaft / Gesellschaft ohne Wachstum zu beschäftigen, was generell meiner bisherigen Auffassung entsprach.

• Kritische Anmerkungen
a. Die Hauptthese des Autors, dass Marx seine Ansicht zugunsten eines Degrowth – Kommunismus geändert hat, überzeugt argumentativ nicht. Die Belege dafür scheinen mir sehr eklektizistisch herbeigeholt zu sein. Ein Beispiel: Er zitiert eine Stelle aus der „Kritik des Gothaer Programms“ aus dem Jahr 1875:
In einer höheren Phase der kommunistischen Gesellschaft, nachdem die knechtende Unterordnung der Individuen unter die Teilung der Arbeit, damit auch der Gegensatz geistiger und körperlicher Arbeit verschwunden ist; nachdem die Arbeit nicht nur Mittel zum Leben, sondern selbst das erste Lebensbedürfnis geworden; und alle Springquellen des genossenschaftlichen Reichtums (Hervorhebung von Saito) voller fließen- erst dann kann der enge bürgerliche Rechtshorizont ganz überschritten werden und die Gesellschaft auf ihre Fahne schreiben: Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen.
Saito hebt den genossenschaftlichen Aspekt hervor, verknüpft mit anderen Hinweisen von Marx auf das Vorbild der commons. Er übersieht völlig die Passage vorher mit dem Wachstum der Produktivkräfte (s.a.: nachdem mit der allseitigen Entwicklung der Individuen auch ihre Produktivkräfte gewachsen…). Saito argumentiert eklektizistisch,zu einer Grundaussage werden Aussagen gesucht, die zu der Grundidee passen. An anderen Stellen fällt dies ebenso auf, ohne hier weitere Passagen zu bemühen.
b. Für mich ergab sich die Frage, warum Saito überhaupt den Rückgriff auf Marx bemüht, um seine Degrowth – Theorie zu beweisen. Ist Marx noch die große Autorität, die dem Klimakampf eine Wende geben kann? Wenn Marx wirklich diese Wendung vollzogen hätte, was meines Erachtens aus der von Saito vorgebrachten Beweislage nicht hervorgeht- dann hätten Engels (der die Bände 2 und 3 des Kapitals verfasste) und eigentlich alle Marxisten Marx nicht verstanden! Saito wendet sich von der Wachstumsideologie der Sowjetunion ab, und fügt eine neue Variante hinzu: der Marxismus ist richtig, wurde jedoch noch nie richtig umgesetzt.
c. Saito erwähnt bis zur Seite 246 nicht die Entwicklung der modernen Technik! Die heutigen Probleme der Arbeitswelt – auch die des Klimawandels und der Ausbeutung der Ressourcen-betreffen in zunehmendem Maße die Digitalisierung. Saito argumentiert noch mental aus der Marxschen Sicht des vorigen Jahrhunderts, doch sind nicht Argrar-Genossenschaften, die Allmende und die Arbeitsteilung der Frühindustrialisierung die aktuellen Themen! Wir können von früheren Organisationsformen lernen – siehe positive Anmerkungen unten- doch beschäftigen uns aktuell andere Probleme. Unerwähnt bleibt der Bevölkerungsanstieg, einhergehend mit Bedürfnissen, die oftmals an westliche Lebensweisen angelehnt sind. Dieser Ressourcenverbrauch bleibt völlig unerwähnt!
d. Schon zu (Studenten-)Zeiten, als ich intensiv mich mit Marx beschäftigte, fiel mir seine Haltung zur Arbeitsteilung kritisch auf. Saito übernimmt diese Einstellung undifferenziert. Arbeitsteilung, so wie in alten Chaplin-Filmen gezeigt, gibt es noch in asiatischen Fabriken, und zurecht kritisiert Saito die imperiale Lebensweise mit der Verlagerung in die Peripherie. Aber Arbeitsteilung dient auch der Spezialisierung, der Produktivität, die vielen nützen kann! Ein Arzt, der komplizierte Herzoperationen durchführen kann, ist arbeitsteilig spezialisiert! Die Produktion von Autos bedarf ca 1200 arbeitsteiliger Schritte, nie wird ein Einzelner ein Auto selber produzieren! Arbeitsteilige Arbeit muss menschlicher durchgeführt werden, d’accord, aber die Arbeitsteilung an sich zu verdammen bedeutet einen Rückschritt in mittelalterliche Produktion! Die monotonen Arbeitsschritte werden auch zunehmend maschinell getätigt, weil sie einfach sind und Maschinen zunächst einfache Arbeitsschritte bewältigen. Ich habe vor mehreren Jahren die Opelwerke in Bochum (die gibt es seit 2014 nicht mehr) besichtigt. Die Fließbandarbeit wurde von Maschinen getätigt, der Mensch verrichtete eher komplexe Handgriffe oder Überprüfungsarbeiten. Der Rückgriff auf die Allmende, commons, MIR, die Diskussion um Arbeitsteilung, das sind Problem- oder Lösungsfelder des 19.Jahrhunderts. Wird KI Arbeitsplätze ersetzen, wem gehören die Daten, die Profite bringen, wie wird das Verhalten von Menschen digital manipuliert, wie geht eine Gesellschaft mit der demographischen Entwicklung um usw., solche Fragen stehen heute auf der Tagesordnung! Das Wort Dienstleistungsgesellschaft findet sich auf keiner der 277 Seiten! Der klassische Arbeiter, der den Mehrwert produziert, ist heute wahrscheinlich ein PC-Experte, der dem DDR – Arbeitervorbild Adolf Hennecke wahrscheinlich sehr unähnlich aussieht.
e. Saito kritisiert partielle Maßnahmen gegen den Klimawandel, u.a. Geoingeneering. Richtig ist die Kritik, wenn hinter solchen Maßnahmen ein „Weiterso“ im Wirtschaftswachstum legitimiert wird. Er kann jedoch nicht hinter jeder Maßnahme diese Haltung unterstellen und gleichzeitig darauf hinweisen, dass die Zeit zum Erreichen der Klimaziele knapp werde. Wir werden eine Mixtur von verschiedenen Maßnahmen benötigen, sicherlich in erster Linie Verhaltensänderungen, doch sollte hier ideologiefreier argumentiert werden.
f. Saito entwirft ein Modell einer Gesellschaft, die nach den wahren Bedürfnissen produziert und verteilt. Diese Gesellschaft wirkt bei Saito (wie übrigens auch bei Marx) sehr statisch. Das Thema allgemeines Grundeinkommen, freiwillige Ehrenamtstätigkeit, soziales Jahr wird nicht erwähnt oder indirekt peripher.

Positive Anmerkungen
a. Generell richtig finde ich den Ansatz und auch die Argumentation, dass Wirtschaftswachstum beendet werden muss. Sehr gut gefallen die Ausführungen über sinnlose Bullshit-Tätigkeiten! Eine Überprüfung der Tätigkeiten über sinnvolle gesellschaftliche Relevanz ist überfällig, und dazu bietet das Buch inspirierende Anregungen.
b. Saito beschäftigt sich konkret mit Maßnahmen des Übergangs und benennt auch bereits angegangene Umsetzungen wie in Barcelona. Diese konkreten Beispiele sind sinnvoll und praktikabel, vor allem die Aspekte Regionalisierung und Dezentralisierung. Sie wirken in den Bereichen Landwirtschaft und Energie den global agierenden Lobbyisten entgegen, und diese Vorschläge sind umsetzbar und machbar! Sharing economy wird ein Teilbereich bleiben, wenngleich ein wachsender. Die genossenschaftliche Organisationsform wird stets gepriesen, auch von mir bevorzugt, doch darf man mögliche Problemfelder nicht unter den Tisch kehren. Das wären Bezahlung/ Leistungsprinzip, technische Herausforderungen und Veränderungen, internationale Konkurrenz, Lieferketten, Qualifikation, Verteilung usw.
c. Gut gefällt die Abhandlung über die Ausbeutung der Peripherie, was ja auch beim Klimawandel zu beobachten ist. Die reichen Länder verschmutzen zu Lasten der armen Staaten. Hier setzt sich der von Marx beschriebene Ausbeutungsmechanismus fort. Irgendwann werden die Folgen des Klimawandels auch die Verursachernationen voll treffen, wie es z.T. ja schon in den USA und in Australien geschieht.
d. Insgesamt regt Saito viele Nachdenklichkeiten an. Er verbindet den Klimakampf richtig mit der Neuausrichtung von Demokratie. Die Assoziation Marxismus mit Demokratie stimmt mich persönlich skeptisch, doch weisen die von Saito angeführten Beispiele in die richtige Richtung ( Bürgerversammlungen, buen vivir – Bewegung, Fearless Cities…)

• Fragestellungen  und Anregungen zur Diskussion

1) Wie bewertest Du als Leserin das Buch?
2) Welches Menschenbild ist für Degrowth-Kommunismus erforderlich?
3) Ist der Übergang in eine Degrowth-Ökonomie in einer globalisierten Welt möglich? Bedarf es einer Revolution oder eines schleichenden Übergangs?

4) Welche Bedeutung kommt zukünftig der technologischen Entwicklung zu? Wie verändert Technik den Klimakampf, die Gesellschaft, das Arbeitsleben?

Commons, Degroth, Degroth-Kommunismus, Kapitalsimuskritik, Marxismus und Degrowth