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Buchbesprechung – Neil Shubin, Die Geschichte des Lebens: Vier Milliarden Jahre Evolution, Frankfurt am Main, 2021

Der Autor leitet als Paläontologe das Institut für organische Biologie und Anatomie an der University of Chicago. Seit 2011 ist er Mitglied der National Academy of Science.

  Die Verpflichtung resilienten Handelns erfordert neben der Kenntnis der Ursachen von Entwicklungsschüben auch eine Beschäftigung mit zukünftigen Entwicklungsmöglichkeiten. Ökonomisch Interessierte, die sich mit Schumpeter beschäftigt haben, kennen seinen Verweis auf Kondratieff’s Entwicklungsperioden. Die momentane Covid 19 – Pandemie konfrontierte – ob gewollt oder nicht – jede Bürgerin und jeden Bürger über die Nachrichtenkanäle mit wissenschaftlichen Analysen aus den Bereichen Biologie, Chemie und Medizin. Allein die Akzeptanz oder Ablehnung des neuartigen Impfstoffes bedurfte zumindest vage Kenntnisse über neuartige Impfprozesse. Der neue auf mRNA basierende Impfstoff vermittelte zudem ein Gefühl eines Quantensprungs in der medizinischen Entwicklung.

   Neugierde auf kommende Entwicklungen, aber auch die Unwissenheit elementarer biologischer Grundlagenkenntnisse verführten mich zur Anschaffung der Lektüre von Neil Shubin. Der Autor versteht es, durch Sprachstil und methodische Vorgehensweise ein Laienpublikum durch manche schwierige Begriffe durchzulavieren und den Fortschrittsweg der Evolution nachvollziehbar zu erklären. In der Regel stellt er zu Beginn eines jeden Kapitels eine Forscherin oder einen Forscher vor, deren Motivation, Fragestellung und Denkweise sowie die Bedeutung der Ergebnisse für den weiteren wissenschaftlichen Erkenntnisprozeß. Fortschritt passiert oft durch Hinterfragung und das Umstoßen zementierter Lehrmeinungen. Dies geschieht freilich in einem gesellschaftlichen Umfeld, das frei sein muss. Die angeführten Beispiele der Forscherinnen Julia Platt und Lynn Margulis geben ein negatives Zeugnis von Diskriminierung von Frauen ab. Die revolutionären Forschungsergebnisse fanden erst in einer Zeit Beachtung, wo Frauen als Wissenschaftlerinnen ernst genommen wurden. So fand Platt in der Wissenschaft keine Anstellung mehr, immerhin wurde sie zur ersten weiblichen Bürgermeisterin von Pacific Grove gewählt.

   Welchen Fragen geht das Buch nach? Die Geschichte der Evolution beginnt mit Einzellern, wie kam es zur Entwicklung zu Mehrzellern? Wie funktioniert die Steuerung von Genen durch genetische Schalter? Worin besteht die kreative Kraft der Evolution? Bestimmen Zufälle den Verlauf der Evolution oder ist dieser determiniert? Nette Anekdoten hinterfragen unser laienhaftes Weltbild wie die Aussage, dass manche Salamander und Frösche 25 –mal mehr genetisches Material besitzen als Menschen. – Der Entwicklungsprozeß des Menschen seit mehr als 3 Millionen Jahren, also seit dem Australopithecus, verdreifachte das Gehirnvolumen. Was passiert eigentlich bei einer Schwangerschaft? Wieso wird die eindringende Eizelle nicht abgestoßen?

   Shukin vermittelt anschaulich den Weg des Erkenntnisprozesses bis zur Gegenwart. Nur angedeutet verweist er auf die kommenden Möglichkeiten von CRISP / CAS 9, der Genschere, die möglicher Weise eine neue Kondratieff- Welle im medizinisch-biologischen Bereich einleitet.

   Die Kenntnis und das Gespür für zukünftige Entwicklungstrends sind wichtig für den ethischen Umgang mit Fortschritt. Die genetische Manipulation hat bereits begonnen, nur wissen es viele Menschen noch nicht! Dies gibt diesem Buch einen hohen Stellenwert. Beenden wir die Besprechung mit einem Zitat:

„ …die Geschichte des Lebens ist keine Aneinanderreihung zufälliger Ereignisse. Die Würfel sind gezinkt; das liegt einerseits daran, wie Gene und Embryonalentwicklung für den Aufbau eines Körpers sorgen, andererseits aber auch an den physikalischen Beschränkungen aus Umwelt und Vergangenheit.“ [1] Bescheiden füge ich neben Umwelt und Vergangenheit noch gesellschaftliche Akzeptanz hinzu.

 

D.Baer

[1] ebenda S.265